„Giacinto Scelsi heute: Ästhetische Dimension und Kompositorischer Prozess“

Graz, 20.-21.01.2012

Von Christa Brüstle, Graz – 22.02.2012 | Mit einem Symposion zu aktuellen Forschungen über Leben und Werk Giacinto Scelsis konnten Federico Celestini und Elfriede Moschitz einen Markstein setzen, der als ein Resultat ihres vom FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) geförderten Projektes „Giacinto Scelsi und Österreich“ für große Resonanz sorgte. Das Symposion wurde durchgeführt am Institut für Musikästhetik der Kunstuniversität Graz in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft der Universität Innsbruck. Eine ganze Reihe namhafter Scelsi-ForscherInnen aus Italien, Österreich, Deutschland und aus der Schweiz war versammelt, um vor allen Dingen zu demonstrieren, welche neuen Möglichkeiten der wissenschaftlichen und interpretatorischen Arbeit über Scelsi durch die Bereitstellung seiner Tonaufnahmen im Archiv der „Fondazione Isabella Scelsi“ in Rom seit 2009 offen stehen.

Zur Erläuterung der Geschichte der Stiftung sowie der aktuellen und zukünftigen Aktivitäten im Scelsi-Archiv waren der Präsident der Stiftung, Nicola Sani, sowie die hauptverantwortliche Wissenschaftlerin Alessandra Carlotta Pellegrini mit Vorträgen vertreten, die eindrucksvoll die intensiven Bemühungen schilderten, den Nachlass Scelsis zu sichern und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Darüber hinaus erinnerte sich Sani an persönliche Begegnungen mit Scelsi, der das internationale zeitgenössische Musikleben in Rom aufmerksam verfolgt habe. Die in Cremona lebende Musikforscherin Ingrid Pustijanac beleuchtete ergänzend Scelsis Umfeld und Mitwirkung an vielen Unternehmungen und Konzerten der Musikszene Roms in den 1960er Jahren, zu der hauptsächlich auch die Gruppe „Nuova Consonanza“ gehörte. Das Bild Scelsis, der häufig als zurückgezogene, völlig esoterisch versunkene und abseits seiner Zeitgenossen schaffende Einzelgängerpersönlichkeit beschrieben wurde, sollte daher in vieler Hinsicht revidiert werden. Elfriede Moschitz hat dies in ihrem Einleitungsreferat ebenfalls deutlich werden lassen und eingefordert, selbst in Hinsicht auf Scelsis Interesse für asiatische Lebensphilosophien oder esoterische Selbstfindungspraktiken keinen abschätzigen, sondern einen nüchternen kulturhistorischen Blick zu entwickeln. Die Wiener Religionsforscherin und -journalistin Ursula Baatz hat dies bei der Tagung in einem ausführlichen und informativen Beitrag eingelöst, in dem sie am Beispiel von Scelsis Bibliothek die Suche nach einer therapeutisch wirksamen Methode nachzeichnete, mit der der Komponist Seele und Körper, Geist und Sinne wieder in ein Gleichgewicht zu bringen versuchte. Dass er dabei auch recht dubiosen Gestalten und kuriosen Praktiken begegnet sein muss, lässt sich in der Tat nur durch eine kulturhistorisch und religionsphilosophisch fundierte Untersuchung nachweisen.

Eine weitere Wende in der (wissenschaftlichen) Behandlung Scelsis dürfte der Vergleich seiner Tonbandaufnahmen mit den gedruckten Partituren mit sich bringen, wobei zunächst grundsätzlich nochmals die Frage gestellt werden kann, ob die gedruckten Partituren weiterhin einfach „nur“ als Transkriptionen zu betrachten sind (noch dazu „nur“ angefertigt von Scelsis Mitarbeitern). Der Scelsi-Kenner Friedrich Jaecker (Köln) machte in seinem Vortrag deutlich, dass nicht nur der Begriff „Transkription“ fraglich sei, sondern dass man auch neu zu diskutieren habe, ob Scelsi „nur“ an der Ondiola improvisierte. Hier schlossen die musiktheoretischen und -analytischen Beiträge von Sandro Marrocu (Rom) über Xnoybis: writing, aesthetic choices and symbolic aspects, von Johannes Menke (Basel) über Scelsis Satztechnik in seinen Vokalpartituren und von Christian Utz (Graz) über die morphosyntaktischen Zusammenhänge zwischen Echtzeitwahrnehmung und Formimagination in der Musik Scelsis an. Georg Friedrich Haas (Graz/Basel) beleuchtete zudem Scelsis kompositorische Arbeitstechnik, die mit einem konstruktivistischen musikanalytischen Ansatz nicht erfasst werden kann, sondern eine Herausforderung zur Entwicklung alternativer Sichtweisen darstellt. Zu einem ähnlichen Schluss kam Markus Bandur (Detmold), dessen Beitrag der Dimension des Klangs bei Scelsi gewidmet war. Eine Podiumsdiskussion vereinte unter Leitung von Simone Heilgendorff abschließende Statements von Elfriede Moschitz, Ulli Fussenegger, Georg Friedrich Haas und Christa Brüstle. Mit Improvisationen von Elisabeth Harnik (Klavier) im Duo mit Gianni Mimmo (Saxophon) und mit einem Konzert von Studierenden des Masterstudiums „Performance Practice of Contemporary Music“ (Kunstuniversität Graz), die Stücke von Scelsi aufführten, wurde das Symposion ergänzt und abgerundet.