“DIE WELT ALS POLYPHONIE REFERENZ UND INDEXIKALITÄT IN DER MUSIK UND IN DEN SOZIALWISSENSCHAFTEN” (Deutsch-französische Hochschule – Winterschule)

Deutsch-französische Hochschule (DFH) / Université franco-allemande (UFA)

Université d’automne / Winterschule / Berlin, Humboldt Forum & Centre Marc Bloch

Diese deutsch-französische Universität untersucht, wie die aus der Musik stammende Polyphonie und die aus der Sprachphilosophie und pragmatischen Linguistik stammende Indexikalität Beziehungen unterhalten, die es ermöglichen, Situationen der Multikulturalität zu denken. Sie steht Master-, Doktoranden und Postdoktoranden aller Geistes- und Sozialwissenschaften offen.

1. Polyphonie: von der Musik zur Sprache

Polyphonie bezeichnet in ihrer ursprünglichen musikalischen Bedeutung zunächst die gleichzeitige Kombination mehrerer Stimmen oder unabhängiger, aber harmonisch verbundener Melodielinien. Die musikalische Polyphonie, die im Westen bereits im Mittelalter mit dem Organum und sich dann in der Renaissance und im Barock weiterentwickelte, basiert auf einem Grundprinzip: der relativen Autonomie jeder Stimme innerhalb eines kohärenten Ensembles. Im Gegensatz zur Monodie oder Homophonie führt die Polyphonie einen Dialog, eine Unterhaltung zwischen verschiedenen melodischen Linien herbei. Jede Stimme hat ihre eigene rhythmische und melodische Identität, unterliegt aber gleichzeitig den Regeln, die den Aufbau einer globalen Klangarchitektur bestimmen.

Genau diese musikalische Metapher hat Michail Bachtin verwendet, um bestimmte Aspekte des Romans von Dostojewski zu beschreiben, bevor der Begriff von Oswald Ducrot in seiner Theorie der Äußerung in den Sprachwissenschaften aufgegriffen und systematisiert wurde. Aus dieser Perspektive kann eine einzige Äußerung mehrere unterschiedliche Stimmen hörbar machen. Der Sprecher wird dann vergleichbar mit dem Komponisten, der verschiedene melodische Linien, verschiedene Äußerungsstimmen innerhalb ein und desselben Diskurses organisiert. Diese Übertragung der Musik auf Literaturwissenschaft und Linguistik ist nicht trivial: Sie legt nahe, dass der Reichtum der Bedeutungskonstruktion aus der Spannung zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen globaler Kohärenz und Autonomie der Teile entsteht. Das musikalische Modell ermöglicht es somit, den scheinbaren Widerspruch zwischen der formalen Einheitlichkeit der Aussage und der Pluralität der darin zum Ausdruck gebrachten Standpunkte zu überwinden. Daher wird es auch in den Sozialwissenschaften verwendet (siehe weiter unten).

Letztlich verweisen klangliche Ordnungssysteme auch auf die Relationalität menschlicher Beziehungen oder sogar soziale Strukturen. Musikethnologen wie Steven Feld und Antony Seeger haben in Fallstudien darauf aufmerksam gemacht, dass Klangverhältnisse oft wie ein Spiegelbild sozialer Verhältnisse konstruiert werden, somit funktioniert „sound structure as social structure“.

2. Indexikalität als kontextuelle Verankerung von Bedeutung

Indexikalität bezeichnet die Eigenschaft bestimmter sprachlicher Ausdrücke, deren Interpretation vom Kontext der Äußerung abhängt. Personale (ich, du), räumliche (hier, dort), zeitliche (jetzt, gestern) Deiktika, aber auch viele andere Ausdrücke, erhalten ihren vollen Sinn nur in Bezug auf eine bestimmte Äußerungssituation. Über diese expliziten Marker hinaus kann die Indexikalität als grundlegendes Merkmal der Sprache im Allgemeinen betrachtet werden. Wie Philosophen wie Charles Sanders Peirce oder Ethnomethodologen wie Harold Garfinkel betont haben, ist die Bedeutung von Äußerungen immer relativ zu einem Kontext, sozialen Praktiken und kulturellen Voraussetzungen.

3. Überschneidungen

Wenn in einem Diskurs mehrere Stimmen zu hören sind, kann jede von ihnen ihr eigenes indexikalisches Verweissystem aufbauen. Im wiedergegebenen Diskurs können die indexikalischen Marker beispielsweise entweder auf den ursprünglichen Äußerungskontext oder auf den Kontext des Zitats verweisen. Diese Vielfalt an Bezugsrahmen schafft eine komplexe semantische Architektur, vergleichbar mit der einer Fuge, in der jeder Eingang des Themas vorübergehend seinen eigenen tonalen Mittelpunkt bildet. Genau wie in einer polyphonen musikalischen Komposition, in der der Zuhörer mehrere Melodielinien gleichzeitig verfolgen muss, muss der Empfänger eines polyphonen Diskurses verschiedene indexikalische Systeme identifizieren und ihre Beziehungen erfassen, um eine kohärente Interpretation zu konstruieren. Dies betrifft unmittelbar die Bildung des allgemeinen Sinns.

3 Diese transdisziplinäre Perspektive eröffnet fruchtbare Wege, um die Grenzen zwischen Linguistik, Musikwissenschaft, Philosophie, Kognitionswissenschaften und Sozialwissenschaften zu überdenken. Sie lädt zu einem integrativen Ansatz ein, der die grundlegend relationale und kontextuelle Dimension jeder menschlichen symbolischen Produktion anerkennt. Letztendlich erinnert uns der Dialog zwischen musikalischer Polyphonie, diskursiver Polyphonie und Indexikalität daran, dass die Produktion des gemeinsamen Sinns niemals eine feste und eindeutige Gegebenheit ist, sondern immer das Ergebnis einer komplexen Verhandlung zwischen verschiedenen Stimmen, verschiedenen Kontexten und verschiedenen Subjektivitäten.

4. Sozial- und Politikwissenschaften

So könnten die zentralen Fragen dieser deutsch-französischen Begegnungen junger Forscher wie folgt lauten: Können die polyphonen Modelle aus der Kompositionstechnik die Erfindung innovativer sozialer Praktiken ermöglichen? Inwieweit spiegeln Klangstrukturen soziale Realitäten und Spannungen wieder?

Um diese Fragen besser zu verstehen, muss man den Erfolg des Wortes „Polyphonie“ im sozialen Leben und die Vielzahl der Bedeutungen, die es umfasst, ernst nehmen. Im Vokabular der Sozialwissenschaften steht das Wort Polyphonie in einem wechselseitigen Gleichgewichtsspiel mit den Wörtern multiethnisch, Multikulturalismus, Vielfalt… Es bezeichnet erfinderische Vielfältigkeiten. Dies ist auch der erste Satz, dem man beim Besuch der neuen Website des Humboldt Forums in Berlin begegnet: „Das Humboldt Forum in der historischen Mitte Berlins ist ein neuer Ort für Kultur und Wissenschaft, ein Ort der Diversität und Vielstimmigkeit.“ Hier werden Vielfalt und Vielstimmigkeit als lexikalische Äquivalente betrachtet. Aber diese Aneignung des aus der Musik übernommenen Begriffs Polyphonie durch metaphorische Formen, die dazu dienen, das soziale Leben aus der Perspektive des Multikulturalismus zu charakterisieren, ist nicht einfach. Es ist zweifellos möglich, eine multimodale Gesellschaft zu entwerfen, vorausgesetzt, dass die Institutionen, die sie stützen, selbst emanzipatorisch, d. h. pluralistisch, partizipativ und demokratisch sind. In dieser Hinsicht wird der Begriff der Polyphonie zu einer wichtigen Herausforderung für das Zusammenleben in den heutigen Gesellschaften, in einem Kontext, in dem internationale Spannungen Zweifel an der Möglichkeit aufkommen lassen, einen gemeinsamen Sinn zu erzeugen. Befruchtend für die Herstellung von Polyphonie im Sinne eines respektvollen Miteinanders ist zudem der vom Soziologen Hartmut Rosa geprägte Begriff der Resonanz, der eine Beziehungsqualität menschlicher Beziehungen beschreibt. Eine ebenso bezeichnete Resonanztheorie ist auch im Bereich der Akustik, durch die von H. v. Helmholtz vertretene Theorie des Hörens zu finden. Klang und Widerklang, sozialer Impuls und gesellschaftliche Resonanz fungieren wie die musikalische und die metaphorische Vorstellung von Polyphonie als komplementär.

In seinem Werk über „Resonanz“ hat der deutsche Soziologe Hartmut Rosa das Konzept der Polyphonie zum zentralen Thema einer umfassenderen Reflexion über die Bedingungen eines „guten Lebens“ und einer authentischen Demokratie gemacht, in der jede einzelne Stimme widerhallen kann, ohne in einer falschen Einheit unterzugehen, und gleichzeitig Teil einer kollektiven Harmonie ist, die es noch zu schaffen gilt. Der Weg zwischen Harmonie und Sättigung, zwischen Polyphonie, Polymusik und Kakophonie kann sich als schmal erweisen. Damit es Polyphonie, also „Zusammenleben“, gibt, braucht es ein Leitprinzip, ein Kompositionsprinzip. Und hier trifft zweifellos die musikalische und ethnomusikologische Analyse auf die politische Theorie der sozialen Bildung. Wie können diese musikalischen Theorien, wenn sie von den Sprach- oder Politikwissenschaften übernommen werden, dazu dienen, tugendhafte Prinzipien der sozialen Zusammensetzung zu formulieren, die dazu dienen, an die Kraft der Kultur und ihrer verschiedenen Formen zu erinnern, um eine Gemeinschaft von Zielen und nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft aufzubauen? Die Beantwortung dieser Frage durch die Mobilisierung von Fachwissen aus verschiedenen Wissensbereichen – Musikwissenschaft, Ethnomusikologie, Philosophie, Sprachwissenschaften, Soziologie, Anthropologie, Erkenntnistheorie, Politikwissenschaft – wird das Ziel dieser deutsch-französischen Begegnungen sein.

 

Call for Papers

Typ: Veranstaltung

“DIE WELT ALS POLYPHONIE REFERENZ UND INDEXIKALITÄT IN DER MUSIK UND IN DEN SOZIALWISSENSCHAFTEN” (Deutsch-französische Hochschule – Winterschule)

Veranstalter*innen:
CNRS - EHESS, Centre Marc Bloch, Hochschule für Theater und Medien Hannover & Center for World Music in Kooperation mit der Universität Hildesheim, Gustav Mahler Privatuniversität für Musik Klagenfurt

Deadline:
07.11.2025

Berlin, Humboldt Forum und Centre Marc Bloch

01.12.2025

bis 06.12.2025