„200 Jahre Tradition der Musiklehrerausbildung in Württemberg“

Schwäbisch Gmünd, 18.-20.11.2011

Von Ralf Wittenstein, Würzburg – 24.01.2012 | Vor genau 200 Jahren wurde 1811 in Esslingen am Neckar das erste protestantische Lehrerseminar im Königreich Württemberg errichtet. Im Jahre 1825 folgte, als ostwürttembergisches Pendant, die Gründung des katholischen Lehrerseminars in Schwäbisch Gmünd. Damit wurde ein Grundstein für die Ausbildung von Lehrern gelegt: Das gegenwärtige Profil der Pädagogischen Hochschulen des Landes Baden-Württemberg steht in direkter Tradition dieser Schullehrerseminare.

Anlässlich dieser zweihundertjährigen Tradition der Musiklehrerausbildung in Württemberg fand in Schwäbisch Gmünd in Kooperation zwischen der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg e.V. (GMG) und der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd vom 18. bis zum 20. November 2011 eine wissenschaftliche Tagung statt. Umrahmt wurde diese Tagung durch zwei Konzertabende mit überwiegend vergessenen Kompositionen von ehemaligen Seminarmusiklehrern und Seminaristen aus Esslingen und Schwäbisch Gmünd, welche ein Zeugnis gaben über das hohe Niveau der Musikausbildung an den württembergischen Lehrerseminaren. Im historischen Rahmen des ehemaligen Schwäbisch Gmünder Seminar-Festsaales interpretierten Lehrer und Studierende der PH Schwäbisch Gmünd (Nadja Grau, Horn, Walter Töws, Violine, und Claudius Beitze, Orgel) Kompositionen von Johann Gustav Eduard Stehle (1839-1915) und Eduard Adolf Tod (1839-1872), die beide zu den Seminaristen des Königlich Katholischen Schullehrer-Seminars Schwäbisch Gmünd gehörten. Unter der Leitung des Dirigenten und Pianisten Robert Bärwald (Stuttgart) präsentierte das Rossini Ensemble Stuttgart mit der Sopransolistin Sylvia Koncza, dem Bariton Marc Schwämmlein und dem Organisten Claudius Beitze wiederentdeckte Kompositionen aus den Gmünder und Esslinger Lehrerseminaren. Auf dem Programm standen Werke von Theodor Wekenmann (1880-1932), Johann Georg Mayer (1824-1904), Franz Bühler (1760-1823), Christian Fink (1831-1911) und Georg Zoller (1852-1941).
Grußworte von Astrid Beckmann (Rektorin der PH Schwäbisch Gmünd), Joachim Bläse (erster Bürgermeister), Regierungsdirektor Johannes Grebe (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg) eröffneten am 18.11.2011 die dreitägige Tagung „200 Jahre Tradition der Musiklehrerausbildung in Württemberg“.
Die Leiter und Organisatoren der Tagung Joachim Kremer (Stuttgart; Präsident der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg e.V.) und Hermann Ullrich (Schwäbisch Gmünd) informierten die Teilnehmer der Tagung über den gegenwärtigen Forschungsstand hinsichtlich der Musiklehre und -praxis an den württembergischen Lehrerseminaren.
Am zweiten Tag referierte Ursula Pfeiffer (Weingarten) über die Geschichte der staatlichen Lehrerbildung im Königreich Württemberg, die in der Gründung des protestantischen Lehrerseminars in Esslingen im Jahre 1811 ihren Anfang fand. Am Beispiel des Seminarleiters Bernhard Gottlieb Denzel (1773–1838), welcher u.a. die „Sonderung der Direktion des Schulwesens von der Inspektion der Kirche“ verlangte, veranschaulichte Pfeiffer die Auswirkungen des politischen Wandels im 19. Jahrhundert auf die Theorie und Praxis der Lehrerbildung.
Hermann Ullrich berichtete über die musikalische Produktivität Schwäbisch Gmünder Seminaristen und ihrer Lehrer. Er erinnerte daran, dass die Einführung von Schullehrerseminaren u.a. auch darin begründet war, mit einer verbesserten Ausbildung der Schullehrer in den Musikfächern die Qualität der geistlichen und weltlichen Musik insbesondere auch auf dem Land zu verbessern. Am Beispiel der Seminar-Musiklehrer Benedict Braun (1796–1874) und Johann Georg Mayer (1824–1904) demonstrierte Ullrich Lehre und Werk der Musiklehrer am Schwäbisch Gmünder Lehrerseminar.
Rainer Bayreuther (Freiburg i. Br.) untersuchte am Beispiel der Gesangbildungslehren bzw. Schul-Liedersammlungen von J. Chr. Weeber (fünf Bände) und Gottlob Friedrich Kübler die Wechselwirkungen von Politik und Musiklehre am Lehrerseminar Esslingen. Anhand der Themen und Texte der im Lehrerseminar Esslingen verwendeten Lehr- und Liederbücher verwies er auf die politische Dimension der Schulmusik in Württemberg.
Daniel Brenner (Stuttgart) lieferte einen Beitrag zum Berufsbild des Volksschullehrerstandes im 19. Jahrhundert, indem er die gesellschaftliche Stellung des musizierenden Schullehrers mit der Heroendarstellung (am Beispiel von L. v. Beethoven) verglich. Sein Fazit: Heldenverehrung und soziale Stellung der Schullehrer bilden im 19. Jahrhundert ein Gegenpaar.
Gabriele Hofmann (Schwäbisch Gmünd) präsentierte einen Überblick über den Forschungsstand bezüglich der Genderaspekte in der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen in Geschichte und Gegenwart. Dem fast ausschließlich Männern vorbehaltenen Lehrerberuf im 19. Jahrhundert (weder das Lehrerbildungsgesetz von 1808 noch das von 1836 kennt die Frau im Lehrdienst der Volksschule) steht heute ein überproportional hoher Anteil von Frauen im Lehrerstand gegenüber.
Friedhelm Brusniak (Würzburg) verwies auf die Schnittstelle von Schullehrerseminar und Laienchorwesen, die sich im 19. Jahrhundert in Esslingen in der Person des Seminar-Konrektors und Kantors Karl Pfaff (1795–1866) zeigte. Als „deutscher Sängervater“ trieb Karl Pfaff, durch hohe vaterländische Ideale leidenschaftlich motiviert, das Chorwesen zur Blüte. Als Visionär wurde Pfaff zu einem führenden Protagonisten der Chorbewegung in Württemberg.
Ulrich Prinz (Esslingen) lieferte einen Beitrag zur Esslinger Musikkultur im 19. Jahrhundert, indem er die Verflechtung von Ämtern und Tätigkeitsfeldern am Beispiel der Esslinger Seminarmusiklehrer Johann Georg Frech (1790–1864) und Christian Fink (1831–1911) darlegte. Prinz verdeutlichte anhand einer Synopse die Vernetzung von Lehrtätigkeit und musikalischem Kirchendienst am Lehrerseminar Esslingen ab 1811 bis hin zur Auflösung der Hochschule im Jahr 1984. Darin ist zu erkennen, dass alle Seminarmusiklehrer gleichzeitig (nebenamtlich) auch im musikalischen Kirchendienst (z.B. als Organist an einer der Stadtkirchen) sowie als Leiter der örtlichen Singvereine und Liederkränze tätig waren.
Sabine Holtz (Tübingen) gewährte einen Einblick in die württembergische Bildungslandschaft des 19. Jahrhunderts, welche vor die schwierige Aufgabe gestellt war, die neu hinzugekommenen Gebiete in das Königreich Württemberg zu integrieren. Holtz untersuchte die ersten verbindlichen Schulbücher für die Volksschule im Königreich Württemberg hinsichtlich der Fragestellung, wie in den Lehrwerken des 19. Jahrhunderts bildungspolitische Reformen und restaurative Maßnahmen des Staates in den Themen der Lesebücher der Elementarschulen zum Ausdruck kamen.
Joachim Kremer referierte über seine Forschungen bezüglich der Unterrichtsmaterialien und Musikinstrumente an den württembergischen Lehrerseminaren. Anhand von Unterrichtswerken von Musikseminarlehrern stellte Kremer die bildungspolitischen Tendenzen innerhalb des Königreiches Württemberg im 19. Jahrhundert dar, welche spätestens ab 1836 eine starke Tendenz zur Restauration in Württemberg erkennen lassen. Darüber hinaus wurde die gesellschaftliche Funktion bzw. Auswirkung des Musikunterrichts an den Lehrerseminaren herausgestellt, was sich in den Programmen der in der Öffentlichkeit sehr beliebten Seminar-Konzerte zeigte.
Ralf Wittenstein (Würzburg) gab schließlich einen Einblick in die Situation der Musiklehrerausbildung in Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel des Stundenplans des protestantischen Schullehrerseminars in Altdorf verdeutlichte er die Bedeutung der Musikfächer in der Bildung der Schullehrer: Knapp die Hälfte der Unterrichtszeit (über 30 Wochenstunden) waren am ersten protestantischen Lehrerseminar in Bayern für die Musikausbildung bestimmt worden. Die Beherrschung der Musikfächer hatte demnach innerhalb des Ausbildungsplans der Bildung der Schullehrer an den bayerischen Schullehrerseminaren des 19. Jahrhunderts höchste Priorität.