Die Gattung des Librettos bleibt schwer zu fassen; sie changiert zwischen Gebrauchsliteratur und Kunst, die auch für sich lesbar sein kann, zwischen literarischer Eigenständigkeit und Zweckdichtung, die nur zusammen mit der musikalischen Gestaltung adäquat zu untersuchen ist. Ihre Plurimedialität, ihre anschmiegsame oder auch antagonistische Dramaturgie, die exquisite Differenz zur Gattung Drama, das „Primat des Wahrnehmbaren“ (Gier) machen Libretti zu einem aufregenden, bisher wenig beachteten Forschungsfeld. Libretti werfen eine Fülle medientheoretischer und ästhetischer Probleme auf, mit der sich die noch recht junge Disziplin der Librettologie befasst; mit Albert Giers Entwurf einer Theorie und Geschichte der Gattung (1998) haben diese Probleme ein größeres Interesse gefunden.
In den fünfziger Jahren, dem verhandelten Zeitraum des Jahrbuchs, treten einige Gespanne aus den Vorkriegsjahren auf, die weiterschreiben oder zu verspäteten Uraufführungen gelangen, wie Paul Dessaus Verurteilung des Lukullus (Libretto: Bertolt Brecht), Paul Hindemiths Neufassungen von Cardillac (Ferdinand Lion) und Neues vom Tage (Marcellus Schiffer), oder Arnold Schönbergs Moses und Aron. In der fruchtbaren Spannung zwischen Text und Musik konstituiert sich die Opernlandschaft neu. Nicht wenige Komponisten richten ihre Textbücher selbst ein; nach Schönberg sind u.a. Carl Orff zu nennen (Astutuli, Oedipus der Tyrann nach Sophokles/Hölderlin), Hanns Eisler (Johann Faustus), Gottfried von Einem (Dantons Tod nach Büchner), Hans Werner Henze (Der Landarzt nach Kafka) und Bernd Alois Zimmermann (Die fromme Helene nach Busch, Die Soldaten nach Lenz). Einer der gesuchtesten Librettisten der Zeit – mit Textbüchern für Boris Blacher, Gottfried von Einem, Henze – war Heinz von Cramer. Einen weiteren Themenschwerpunkt können Übersetzungen ins Deutsche bieten (Wolfgang Fortners Bluthochzeit nach Lorca, Übers. Enrique Beck; Luigi Nonos Intolleranza 1960, Übers. Alfred Andersch).
Studien über die Libretti für Operetten sind ebenso erwünscht wie Fragestellungen zur Rezeption bei Kritik und Publikum. Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen Komponisten und Librettisten? Prominenz ist im Spiel bei der Zusammenarbeit Hans Werner Henzes mit Ingeborg Bachmann, Wolfgang Hildesheimer, Ernst Schnabel und Grete Weil. Zu entdecken wären aber auch Archivfunde aller Art, manches Unbekannte, Gescheiterte, Prekäre.
Im treibhaus sind Beiträge über kanonische wie nichtkanonische Autorinnen und Autoren erwünscht, auch nicht komponierte Archivfunde werden ausdrücklich begrüßt. – Erbeten werden Texte im Umfang von maximal 20 Seiten à 2800 Zeichen; Abgabe der Exposés bis Ende Juli 2025, Abgabe des Beitrags: 31.12.2025.
Zuschriften richten Sie bitte an die Herausgeber Ulrike Leuschner und Sven Hanuschek, c/o Prof. Dr. Sven Hanuschek / Ludwig-Maximilians-Universität / Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache / Schellingstr. 3 / 80799 München, oder an sven.hanuschek@lmu.de.