„WERK_RAUM_SENFL“

Wien, 09.-11.06.2011

Von Jaap van Benthem, Utrecht – 24.01.2012 | Seit September 2008 wird in Wien intensiv an dem Forschungsprojekt „Ludwig Senfl – Verzeichnis sämtlicher Werke“ gearbeitet (Universität Wien/Österreichische Akademie der Wissenschaften). Seit dem letzten Versuch einer Gesamtedition von Senfls Werken (Ludwig Senfl – Sämtliche Werke, 11 Bände, Wolfenbüttel/Zürich 1937–1974), hat sich durch diese Forschungsarbeit das Corpus der Quellen, in denen Senfls musikalischer Nachlass überliefert ist, von etwa 180 auf insgesamt ca. 360 Handschriften und Drucke verdoppelt – ein Forschungsstand, der vor allem in der Zukunft unsere Kenntnis über die Verbreitung von Senfls Kompositionen sowie deren Funktion und Bewertung im 16. Jahrhundert befördern und auf eine neue Grundlage stellen wird. Deshalb entschlossen sich Sonja Tröster und Stefan Gasch (Österreichische Akademie der Wissenschaften), beide für dieses Verzeichnis zuständig, zusammen mit der Projektleiterin Birgit Lodes (Universität Wien), eine Gruppe engagierter Wissenschaftler einzuladen und sich auf der Basis dieser aktuellen Forschungsergebnisse neuerlich mit dem Komponisten Ludwig Senfl auseinander zu setzen.

Martin Hirsch (Staatliche Münzsammlung München) analysierte Senfls Erscheinung anhand von Profilansichten des Komponisten auf vier unterschiedlichen Medaillen; eine attraktive Neuigkeit, die sich ab ca. 1518 in den deutschen Ländern auch in bürgerlichen Kreisen als eine Art Visitenkarte im sozialen und gewerblichen Verkehr verbreitete. Elisabeth Klecker (Universität Wien) konfrontierte Wolfgang Seidls lateinische Ode auf Senfl mit einer ausführlichen Analyse der fluktuierenden Ausgangspunkte und Strategien von Autoren vergleichbarer Texte ab dem späten Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert. Anhand der dramatischen Erlebnisse des bayerischen Hofmusikers Erhard Gugler schilderte Grantley McDonald (Katholieke Universiteit Leuven) die notwendige „innere Emigration“, in welcher Anhänger und Sympathisanten der Lehre Martin Luthers aufgrund der politischen Entscheidungen des bayerischen Herzogs Wilhelm IV. gezwungen wurden zu leben. Andrea Horz (Universität Wien) spürte den Verbindungen innerhalb der Schweizer Bildungselite am Beispiel von Glarean und Senfl nach und konstatierte trotz der Verankerung beider Personen in humanistischen Kreisen Glareans vergleichsweise geringe Einbindung des Senfl’schen Œuvres in seinen Ausführungen. Bernhard Kölbl (Ludwig-Maximilians-Universität München) wiederum konnte mit Hilfe von interglossierten Lied-Incipits in Studien-Exemplaren von Glareans Publikationen die Verwendung deutscher Lieder als modale Kompositionsbeispiele in dessen Unterricht nachweisen.
Birgit Lodes widmete ihren Beitrag „Im Dienst des alten Glaubens“ dem fünfteiligen Motettenzyklus Ave Domine Jesu Christe sowie der Doppeltext-Motette Mater digna Dei/Ave sanctissima Maria. Sie stellte dabei die These auf, dass der Motettenzyklus sowie die in Chorbuch 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München aufgezeichneten Werke als Münchner Pendant der Mailänder Motetti Missales-Tradition zu verstehen sind. In Gegenüberstellung mit Magnificatvertonungen von Josquin Desprez bis Orlando di Lasso analysierte Andreas Pfisterer (Universität Regensburg) Kompositionsverfahren in Senfls Magnificat-Zyklus; Bernhold Schmid (Bayerische Akademie der Wissenschaften) erläuterte mit einem detaillierten Vergleich der von Senfl und Lasso vertonten Propriensätze die Aktualisierung des Münchner Liturgierepertoires in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. David Burn (Katholieke Universiteit Leuven) demonstrierte anhand von Senfls unvollständig überlieferter vierstimmiger Motette Rubum quem viderat Moises die Möglichkeit, eine verlorene Stimme unter Zuhilfenahme zeitgenössischer Kompositionsprinzipien völlig überzeugend zu vervollständigen; ein Ansatz, der sowohl für die Musikwissenschaft als auch für ausführende Musiker von Interesse sein dürfte. Ausgehend von der einheitlichen musikalischen Sprache der mehrstimmigen Vertonungen deutscher Liedtexte von Heinrich Isaac, Paul Hofhaimer, Adam Rener, Sixt Dietrich und Ludwig Senfl skizzierte Nicole Schwindt (Hochschule für Musik Trossingen) die Hypothese einer Art Kompositions-Werkstatt am Hofe Kaiser Maximilians. Gert Hübner (Universität Basel) und Nils Grosch (Deutsches Volksliedarchiv Freiburg) erörterten unterschiedliche Aspekte der deutschsprachigen Werke Senfls: Genre, Inhalt und Qualität der Texte sowie das Spannungsfeld zwischen Medialität und Popularität der Lieder.
Lenka Hlávková Mráčková (Univerzita Karlova Praha) präsentierte eine Übersicht von böhmischen Quellen, teilweise utraquistischer Provenienz, die Kompositionen von Isaac, Senfl und Resinarius enthalten; Sonja Tröster machte auf eine kleine, bislang wenig bekannte und z.T. nicht erhaltene Gruppe von gestickten Stimmheften mit polyphonen Sätzen aufmerksam, die als kostbare Geschenke wohl im Umfeld des Hauses Wittelsbach entstanden und unter anderem auch Sätze Ludwig Senfls überliefern. Mit einer Neubewertung der drei Stimmbücher ZwiR 81/2 wies Stefan Gasch (Universität Wien) darauf hin, wie bedeutend diese vernachlässigte, leider unvollständige Quelle für die Senfl-Forschung ist. John Kmetz (New York) dagegen stellte die Glaubwürdigkeit der zahlreichen Zuschreibungen an Senfl in den Lieddrucken von Johannes Ott in einer inszenierten Gerichtsverhandlung auf den Prüfstand und sprach sich schließlich aufgrund der Überlieferungsbelege der „geladenen Zeugen“ aus der nahen Umgebung Senfls (Bernhart Rem, Jan Wüst und Lukas Wagenrieder) für den „Angeklagten“ aus. In Ergänzung hierzu kommentierte David Fallows (University of Manchester) die Problematik unterschiedlicher Schriftzeugnisse Bernhart Rems, die im vorigen Jahrhundert Senfls Sängerkollegen Lukas Wagenrieder zugeschrieben wurden, und stellte neben weiteren Ausblicken die Möglichkeit der Tätigkeit Rems in einer Kopisten-Werkstatt in den Raum.
Nicht weniger als drei Experten erörterten Wert und Bedeutung der Intabulierungspraxis für die Verbreitung und Überlieferung von Senfls Musik. Martin Kirnbauer (Historisches Museum Basel) widmete sich den Finessen unterschiedlicher Lautentabulaturen, Jonas Pfohl (Universität Wien) stellte anhand von Senfls in mehr als 30 zeitgenössischen Quellen verbreitetem Vita in ligno unterschiedliche Lesarten und Intabulierungsprinzipien vor, und seine umfassende Kenntnis der für Tasteninstrumente intabulierten Stücke demonstrierte Marko Motnik (Universität Wien). Abschließend unternahm Cristina Urchueguía (Universität Bern) den Versuch eines Vergleichs derartiger Instrumentalbearbeitungen mit Struktur und Funktion von Tabulaturdrucken im spanischen Raum.
Einen besonderen Reiz für die Teilnehmer der Tagung stellte ein Konzert dar, in dem Marko Motnik auch sein praktisches Können mit Intabulierungen von Kompositionen Senfls und Heinrich Isaacs virtuos auf der jüngst restaurierten Wöckherl-Orgel von 1642 der Franziskanerkirche vorführte. In verschiedenartigen Kombinationen mit den Intabulierungen erklangen auch die vokalen Vorlagen, die das Wiener Ensemble Arcantus gemeinsam mit dem Organisten zur Aufführung brachte. Eine schöne Ergänzung des während der Konferenz skizzierten Senfl-Bildes stellte die Sonderausstellung im Kunsthistorischen Museum dar: „Dürer, Cranach, Holbein. Die Entdeckung des Menschen: das deutsche Porträt um 1500“. Dort konnte man sich an Hand des Porträts eines unbekannten Mannes, Ulrich Apt dem Älteren zugeschrieben (Katalog Nr. 187), eine gute Vorstellung davon machen, wie man Ludwig Senfl, befreit von Medaillisten-Formalismen, um 1520 hätte begegnen können.