„Ferdinand Hiller (1811–1885). Komponist – Interpret – Musikvermittler"

Frankfurt und Köln, 26.-29.10.2011

Von Alexander Butz, Kiel – 30.04.2012 | In Hugo Riemanns Rückblick auf das gerade vergangene 19. Jahrhundert, der Geschichte der Musik seit Beethoven von 1901, gilt Ferdinand Hiller für große Teile der zurückliegenden Dekaden als „der angesehendste und einflußreichste Musiker des westlichen Deutschland". Gegenüber diesem gewichtigen Votum nimmt sich die Aufmerksamkeit, mit der Musikpraxis und -forschung den 1811 in Frankfurt am Main geborenen Komponisten, Pianisten, Dirigenten, Konzertveranstalter, Pädagogen und Musikschriftsteller in jüngerer Zeit bedachten, eher spärlich aus. Die anhaltende Reihe von zweihundertjährigen Geburtsjubiläen der um 1810 geborenen Musikergeneration barg im vergangenen Jahr die Gelegenheit, abseits der Feierlichkeiten für besser etablierte Vertreter dieser Gruppe gleichfalls einen Impuls zur Erforschung von Leben und Schaffen Hillers zu setzen. Dies geschah vom 26. bis 29. Oktober 2011 in Gestalt eines internationalen musikwissenschaftlichen Symposiums in Hillers Geburtsstadt sowie seinem späteren Hauptwirkungsort Köln. Die wissenschaftliche Leitung oblag Prof. Dr. Peter Ackermann (Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt a.M.), Prof. Dr. Arnold Jacobshagen (Hochschule für Musik und Tanz, Köln) und Prof. Dr. Wolfram Steinbeck (Universität zu Köln), die das Symposium in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft für Rheinische Musikgeschichte als Gemeinschaftsprojekt ausrichteten.

Die auf elf Sektionen verteilten 29 Einzelreferate stellen in ihrer Bündelung eine längst überfällige Neubelebung der Hiller-Forschung dar. Dabei zeigt sich auch, dass selbiger noch immer wichtige Grundlagen fehlen. Biographische Quellenbasis bildet fast ausschließlich Hillers 1958 bis 1970 in sieben Bänden von Reinhold Sietz publizierte Auswahl-Korrespondenz, deren Bedeutung jüngst wieder entscheidend aufgewertet wurde, da die Originalbriefe aus Hillers Nachlass seit dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009 nicht mehr öffentlich zugänglich sind. Eine umfassende Biographie Hillers, die über diese Quellen hinausginge, wäre ebenso vonnöten wie größere Studien zu seinen vielfältigen Tätigkeiten, vor allem auch zu seinem kompositorischen Schaffen. Letztere hätten aber vor allem auf ein umfassendes Werkverzeichnis zu hoffen, das ebenfalls ein bestehendes Desiderat darstellt.

Diesen Umstand betonte Ann Kersting-Meulemann (Frankfurt) in ihrem Eröffnungsreferat der ersten Sektion „Hiller in Frankfurt", das einen Überblick der in den Beständen der Frankfurter Universitätsbibliothek befindlichen Hilleriana gab. Dieser kam, da auch zahlreiche unpublizierte Kompositionen im Nachlass überliefert sind, einer Annäherung an die Frage gleich, welcher Werkbestand überhaupt als Hillers kompositorisches Schaffen gewertet werden könne. Ralf-Olivier Schwarz (Frankfurt) nahm sodann Hillers frühe Sozialisation in Wechselwirkung mit dem Musikleben seiner Geburtsstadt in den Blick.

In der zweiten Sektion wurde Hillers gesellschaftliches Umfeld beleuchtet. Sabine Henze-Döhring (Marburg) hinterfragte kritisch die Bedeutung von Hillers oft hervorgehobener jüdischer Herkunft. Das Referat von Ralph Locke (Rochester) zu „Hiller and the Saint-Simonians", in Abwesenheit des Autors von James Deaville (Ottawa) verlesen, gab Einblicke in Hillers weltanschauliche Prägung der Jahre 1828 bis 1836, die dieser als freischaffender Künstler in Paris verbrachte.

Die dritte Sektion war Hillers Beziehungen zu anderen Musikerpersönlichkeiten gewidmet. Helmut Loos (Leipzig) betrachtete die schon in Kindertagen begründete, späterhin gelöste Freundschaft Hillers und Mendelssohns im Spiegel ihres Briefwechsels (mit Seitenblicken auf das oratorische Schaffen der Komponisten). Cécile Reynaud (Paris) wandte sich dem in den Schriften von Hector Berlioz gezeichneten Bild Hillers zu. Giselher Schubert (Frankfurt) beleuchtete das Verhältnis von Hiller und Richard Wagner, wie es sich unter anderem in der zeitgenössischen Musikpublizistik abzeichnet.

Die Sektion zur geistlichen Musik eröffnete Peter Ackermann (Frankfurt) mit Untersuchungen zu Hillers Studien des vokalpolyphonen Satzes bei Giuseppe Baini während seines Romaufenthalts 1841/42. Dieter Gutknecht (Köln) verortete Hiller im Kontext der durch ihn intensiv betriebenen Bach-Pflege, insbesondere in Gestalt der Kölner Erstaufführung der Matthäus-Passion von 1859. Rainer Heyink (Frankfurt) nahm Hillers eigenes Oratorienschaffen, vor allem die von Mendelssohn und Schumann hochgeschätzte Zerstörung Jerusalems (1840), in den Blick und unternahm den Versuch einer Einordnung in die Geschichte der Gattung im 19. Jahrhundert.

Den Kölner Teil des Symposiums und zugleich die „Musikleben" überschriebene fünfte Sektion eröffnete Laurenz Lütteken (Zürich) mit einem Referat zu „Hillers Konjunkturen im 19. Jahrhundert", das die Konstanz von Kanonisierungsprozessen auf der Grundlage spezifisch bürgerlich geprägter Musikinstitutionen hinterfragte. Fabian Kolb (Mainz) stellte anschließend Hiller als zentrale Figur französisch-deutscher Musikkulturvermittlung dar. Arnold Jacobshagen (Köln) analysierte Hillers Programmpolitik in seiner Stellung als Städtischer Musikdirektor der Rheinmetropole, die er ab 1850 bekleidete. Klaus Wolfgang Niemöller (Köln) betrachtete Hillers Rolle im Kontext der von ihm in der zweiten Jahrhunderthälfte wesentlich geprägten Niederrheinischen Musikfeste.

Die folgende Sektion ging zunächst in Detlef Altenburgs (Weimar) Referat zu „Liszt und Hiller" auf eine weitere Beziehung zweier Protagonisten der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts ein, wobei sich das Verhältnis der Komponisten als ein zentrales Dokument der Neudeutschen-Kontroverse darstellt. Altenburg betonte jedoch bei seiner Analyse der gegenseitigen Negativurteile (denen eine Freundschaft Hillers und Liszts in Pariser Jahren vorausgegangen war) die Wichtigkeit einer konsequenten Quellenkritik, die manche veraltete Sichtweise relativieren helfen könne. Sodann folgten weitere Beiträge zu Hiller und Frankreich: Malou Haine (Brüssel) sprach zu den gemeinsamen Konzerten Hillers und Liszts während der 1830er Jahre, Herbert Schneider (Saarbrücken) widmete sich Hillers Pariser Editionen.

Sektion sieben zum Aspekt „Virtuosität" wurde von Laure Schnapper (Paris) eröffnet, die das Verhältnis von Hiller und Henri Herz zu Zeiten der französischen Julimonarchie beleuchtete. Eva Martina Hanke (Zürich), Autorin einer der wenigen neueren monographischen Arbeiten zu Hiller, betrachtete das Verhältnis des Klaviervirtuosen und -komponisten im Spiegel der Klavierkonzerte. Cordelia Miller (Köln) untersuchte Hillers Konzertstücke, die sich im Spannungsfeld zyklischer Formkonzepte und freier Phantasie als Experimentierfeld erweisen.

In der Sektion zur Symphonik deutete Wolfram Steinbeck (Köln) Hillers symphonisches Komponieren als Suche nach einem „dritten" Weg der Symphonie. Die drei gedruckten und sechs ungedruckten hier hinein zählenden Werke (in der Summe also die symphonische ‚Neun') schlagen demnach Pfade ein, die Hiller weder als Beethovennachfolger noch als ‚neudeutschen' Parteigänger greifbar werden lassen. Dem Diktum der „toten Zeit" der Gattung widersetzen sich die Werke in ihrer Innovationsfreude, die bis zur teils semantisch motivierten Sprengung des viersätzigen Zyklus reicht. Diese Befunde unterstrich Julian Caskel (Köln), der sich Hillers „Ästhetik der symphonischen Kleinform" zuwandte. Es wurde deutlich, dass Hiller das Scherzo weitgehend zugunsten anderer Typen (Capriccio, Intermezzo) vermeidet, in denen sich unter Wahrung eines äußerlichen Schematismus die ingeniöse Behandlung einzelner Parameter zeigt.

In der Sektion zur Oper untersuchte Matthieu Caillez (Paris) Hillers kurzzeitige Position als Dirigent des Pariser Théâtre-Italien während der Jahre 1851/52. Claudio Toscani (Mailand) behandelte Hillers 1839 an der Scala durchgefallenen Opernerstling Romilda. Im Anschluss betrachtete Ulrich Linke (Essen) überblicksartig Hillers rund 200 Einzelwerke umfassendes Liedschaffen. Michael Wittmann (Berlin) lieferte Einblicke in Hillers Kammermusik und ging genauer auf das Klavierquintett op. 156 ein.

Drei Beiträge von Kölner Referierenden beschlossen die Tagung in einer Hillers Klaviermusik gewidmeten Sektion: Florian Kraemer behandelte Robert Schumanns zu wechselvollen Urteilen gelangenden Blick auf Hillers Klavierschaffen auf der Grundlage einschlägiger Rezensionen und hob eine für Hiller typische Kombination von Etüde und Charakterstück hervor. Ayaka Shibata untersuchte Hillers Klavierbearbeitung zu Rossinis Guillaume Tell. René Michaelsen beleuchtete abschließend die Idee des Theaterhaften in der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts anhand von Hillers Operette ohne Text.

Ergänzt wurde das Symposium durch verschiedene Konzerte, in denen der Pianist Oliver Drechsel (Köln), Dozenten der Rheinischen Musikschule Köln, der Madrigalchor der Musikhochschule Köln und Studierende der Frankfurter und Kölner Musikhochschule Hillers Musik zum Klingen brachten. Ein Höhepunkt war wohl der die Tagung abrundende Klavierabend mit Tobias Koch (Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf), der ebenso einfühlsam wie eindrucksvoll Hillers Klavierschaffen mit Werken Chopins und Liszts konfrontierte.

Die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Beiträge des Symposiums ist im Rahmen der Beiträge zur Rheinischen Musikgeschichte in Vorbereitung.