„Rekrutierung musikalischer Eliten. Knabengesang im 15. und 16. Jahrhundert“

Münster, 30.06. & 01.07.2011

Von Michael Werthmann, Münster – 24.01.2012 | Die im Rahmen der Reihe „troja. Kolloquium und Jahrbuch für Renaissancemusik“ jährlich in Münster stattfindende troja-Tagung wurde 2011 von Nicole Schwindt (Trossingen) konzipiert und von Klaus Pietschmann (Mainz) moderiert. Das Symposium widmete sich verschiedenen Aspekten des Knabengesangs der Renaissance mit oftmals interdisziplinären Herangehensweisen. Nach einer Begrüßung durch Jürgen Heidrich (Münster) gab Nicole Schwindt eine kurze Einführung, in der sie die Interdisziplinarität sowie die soziologische und psychologische Ausrichtung der Tagung hervorhob.

Der öffentliche Abendvortrag wurde von Claudia Jarzebowski (Berlin) zum Thema „Kindheit und Geschlecht. Vorstellungen und Praktiken, 1450–1700“ gehalten. Die Historikerin warf einen kulturhistorischen Blick auf das Phänomen von Sängerknaben, Kastraten und Hermaphroditen im besagten Zeitraum unter Aspekten der Geschlechterforschung. So erwähnte sie beispielsweise die Kastraten Marc’Antonio Pasqualini und Anton Hubert alias Porporino. Im Zusammenhang mit dem Hermaphroditismus beleuchtete Jarzebowski den gesellschaftlichen Umgang mit dieser Andersartigkeit und Uneindeutigkeit im genannten Zeitraum und veranschaulichte ihn etwa anhand eines Taufeintrages mit dem Vermerk „hermaphroditum“. Bei ihren Ausführungen zu Sängerknaben, Kastraten und Hermaphroditen verfolgte Jarzebowski zudem auch einen emotionengeschichtlichen Ansatz.
Den zweiten Tag des Symposiums eröffnete Nicole Schwindt, die mit „‚Mulier taceat in ecclesia‘ und die Folgen: Knaben in der Musik der Renaissance“ einen einführenden Vortrag zu den historischen Voraussetzungen des Knabengesangs sowie zur gesellschaftlichen Stellung und den Perspektiven der Sängerknaben hielt. Als zentralen Ausgangspunkt nannte sie das Jahr 578, in welchem es zum formellen Ausschluss des Frauenchors in der Kirche kam, da dieser als lasziv und unkeusch angesehen wurde. Schwindt betonte zudem die Klerikalisierung der Kirche und die daraus folgende Verdrängung des Gemeindegesangs. In Bezug auf den Knabengesang diagnostizierte Schwindt einen Mentalitätswandel, nach dem Knaben in ihrer Eigenheit und mit ihrem Schutzbedürfnis wahrgenommen wurden.
Im Anschluss daran ging Jörg Bölling (Göttingen) mit einem bildungshistorischen Ansatz auf die „Bildungs- und Karrieremuster von pueri cantores“ ein und beleuchtete die Ausbildungswege und ﷓inhalte von Sängerknaben. Dabei standen vor allem drei Aspekte im Mittelpunkt: Als erstes nannte Bölling die Institutionen, wie die Schola cantorum, die Cappella und die Kantorei. In der Schola cantorum hatten die Sängerknaben eine besondere Bedeutung, während die Cappella als Neuinstitution in Konkurrenz dazu trat und eine Ausdifferenzierung der Mehrstimmigkeit nach sich zog. Als zweiten wichtigen Aspekt nannte Bölling dann die unterschiedlichen Ausbildungskonzepte in Mönchschor, Maîtrise und Magisterium. Als drittes erwähnte er die Berufs- und Lebenswege nach dem Knabengesang.
Inga Mai Groote (Zürich) griff diesen Ansatz auf, indem sie mit dem Thema „‚KinderMusic‘ – Musikalische Elementarlehre und ihre Vermittlung an Chorknaben“ auf verschiedene gedruckte Lehrbücher des 16. Jahrhunderts im vorwiegend protestantischen Kontext einging. Allgemein waren die Lehrwerke für jüngere Schüler auf Deutsch, für fortgeschrittene auf lateinisch verfasst, der Musikunterricht war fester Bestandteil des Schulalltags. Als konkrete Beispiele nannte Groote Lehrwerke wie Mattheus Le Maistres „Catechesis numeris musicis inclusa“ von 1559 oder Henning Dedekinds „KinderMusic“ von 1589. Mit dem von Christoph Praetorius verfassten Lehrbuch „Erotemata musices in usum schola Luneburgensis“ von 1574 erwähnte sie ein Lehrbuch, von dem sie ein Exemplar mit Gebrauchsspuren und Eintragungen eines Schülers demonstrieren konnte.
Sodann zeigte Jürgen Heidrich (Münster) mit seinem Vortrag „Das protestantische Repertoire für Knaben im Umfeld der Wittenberger Rhau-Drucke“ ein weiteres Beispiel für praktisches Unterrichtsmaterial für die Ausbildung von Sängerknaben. Im Zentrum standen dabei der Wittenberger Musikalienverleger Georg Rhau sowie sein Wirken im reformatorischen Kontext. Zunächst erwähnte Heidrich, dass das Aufkommen praktischen Unterrichtsmaterials als Erfolg der Reformation Luthers gesehen wurde, der das bisherige Schulsystem stark kritisiert hatte. Bei der reformatorischen Wiederbelebung des Schulwesens spielte Georg Rhau, der ab 1538 mehrere Sammeldrucke mit mehrstimmiger Musik für den Gebrauch in der Schule verlegte, eine große Rolle. So ging Heidrich auf den 1544 erschienenen Druck „Newe Deudsche geistliche Gesenge“ ein, der einen Rekurs auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre darstellt, oder auch auf die Bicinien von 1545, die Rhau mit einem neuen Text versah. Anschließend thematisierte Heidrich die Ausbildung musikalischer Eliten, die mit Hilfe derartiger Sammelschriften in den sächsischen Fürstenschulen vollzogen wurde.
Richard Wistreich (Manchester), selbst ausführender Interpret alter Musik, widmete sich mit „Who sings the cantus part? Boys, women and men as performers of sixteenth century secular music“ eben jener oftmals ungeklärten Frage und erwähnte verschiedene Beispiele für die Besetzung der Cantus-Stimme in unterschiedlichen Quellen. So zeigte er etwa einen Brief, den der Dichter Angelo Poliziano im Jahr 1488 an Pico della Mirandola verfasst hatte, in dem die Besetzung des Soprans durch Frauen oder Knaben offen gelassen wurde. Wistreich hob sodann hervor, dass das Madrigal das erste Genre gewesen sei, in dem Frauen eine zentrale Rolle spielten. Auch auf Bilder ging Wistreich ein. Dabei hob er die zum Teil gegenläufigen Informationen in Texten und Bildern hervor. So gebe es zum Beispiel ikonographische Belege für gemischte Ensembles, die jedoch in Texten nicht nachzuweisen sind.
Eine stimmphysiologische Perspektive bot Ann-Christine Mecke (Leipzig) mit dem Thema „Eigenschaften von Knabenstimmen damals und heute“. Demnach widmete sie sich nicht nur den Eigenschaften von Knabenstimmen im 15. und 16. Jahrhundert, sondern stellte auch die Unterschiede zu heutigen Knabenstimmen heraus. Dabei ging sie auf drei Hauptaspekte ein: Zuerst ging es um die körperlichen und geistigen Unterschiede zwischen Knaben der Renaissance und unserer Zeit. Sodann erläuterte Mecke die stimmphysiologischen Unterschiede von Knabenstimmen zu Countertenören und Frauenstimmen. Drittens wurde schließlich der Unterschied zu Mädchenstimmen thematisiert. Ihre Ausführungen unterfütterte Mecke mit eigens durchgeführten und aufgenommenen Stimmversuchen.
Ein Gesprächskonzert mit dem Titel „Singende Knaben damals und heute“ ermöglichte im Anschluss ein akustisches Erleben der im Rahmen der Tagung thematisierten Aspekte. Unter der Leitung von Alfred Gross sangen die Knaben der Capella vocalis Reutlingen und des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Pfullingen Vokalwerke der Renaissance und gingen anschließend auf Fragen des Auditoriums ein.
Den abschließenden Vortrag des Symposiums hielt Björn R. Tammen (Wien). Mit dem ikonographischen Beitrag „Die Hand auf der Schulter – Ein Bildtopos und seine Koordinaten zwischen Gestik, Performanz und Gruppenidentität“ bot er eine interdisziplinäre Perspektive zwischen Musikwissenschaft und Kunstgeschichte. Dabei diskutierte er die unterschiedlichen Lesarten dieses Bildtopos’. So zog er etwa aufführungspraktische Funktionen im Sinne einer nonverbalen Kommunikation in Erwägung. Auch die durch das Auflegen der Hand suggerierte Gruppenidentität sowie der Aspekt der Schutzbedürftigkeit der Sängerknaben einerseits und das Ausüben von Kontrolle und Disziplinierung andererseits fanden bei Tammen Erwähnung.
Der Tagungsband wird 2012 im Bärenreiter-Verlag Kassel unter dem Reihentitel troja. Jahrbuch für Renaissancemusik als Band 10 erscheinen. Herausgeberin ist Nicole Schwindt.