In der Musikgeschichtsschreibung und -kritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kristallisierte sich die Frage der nationalen Identität zu einem zentralen Anliegen – sowohl in normativer als auch in projektiver Hinsicht. Normativ trugen diese Diskurse über die Musikgeschichte und das Musikleben (einschließlich der Musikkritik in Bezug auf Komposition, Aufführung, Repertoire, Musikverlagswesen und Musikpädagogik) aktiv zur Bildung nationaler Identität bei, wobei ihre Autoren – Musikhistoriker, Kritiker, Ästhetiker und andere – oft eine Schlüsselrolle in breiteren Bemühungen um den Aufbau kultureller Nationen spielten. Darüber hinaus wurde in einigen Fällen die Idee der nationalen Identität parallel zur supranationalen Identität gebildet oder neu definiert, entsprechend den politischen und kulturellen Kontexten in verschiedenen Bereichen.
Die Musikkritik – als eine der bestimmenden Gattungen der entstehenden bürgerlichen Musiköffentlichkeit – und die musikhistorischen Schriften dieser Zeit, insbesondere die ersten großen Synthesen, die während und um die Ära des Cultural Nation-Building entstanden (in Ungarn vor allem um die Zeit der Millenniumsfeierlichkeiten um die Jahrhundertwende), artikulierten nationale Kanons und konstruierten dauerhafte nationale Narrative. Darüber hinaus wurde die Musikwissenschaft als akademische Disziplin nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert und basierte in einigen Fällen auf den multiplen Identitäten (sozialistisches Jugoslawien).
Die Prozesse der Modernisierung und bürgerlichen Transformation waren häufig eingebettet in Narrative supranationaler und nationaler Selbstdefinition. Diese frühgeschichtlichen Synthesen, oft von Zeitgenossen verfasst, wurden von der späteren Forschung lange Zeit mit unzureichender kritischer Distanz rezensiert – zumal die Musikgeschichtsschreibung erst in den letzten Jahrzehnten begonnen hat, sich über den Rahmen des kulturellen nationalen Narrativs zu bewegen oder ihn sogar in Frage zu stellen. Diese Beobachtung gilt nicht nur für Ungarn, sondern wohl auch für andere Länder in der Region und darüber hinaus.
Eine diskursanalytische Untersuchung der Musikgeschichtsschreibung und -kritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kann – insbesondere in Verbindung mit dem Musikleben und den Institutionen dieser Zeit – tief verwurzelte diskursive Strukturen, rhetorische Topoi, wiederkehrende Muster und unhinterfragte Metaphern beleuchten, die eine erneute Reflexion und Kritik verdienen.
Durch die kritische Auseinandersetzung mit dem oft noch tief verwurzelten nationalen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird deutlich, dass nationale Identität – und mit ihr nationale Musik – immer eine Mischung aus interkulturellem Austausch über Grenzen hinweg oder innerhalb eines einzigen Raums (einer Region) als Mischung verschiedener Stimmen ist.
Indem wir die Autor*innen und Schriften der national fokussierten Musikgeschichtsschreibung und -kritik einer kritischen Analyse unterziehen und die Polemiken, die sich in ihnen entfalteten, untersuchen, können wir nicht nur die Strategien und Prozesse des Cultural Nation-Building aufdecken, sondern auch die Akteur*innen (Minderheiten, Frauen, niedere Meister etc.), Orte, Netzwerke und unterschiedliche kulturelle Erinnerungen identifizieren, die ausgelassen und ausgeschlossen wurden. oder nicht in das nationale Narrativ integriert sind.
Zugleich offenbart diese Perspektive nicht nur die Vielschichtigkeit der Quellen und Hintergründe nationaler Identität und nationaler Musik, sondern auch die Beständigkeit und Komplexität musikalischer Transferprozesse – und zeigt damit die Präsenz eines fließenden geographischen Transfers. Diese tritt vor allem in Grenz- und Kontaktzonen auf, war aber im Wesentlichen auf dem gesamten Territorium von Vielvölkerstaaten wie Ungarn / Habsburgermonarchie oder dem späteren Jugoslawien im 19. und frühen 20. Jahrhundert in unterschiedlichen kulturellen, ethnischen und religiösen Zusammensetzungen präsent. All diese Aspekte spiegeln nicht nur das Nebeneinander und die Interaktion dieser verschiedenen Identitäten wider, sondern auch die – zum Teil bis ins späte 19. Jahrhundert und darüber hinaus – vorhandene Präsenz multipler Identitäten: die gleichzeitige Erfahrung kulturell-sprachlicher nationaler Identität und politischer nationaler Identität (das hungarus-Bewusstsein), ergänzt durch regionale, kulturelle, religiöse und andere Identitäten oder supranationale südslawische Identitäten.
Die Musikgeschichtsschreibung hat erst in jüngster Zeit begonnen, sich mit dieser Komplexität auseinanderzusetzen (siehe z.B. Studien zu Grenzregionen). In diesem Zusammenhang kann die kritische Auseinandersetzung mit dem musikalischen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die Identifizierung früherer Muster die Selbstreflexion der gegenwärtigen Musikgeschichtsschreibung fördern und den Weg zu einer gemeinsamen Geschichtsschreibung ebnen.
Diese Konferenz wird anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Ungarischen Akademie der Wissenschaften organisiert.
Wir laden zu Beiträgen ein, die sich mit den folgenden Themen befassen (aber nicht darauf beschränkt sind):
- Diskursanalytische Studien zur Konstruktion supranationaler und nationaler Identität in der Musikgeschichtsschreibung und -kritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (z.B. Diskursanalyse, Intertextualität, hybride Identität);
- Studien zur Entstehung, Konsolidierung und Neudefinition nationaler Musikkanonen, ihrer Mechanismen und historiographischen Strategien in Bezug auf den aktuellen Kenntnisstand über das Musikleben und die Komposition dieser Zeit (z.B. Kanonforschung, narrative Analyse);
- Untersuchungen der Schlüsselfiguren, die an der Kanonbildung und -dekonstruktion und dem Aufbau von Nationen beteiligt sind (z. B. Kritiker, Historiker, Herausgeber);
- Erforschung der Rolle wichtiger Institutionen und Plattformen – wie Zeitschriften, Musikgesellschaften, Akademien, Museen, Bibliotheken, Verlage und andere kulturelle Institutionen – bei der Gestaltung, Dekonstruktion und Rekonstruktion nationaler Kanons und Narrative in der Musikgeschichte;
- Reflexionen über die Auseinandersetzung der Geschichtsschreibung mit supranationalen und nationalen Narrativen, sowohl in ihrer unkritischen Übernahme als auch in ihren neueren Kritiken und Revisionen.
Unterlagen
Abstracts von maximal 200 Wörtern in englischer Sprache mit einer kurzen Biografie sollten bis zum 1. Oktober an die E-Mail-Adressen der Organisatoren, kim.katalin@abtk.hu und/oder tatjana.markovic@oeaw.ac.at gesendet werden.
Austragungsort
Institut für Musikwissenschaft des Forschungszentrums für Geisteswissenschaften HUN-REN
Programmausschuss
Tatjana Marković, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Katalin Kim, Institut für Musikwissenschaft des Forschungszentrums für Geisteswissenschaften HUN-REN
Pál Richter, Institut für Musikwissenschaft des Forschungszentrums für Geisteswissenschaften HUN-REN
Alexandros Charkiolakis, Verein der Freunde der Musik, Athen
Zdravko Blažeković, Geschäftsführer von RILM, Graduiertenzentrum der City University, New York
Leon Stefanija, Universität Ljubljana
Rūta Stanevičiūtė, Litauische Akademie für Musik und Theater, Vilnius
Rima Povilioniené, Litauische Akademie für Musik und Theater, Vilnius
Lenka Krupkova, Palacký Universität Olomouc
