„Schubert : Interpretationen. Tagung für Hans-Joachim Hinrichsen"

Zürich, 12.-14.10.2012

Von Felix Michel, Zürich – 21.12.2012 | Vom 12. bis zum 14. Oktober fand an der Universität Zürich eine Tagung zu Ehren von Hans-Joachim Hinrichsen statt, der in diesem Jahr seinen sechzigsten Geburtstag feierte. Die Veranstalter Ivana Rentsch (Zürich) und Klaus Pietschmann (Mainz), die sich beide als Assistenten von Hans-Joachim Hinrichsen habilitiert haben, wählten für die Tagung eine Themenkombination, die in zwingender Weise zwei Hauptforschungsgebiete des Jubilars verband: Franz Schubert, dem Hinrichsen seit seiner Dissertation immer wieder seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte – so kürzlich auch in Form einer kleinen Monographie (Hans-Joachim Hinrichsen, Franz Schubert, München 2011) –, und das in der deutschsprachigen Musikwissenschaft vergleichsweise junge Forschungsgebiet der musikalischen Interpretation, deren Geschichte Hinrichsens Habilitationsschrift in den Blick genommen hatte. Wiewohl die Referate zu losen thematischen Blöcken gruppiert waren („Lied“, „Vokalmusik“, „Varia(tionen)“, „Instrumentalmusik“), ist es doch als Zeichen der glücklichen Tagungskonzeption zu erachten, dass sich Berührungspunkte und komplementäre Einsichten über diese Gruppierung hinaus ergaben. Es soll darum auch hier davon abgesehen werden, die Vorträge streng chronologisch zu referieren.

In seiner fulminanten Laudatio verband Laurenz Lütteken, der Zürcher Lehrstuhlkollege des Jubilars, ernsthafte Würdigung mit kollegialem Schalk – ohne freilich eigene Positionen zu schonen: etwa in der Forderung, angesichts der schlagenden biographischen Parallele zwischen Gustav Jenner und Hans-Joachim Hinrichsen, die nicht nur ihre gemeinsame Herkunft, sondern auch eine „Wendung nach Wien“ – bei jenem dank Brahms, bei diesem über Schubert – verbinde, „Sylt als geistige Lebenswelt“ endlich systematisch aufzuarbeiten. Lütteken hob als Frucht des akademischen Werdegangs seines Kollegen dessen bleibende Liebe zum Wort, die einer Liebe zur Präzision des Denkens verwandt sei, hervor sowie dessen unzeitgemäß anmutende Eigenschaften, sich bei aller Produktivität Nachdenklichkeit als hohes Gut zu bewahren und beharrlich das scheinbar so unmoderne Ziel zu verfolgen, musikalische Kunstwerke zu verstehen. Und sozusagen in kontrastierender Ableitung der bitteren Schlussaussage von Wolfgang Hildesheimers Mitteilungen an Max, einer seinerzeitigen Geburtstagsgabe Hildesheimers an Max Frisch, konstatierte Lütteken, der Jubilar vermöge zudem die Überzeugung zu vermitteln, dass einem trotz aller Widrigkeiten (derer ja auch der akademische Alltag einige biete) entgegen der Voraussage Hildesheimers unter dem Hören, Sehen und Lachen letzteres bestimmt nicht als erstes vergehen werde.

Dem Anspruch, einem musikalischen Kunstwerk verstehend gerecht zu werden, stellten sich einzelne Referentinnen und Referenten in besonderer Weise, indem sie sich Werke abseits des engeren Schubert-Kanons vornahmen. So mischte sich Andrea Lindmayr-Brandls (Salzburg) analytische Betrachtung des Allegretto D 346 vor dem Hintergrund einer kritischen Reflexion des „Mythos des Zyklus“ mit einer apologetischen Stoßrichtung, die dem fragmentarischen Einzelsatz selbständige Geltung zuzusprechen und ihn so – insbesondere in Anbetracht seiner harmonischen und metrischen Subtilität – innerhalb von Schuberts Œuvre als „Fenster zur Zukunft“ zu begreifen versuchte, auch wenn seine frühe Entstehungszeit, der Rückgriff auf alla turca-Topoi und die experimentelle Formanlage den Satz deutlich in Schuberts frühem Werk positioniere. Anselm Gerhard (Bern) plädierte nicht nur dafür, Schuberts Nachthelle D 892 und Ständchen D 920 als exemplarische Vertreter „vokaler Gesellschaftsmusik“ den negativen Konnotationen des „Kasualen“ zu entziehen, sondern sie auch qualitativ auf musikalische Augenhöhe mit den letzten Instrumentalmusikwerken Schuberts zu heben. Dabei stützte er sich unter anderem auf musikalische Charakteristika wie die Bevorzugung von Terzlagen, die beispielsweise die Nachthelle mit dem Streichquintett D 956 verbinde, und auf die beiden Werken eigene Dialektik von Stillstand und Bewegung, aus der die für Schubert typischen Zeit-Effekte resultierten, die ihren Nachhall in der Metapher der „tönend bewegten Stille“ finde, welche die Rezeptionszeugnisse der Nachthelle denn auch durchziehe. In der Diskussion wurde zwar die hier anknüpfende Interpretation von Schuberts Selbstaussage, in diesen Werken eine „neue Form“ gefunden zu haben, durch Walther Dürrs (Tübingen) nüchterne Vermutung, dass damit schlicht die ungewöhnliche Besetzung gemeint sein möge, in auch dem Referenten einleuchtender Weise relativiert; Laurenz Lütteken nahm hingegen den apologetischen Impetus auf, um auch für Franz Grillparzers Textvorlage zum Ständchen eine Lanze zu brechen.

Ivana Rentsch zielte in ihrem Referat „Schuberts Bürgschaft und die Suche nach der musikalischen Form“ nicht nur auf eine angemessene Beurteilung des im Titel stehenden Einzelwerks, sondern der Gattung der Ballade insgesamt. Sie betonte die Notwendigkeit, dabei die Kategorien einer spezifischen Ästhetik der Ballade anzuwenden, um Werke wie Schuberts Bürgschaft D 246 nicht – wie Thrasybulos Georgiades – vor dem Erwartungshintergrund einer generellen Liedästhetik als missglückten Versuch qualifizieren zu müssen. Als zeitgenössische Reflexe einer solchen gattungsspezifischen ästhetischen Differenz zog die Referentin unter anderem Texte von Ignaz Franz von Mosel und E. T. A. Hoffmann bei, insbesondere aber eine frühe Rezension Hans Georg Nägelis. Dieser wandte in einer Besprechung von Johann Rudolph Zumsteegs Lenore (AMZ 34 [1799], 536–541) Kategorien wie die der „lebendigen Darstellung“, der nötigen „Abwechslung in den Modulationen“ und den „Reiz der Neuheit“ an, deren Gültigkeit für Schuberts Ballade die Referentin in einer exemplarischen Analyse plausibilisierte. Dass Schubert gerade die von Nägeli geforderte Eigenschaft des „Harmonieverständigen“ in besonderer Weise verkörpert, vermochte dann wiederum Licht auf die Rolle der Balladen-Experimente in Schuberts kompositorischer Entwicklung zu werfen. Die Diskutanten knüpften dann auch genau hier an, indem sie die harmonische Gestaltung des Übergangs der Strophen 10/11 als Lehrstück dafür, wie harmonische Räume gestaltet würden und Harmonik in Zeit umschlagen könne (Hinrichsen), beziehungsweise als Beispiel lyrischer Verdichtung (Dürr) oder gar atemloser Schnitttechnik (Gerhard) erachteten. Den Hinweis von Thomas Gerlich (Basel) auf die späteren Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten, in denen Nägeli seine Einschätzung der Gattung „Ballade“ radikal revidiert habe, deutete die Referentin gerade als Beleg für die Distanz zwischen den Gattungen, gewinne der späte Nägeli dieses negative Urteil doch aus der Perspektive einer dezidierten Liedästhetik.

Schuberts Bürgschaft kam zudem am Samstag in einem Konzert zur Aufführung, das die Tagung komplettierte. In diesem interpretierten Simon Witzig (Tenor) und Andrea Wiesli (Klavier) in einem feinsinnig komponierten und von Thomas Gerlich in gleichermaßen kenntnis- und erkenntnisreich moderierten Programm neben weiteren Werken Schuberts nicht nur Lieder von Carl Friedrich Zelter und Carl Loewe, sondern berücksichtigten mit der sechsten Valse-Caprice aus Franz Liszts Soirée de Vienne S 427 musikalisch einen weiteren Forschungsschwerpunkt des Jubilaren, nämlich denjenigen der (Schubert-)Rezeption.

Weitere Tagungsbeiträge folgten in je eigener Weise dem genannten Ansatz, Schubert’sche Werke außerhalb des Kanons in den Blickpunkt zu rücken: Während Andreas Krause (Mainz) gleichsam in einem – um eine autobiographisch-forschungspragmatische Metaperspektive erweiterten – assoziativen Streifzug möglichen Verbindungen zwischen dem als „Notturno“ bekannten Es-Dur-Klaviertriosatz Schuberts (D 897) und Carl Maria von Webers Euryanthe, zwischen dem langsamen Satz aus Mozarts Es-Dur-Klavierkonzert KV 482 und Schuberts B-Dur-Sonate D 960 sowie zwischen Schuberts Orchester- und Klaviersatz nachspürte (beziehungsweise das Scheitern dieser Spurensuche darstellte), sondierte Klaus Pietschmann (Mainz) mit geradezu kriminalistischer Sorgfalt den Entstehungskontext von Schuberts italienischen Drei Gesängen op. 83 (D 902), die 1827 bei Haslinger erschienen. Pietschmann skizzierte die nicht immer leicht zu überblickenden Anstellungsverhältnisse an den Wiener Theatern während der letzten zwei Wirkungsjahre des Impresario Domenico Barbaia in Wien und zeigte so mögliche äußere Beweggründe für Schuberts Komposition auf; insbesondere die Möglichkeit, Karl August Krebs als dritter Kapellmeister am Kärtnertortheater nachzufolgen, nachdem dieser 1827 nach Hamburg gezogen war. Zusammen mit Überlegungen zum Widmungsträger, dem gefeierten Buffo-Bassisten Luigi Lablache, zur Textwahl – wohl nicht zufällig liegen den ersten beiden Gesängen Texte Pietro Metastasios zugrunde – und zur kalkuliert-variierten Aneignung der Musiksprache der damals in Wien gespielten Buffa – so verweise der Fandango-Topos des dritten Gesangs deutlich auf Domenico Cimarosas und Gioachino Rossinis erfolgreichste Werke – erhellten sich so Schuberts mutmaßliche Absichten: Die Drei Gesänge sind demzufolge viel wahrscheinlicher als Reverenz- denn als Auftragskomposition anzusehen, und Lablache viel mehr als Fürsprecher (und dies auch viel plausibler als beispielsweise der Schubertfreund Johann Michael Vogl, der ja zu diesem Zeitpunkt längst seinen Abschied von der Bühne gegeben hatte) denn als Auftraggeber Schuberts. Neben einer Anstellung als Kapellmeister mag Schubert mit diesem Reverenzwerk überdies auch Kompositionsaufträge für Einlagenummern angestrebt haben, deren Implantation in bestehende Opern damals noch übliche Praxis darstellten. Die im Dreischritt von Da-capo-Arie, dramatischer Szene und Buffa-Arie planvolle, die Operngeschichte kompositorisch reflektierende Anlage der Gesänge weist aber auch auf eine besondere Stellung der italianità in Schuberts reifem musikalischen Selbstverständnis abseits der in der Forschung oft beschriebenen Rolle Rossinis in seinen frühen Sinfonien und Ouvertüren hin: Denn gerade im Wiener Kontext (man denke an Beethovens Ah perfido op. 65 und das Tremate-Terzett op. 116) scheine die kompositorische Fähigkeit zur italianità als Komponente eines durchaus „klassischen“ Selbstverständnisses.

Auch Karol Berger (Stanford) beleuchtete in seinem Beitrag „The uncanny grace: Kleist between Rossini and Schubert“ mögliche Verbindungen zwischen Schubert und Rossini weit abseits ausgetretener musikhistoriographischer Pfade. Ausgehend von der beunruhigenden Paradoxie, dass mit der Erfindung der Klaviermechanik im selben historischen Moment das für den Ausdruck von vermeintlich Intimstem perfekte Ein-Personen-Instrument erfunden und zugleich die Verbindung zwischen Seele und Ton aufgelöst werde, da nun der Ton nach dem Fingerdruck nicht mehr beeinflussbar sei; gestützt auf die Beobachtung also, dass hinter der Illusion der sich ausdrückenden Seele darum – unheimlicherweise – stets tote Mechanik liege, zeichnete Berger das gegenseitige Verhältnis von Anmut und Unheimlichem nach. Dazu verband er musik- mit literaturwissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Perspektiven, indem er die Anmuts-Konzeption aus Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater neben die Rossini-Interpretation Alessandro Bariccos stellte. Während sich Rossini in seinen Ensemble-Finali weg von einer Empfindungs-Mimesis bewege hin zur Darstellung von Personen, die von der Situation – also letztlich von sozialen Mechanismen als „seelenlosen“ Kräften – und von einer gleichsam „mechanischen“ Musik dominiert würden, um aus dieser Überwindung des Subjektiven ein Glücksversprechen (so Baricco) abzuleiten, so sei bei Schubert ähnlich „mechanische“ Musik hingegen eher Ausdrucksmittel hoffnungsloser Bedrohung wie am Ende der Winterreise. Berger vermittelte zwischen diesen entgegengesetzten Auffassungen in der Weise, dass er Friedrich Nietzsches Konsequenz der geschichtsphilosophischen Konzeption der „beiden Enden der ringförmigen Welt“, die Kleist aus seinem aufklärungskritischen Newtonian shock gewonnen habe, in Erinnerung rief: nämlich die Überzeugung, dass Kunst einstweilen das Beste bleibe, was uns zugänglich sei.

Hermann Danuser (Berlin) folgte der unterschwelligen Tendenz zur Nobilitierung vernachlässigter Werke insofern, als er seine Aufmerksamkeit einem Genre widmete, als dessen „Klassiker“ Schubert zwar mit einigem Recht gelten kann, dessen Stellung im Kanon der Gattungen jedoch alles andere als gefestigt ist: der vierhändigen Klaviermusik. Unter der Fragestellung, inwieweit diese als „eine postmoderne Volkskunst“ zu erachten sei im Sinne von Leslie Fiedlers „cross the border – close the gap“, beleuchtete der Referent exemplarisch den ersten der Drei Militärmärsche D 733, den er dem als Lebensstürme bekannt gewordenen Allegro in a-Moll D 947 gegenüberstellte. Diese vergleichende Perspektive offenbarte prinzipiell Verwandtes (so z.B. die „Sphäre des funktionalen Schreitens“ in den Rahmenteilen und die lyrischen Kontraste dazu), sodass der Referent bei aller Verschiedenheit der je werkimmanenten Ästhetik auf gemeinsame Züge schließen konnte. Zu diesen Zügen zählte er eben auch die in beiden Werken mühelos gelingende Verbindung des Einfachen mit dem Komplexen (eine „postmoderne“ Qualität auch dies) sowie ihren gemeinsamen Status als „Volkskunst“ im Sinne einer postmodernen Klassik; die komplexe Brechung des Populären im a-Moll-Allegro wiederum sei dabei ohne die Erfahrung des früheren Militärmarsches nicht denkbar. In der Diskussion hob Hans-Joachim Hinrichsen die besondere Radikalität der tonalen Disposition und der enharmonischen Mittel ihrer harmonischen Verwirklichung hervor, die das a-Moll-Allegro zu einem der abgründigsten Sonatensätze bei Schubert machten; ein Hinweis, den Danuser auch zu den von Ivana Rentsch an Schuberts Balladen beobachteten harmonisch-formalen Strategien in Beziehung brachte. Laurenz Lütteken wies mit Blick auf Mozarts Figaro darauf hin, dass die Idee des „Metamarsches“ eine spezifisch wienerische, in den Josephinismus zurückreichende sein könnte, während Arne Stollberg diese „postmoderne“ Eigenschaft ins 20. Jahrhundert weiterverfolgte, dank derer Schuberts Militärmärsche eine – ebenfalls durchaus postmodern zu nennende – Karriere vom Dreimäderlhaus bis zu Stravinskijs Zirkuspolka für einen jungen Elefanten durchlaufen konnte.

Beatrix Borchard (Hamburg) nahm eine Gattung in den Blick, die ebenfalls Schubert zu ihren Klassikern rechnen darf, darüber hinaus auch fest im Gattungskanon verankert ist; sie zeigte aber in ihrem Referat „Frauenlieder – Männerlieder? Gedanken zum Thema Repertoire und Geschlecht“ auf, wie ein ganzes Repertoire trotz dieser Voraussetzungen mit Rezeptionsproblemen belastet werden kann, indem es nämlich bestimmten Interpretengruppen unzugänglich wird. Anhand eines historischen Rückblicks demonstrierte Borchard, wie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den biologischen Körper gerichtete Geschlechtermodelle zunehmend wirksam geworden seien (etwa in der Ausbildung der Gesangspädagogik und den davon bestimmten modernen Stimmfächern), während zuvor beispielsweise Sängerinnen noch durchaus die Winterreise oder den Erlkönig haben aufführen können – insbesondere aber auch Sänger Robert Schumanns Frauenliebe und -leben, wie noch Max Kalbeck berichtet. Besonderes Augenmerk widmete die Referentin auch der Herausgebertätigkeit von Amalie Joachim und Pauline Viardots; einerseits als musikgeschichtliche Tatsache eigenen Rechts, andererseits aber auch als methodisches Werkzeug, um Aufschlüsse zu gewinnen über die Interpretations- und Repertoirepraktiken des Lieds, die infolge der privaten Aufführungssituationen notorisch schwierig zu bestimmen seien. Aufgrund dieser Betrachtungen ließen sich argumentative Muster (etwa die zur geschlechterspezifischen Repertoire-Einschränkung oft angeführte Kategorie des „Authentischen“), aber auch Bruchlinien und Widersprüchlichkeiten (so in Elena Gerhardts Aussagen zur Repertoire-Zusammenstellung) analytisch untersuchen. Mit Judith Butlers handlungsorientierter Gender-Konzeption durchleuchtete die Referentin abschließend die aktuelle Interpretationspraxis und stellte die (vielleicht auch aus materiellen Gründen vorwiegend von Frauen genutzten) neu erschlossenen Handlungsspielräume, aber auch deren deutliche Beschränkungen fest, wie sie sich in der Tatsache manifestierten, dass Dietrich Fischer-Dieskau in einer explizit als „Gesamtaufnahme“ deklarierten Einspielung der Schumann-Lieder dann doch auf die Interpretation der Frauenliebe verzichtet.

Arne Stollberg (Basel) stellte sich der Frage nach dem „Verstehen“ von Musik nicht nur im Sinn eines adäquaten Zugangs, sondern im eigentlichen hermeneutischen Sinne. Seine Überlegungen zu „Kunstreligion und religiöse Kunst in Schuberts Messvertonungen“ gingen von der Beobachtung aus, dass in Schuberts frühen Messen im Gloria den Worten „Deus pater omnipotens“ mit fast stereotyper Starrheit – und stets unabhängig vom tonalen Großkontext – eine mit einem übermäßigen Sext- oder Quintsextakkord realisierte Wendung nach A-Dur unterlegt ist, dass diese in den Messen gängige Sigle jedoch darüber hinaus auch in den zwar religiös inspirierten, aber letztlich weltlichen Kontext des Liedes Allmacht D 852 eingehen kann. Bietet hier die pantheistische Textvorlage Johann Ladislaus Pyrkers mit der initialen Anrufung „Groß ist Jehova, der Herr“ ein plausibles Argument, der musikalischen Formel in beiden Kontexten ähnlichen Gehalt zuzuschreiben, gestaltet sich diese semantische Zuweisung in anderen Fällen schwieriger: Die für die spätere As-Dur-Messe besonders im Agnus Dei bedeutsame Konstellation As-Dur/C-Dur findet sich ebenfalls in der Allmacht wieder, nun zusammen mit der eher idyllischen bzw. der unnahbar-enthobenen Gottes-Manifestation im Text. Sie findet sich bekanntermaßen aber auch an entscheidenden Stellen der Großen C-Dur-Sinfonie D 944, weshalb der Referent die Vermutung äußern konnte, dass damit die Sinfonie in Schuberts Verständnis offenbar zu leisten vermöge, was vorher zu leisten der Messe vorbehalten war – eine quasi „kunstreligiöse“ Auffassung avant la lettre, die ihre Korrelate bei den sogenannten Frühromantikern oder in Vorstellungen wie Friedrich Schleiermachers „schnellen Bekehrungen“ durch den „Anblick großer und erhabener Kunstwerke“ in den Reden über die Religion hat; Ideen, die Schubert über den Schlegel-Kreis wohl gekannt habe.

Till Gerrit Waidelich (Wien) und Manuela Jahrmärker (Bayreuth) behandelten in ihren Referaten Werke bzw. Werkgruppen, deren Problemstatus nicht zuletzt in aufführungspraktischen Schwierigkeiten begründet liegt. Manuela Jahrmärker zeigte auf, wie Ruth Berghaus’ Interpretation des Fierabras D 796 mit „Schuberts Choroper als Problem der Inszenierung“ umgeht. Als ausgebildete Choreographin habe Berghaus etwa Möglichkeiten des Ausdruckstanzes und Konzepte wie das der Gestaltung beweglicher Räume durch Gruppenbildung genutzt, die sie von ihrer Lehrerin Gret Palucca kannte, die aber auch auf die Generation davor, auf Isidora Duncan und Mary Wigman weise. Die Referentin exemplifizierte den musikalisch fein abgestimmten und von Hans Dieter Schaals Bühnenbild unterstützten Einsatz dieser choreographischen Mittel an ausgewählten Stellen und stellte heraus, wie Berghaus auf diese Weise dramatisch eigentlich allzu lang geratene Chorszenen in die Abstraktion zu führen vermöge und so sogar den von Schubert und seinem Librettisten Josef Kupelwieser vorgesehenen 16 Chornummern noch weitere hinzufügen könne. Till Gerrit Waidelich untersuchte „Verlaufsform und Effektkalkulation in Schuberts ‚durchkomponierten’ Szenen“ und konzentrierte sich dabei nach einer musikgeschichtlichen Exposition des Problems der Gestaltung von Verlaufsformen in den Theoriedebatten sowie im Werk Schuberts und seiner Zeitgenossen auf Schuberts Singspiel Die Verschworenen D 787. Waidelich führte das wechselvolle Rezeptionsschicksal dieses Singspiels auf einen Text von Ignaz Franz Castelli (der seinerseits auf eine französische Bearbeitung des Aristophanes’schen Lysistrata-Stoffs zurückgriff) aus und argumentierte im Widerspruch zur Meinung des Dichters der Textvorlage, dass Schubert seiner Aufgabe sehr wohl gewachsen gewesen sei und diese im Gegenteil äußerst planvoll gelöst habe. Jedoch unterscheide sich Schuberts Effektkalkulation grundlegend von der gewohnten: So gewännen gewisse Passagen Komik aus übertriebener Dramatik (wie umgekehrt zentrale Szenen von Alfonso und Estrella D 732 geradezu grotesk undramatisch blieben), und Schubert kalkuliere eher in Ensemblenummern, als in großen Dimensionen. Laurenz Lütteken spitzte diesen Befund und die Probleme, die daraus in der Praxis erwachsen, zu, indem er von einer bewussten Anti-Pizarro-Wirkung sprach, die in der Tat – damals wie heute – dramaturgisch schwer vermittelbar bleibe.

Eine andere, aber vielleicht letztlich doch verwandte Art der „Verweigerung“ trat in Giselher Schuberts (Hameln) Referat „Konzertantes bei Schubert“ zutage. Mit seinen Ausführungen erwies er dem Jubilar zugleich die schelmische Reverenz, das von jenem in seinem neuesten Buch monierte Fehlen des Instrumentalkonzertes in Schuberts Werkkatalog zu relativieren. Dies tat er anhand der Violin-Rondos A-Dur D 438 und h-Moll D 895 sowie der C-Dur-Violinfantasie D 934, deren Faktur er auch in Bezug auf ihr mögliches Zielpublikum und auf die Musiker diskutierte, denen diese Werke zugedacht waren. Der Referent schloss aber auch die Bearbeitung der Wanderer-Fantasie D 760 als Klavierkonzert durch Franz Liszt in seine Betrachtung ein und nutzte diese Veränderung des musikalischen Habitus als heuristisches Mittel, um die konzertanten Anlagen in Schuberts Werk deutlich zu machen. Aus der Gegenüberstellung gewann er so die Einsicht, dass diese Entfaltung des Konzertanten jedoch auch mit einem Verlust an ästhetischer Ambivalenz verbunden sei, und dass bei Schubert offenbar „Konzertantes“ bewusst meistens nur im Modus des Möglichen eingesetzt werde. An der C-Dur-Fantasie schließlich zeigte der Referent, wie Schubert Konzertantes zur Gestaltung innermusikalischer Vorgänge verwende, dabei aber eben – mit den absehbaren Folgen für den Rezeptionserfolg – weniger das Publikum und die mit der Konzertsituation verbundenen Erwartungen im Blick habe. In der Diskussion zog Hans-Joachim Hinrichsen eine Parallele zur Entfaltung von lyrischen Potentialen in Instrumentalwerken, die Lieder als Ferment ungewöhnlicher Formgestaltung verwendeten; und Walther Dürr rief die konzertanten Züge im Forellen-Quintett D 667 und dem Es-Dur-Trio D 929 in Erinnerung.

Giselher Schuberts Idee einer bewussten Gestaltung musikalischer Eigenschaften im Modus des Möglichen schien durchaus kommensurabel zu einem Aspekt des Komponisten Schuberts, der sich seit dem Eröffnungsreferat von Laurenz Lütteken gewissermaßen als verborgenes Nebenthema der Tagung durch viele Beiträge ganz unterschiedlicher Referenten gezogen hatte. Lütteken hatte in seinem Referat mit dem Titel „Die ‚seelenvolle Weise‘ als Poetik des Musikalischen. Erinnerung und Gegenwart im Lied vom Wolkenmädchen“ die besagte Eröffnungsszene des zweiten Aktes aus Alfonso und Estrella vor dem Hintergrund der Theoriediskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis hin zu Schuberts Zeit betrachtet, aber auch mit Blick darauf, dass in ihr das „Lied vom Wolkenmädchen“ weniger in die Handlung eingebettet erscheine, sondern diese vielmehr katalytisch voranbringe. Die das Lied rahmenden Rezitative würden sich zwar als in paradigmatischer Weise konstellationsstiftend im Sinne einer Herderschen Ursituation des Singens erweisen; entgegen dessen Konzeption eines „erinnernden“ Gesangs breche hier Gesang jedoch verändernd in die Wirklichkeit ein. Auf diese Fähigkeit zur Überwindung des „als ob“ in der performativen Situation lasse sich dann Alfonsos Aussage „doch fehlt mir noch die Kraft“ beziehen. Damit aber lasse sich diese Szene als Erörterung einer Poesie des Musikalischen mit den Mitteln der Oper auffassen; und die Idee der „Schubertiade“ und Schuberts eigentümliche Opernkonzeption wären als zwei Seiten eines poetischen Wirkungsprinzips zu verstehen, das eben – wenigstens in dem einen glücklichen Augenblick der Aufführung – eines bestimmten Kontextes bedürfe, um nicht nur in „eine bess’re Welt“ zu entrücken, sondern die Welt tatsächlich zum Besseren zu verändern. Hans-Joachim Hinrichsen ergänzte in der Diskussion, dass hier auch eine Urszene der Interpretation vorliege, singe doch Froila auf Wunsch und offenbar ein bereits bekanntes Lied, was wiederum Rückschlüsse auf das Wiener Musikleben (etwa bezüglich der Kategorien der Privatheit und Öffentlichkeit) erlaube. Till Gerrit Waidelich stärkte diese lebensweltliche Perspektive mit dem Hinweis, dass ursprünglich Johann Michael Vogl für die Figur des Froila vorgesehen gewesen sei.

Walther Dürr würdigte „Schuberts Ossian-Gesänge“ (ebenfalls ein Repertoiresegment mit eher marginalem Gewicht zumindest in der neueren Rezeptionsgeschichte) und die darin beschrittene Entwicklung „vom Lied zur Szene“ nicht nur mit profundem Wissen und feinem analytischen Blick, sondern präparierte an diesen Ossian-Gesängen ein besondere Art deklamatorischer Vertonung heraus, für die Klaus Pietschmann in der nachfolgenden Diskussion den aus Benennungsvorschlägen Dürrs zusammengezogenen Begriff des „episch-ossianischen Rezitativs“ prägte. Dieses wiederum erwies sich als in gewisser Weise anschließbar an die Erkenntnisse von Dürrs Vorredner Laurenz Lütteken: Denn wie Dürr beispielsweise an der Analyse der Klavierbegleitung in Cronnan D 282 demonstrieren konnte, schildere Schubert oft weniger den Text selbst als vielmehr die epische Situation, in die jener im ossianischen Epos eingebettet sei. In besonderer Weise treffe dies auf Die Nacht D 534 zu, die anfangs des Jahres 1827 die Reihe der Schubert’schen Ossian-Gesänge abgeschlossen hatte, berichte doch hier Ossian einzig die Szene eines Barden-Wechselgesangs, während anstelle des Gesangs selbst nur eine Nachdichtung des Herausgebers (der natürlich genauso wie „Ossian“ mit James Macpherson zu identifizieren ist) in einer Fußnote angegeben sei. Diese „epischen“ Verfahren, die Schubert – so die Vermutung Hans-Joachim Hinrichsens in der Diskussion – durchaus auch im experimentellen Umgang mit Prosatexten gedient haben könnten, mögen ihm nach 1818/1819 im Kontext einer dezidiert „romantischen“ Ästhetik veraltet vorgekommen sein, was erklären könnte, wieso er Ossian (genauso wie andere Textdichter der Jahre davor) nicht wieder berücksichtigt hatte. Dem Tagungszuhörer eröffnete hier aber die Vorstellung von Schubert als – wenn man so will – Metapoetiker der musikalischen Aufführungssituation eine zusätzliche Möglichkeit, poetische Kontinuitäten über diese Zäsur hinaus anzunehmen.

In der Tat offerierten auch andere Referate solch „metapoetische“ Lesarten: Bei Ivana Rentsch konnte man an die implizite Poetik der Ballade in Schuberts Vertonungen denken, bei Arne Stollberg an den Kontext der in der Allmacht vertonten Textstelle aus Pyrkers Perlen der heiligen Vorzeit, der eben wiederum eine (nun biblische, an die Serafim-Erscheinung in Jesaia 6,3 alludierende) „Urszene des Singens“ darstellt. Die Reflexion der Spielsituation in der vierhändigen Klaviermusik, die Hermann Danuser zur Grundlage nahm, um Parallelen zwischen Schuberts Militärmärschen und Joseph Roths Radetzkymarsch zu ziehen, ließen sich in ähnlichem Sinne an solche Lesarten anschließen wie die Beobachtung Hans-Joachim Hinrichsens, dass bei Schubert die Instanz des lyrischen Subjekts mitunter in der Aufführungssituation reflektiert werden könne – in der von Anselm Gerhard beleuchteten vokalen Gesellschaftsmusik durch kollektive Aufspaltung, in den von Beatrix Borchard untersuchten Frauen- und Männerliedern durch Geschlechterdifferenzen zum Interpreten, die eben nur durch eine (ästhetisch missverständliche) Ineins-Setzung von lyrischem Subjekt und Interpreten erst zum Problem werde. Diese reflexive Fähigkeit des Komponisten Schubert ließe sich aber auch in Beziehung zu den politischen Dimensionen seiner Musik bringen, die in der neueren Schubert-Forschung vermehrt hervorgehoben worden sind. Die beschriebenen „metapoetischen“ Aspekte dienten dann vielleicht nicht nur als weitere Belege für das vom Jubilar in seinem Schubert-Buch festgestellte Reflexionsvermögen, sondern auch als Illustrationen dafür, wie es denn möglich wird, dass „die ‚holde Kunst‘ der Musik […] jenes Medium [ist], das zwar ‚in eine bess’re Welt entrückt‘, aber gerade darin Utopisches reflexiv bewahrt.“ (Hinrichsen, Franz Schubert, S. 42)

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Falls (wie Sinfonien) auch Tagungen einem Finale-Problem ausgesetzt sein sollten, so bewältigte dieses Wolfram Steinbeck, dessen Beitrag „Schubert und kein Ende? Schlüsse bei Schubert“ sinnigerweise die Tagung beschloss, in überzeugender Weise. Steinbeck entwarf eine musikhistorische Skizze der Syntax, Rhetorik und Poetik des Schließens, legte aber insbesondere durch virtuose Schnittversionen etwa der f-Moll-Fantasie D 940 offen, wie eine Häufung grandioser Schlussfiguren den Schein des „nicht-zu-Ende-Kommens“ erzeuge. Durch ergänzende Analysen der Finali des G-Dur-Streichquartetts D 887 sowie der späten Klaviersonaten folgerte der Referent, dass Schubert keineswegs etwa ein Unvermögen des Schließens verrate, sondern im Gegenteil diese scheinbar manische Furcht vor dem Ende musikalisch zum Thema mache – und damit genau zum kompositorischen Mittel des Schließens. Dass am Schluss gewisser Finalsätze streng genommen überflüssige Akkordschläge stünden, deutete Steinbeck als quasi „extradiegetischen“ Eingriff mit dementsprechendem Verweischarakter, und fügte so dem Bild eines kompositorisch reflexiven Schubert eine weitere Facette hinzu.

Diese von der Universität Zürich und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gemeinsam ausgerichtete Tagung wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und dem Dr. Wilhelm Jerg-Legat unterstützt. Eine Publikation der überarbeiteten Beiträge in der Reihe Schubert : Perspektiven – Studien ist in Vorbereitung.