Genre: Zur ästhetischen und sozialen Klassifikation von Musik

Berlin, 09.10.2013

Von Christina Kaps, Berlin – 26.05.2014 | Musik sprachlich zu fassen gilt als schwierig, wenn nicht sogar als ganz unmöglich. Nichtsdestotrotz umgibt „die Musik" ein Netz von Begrifflichkeiten und diskursiven Vereinbarungen, die es möglich machen, sich über Musik auszutauschen. Als ein solcher Begriff erweist sich der des Genres – ein Begriff der Kategorisierung musikalischer Wahrnehmung, ein Begriff der Grenzziehung. Seinen Ausgangspunkt nimmt er im Ästhetischen: Genregrenzen markieren, was als ästhetisch angemessen erscheint. Dabei erweisen sie sich zugleich als zutiefst sozial verwurzelt, prägen sie doch auf ihre Weise maßgeblich die soziale Praxis der am musikalischen Prozess beteiligten Akteure. Der interdisziplinäre Workshop Genre: Zur ästhetischen und sozialen Klassifikation von Musik, der am 9. Oktober 2013 im Centre Marc Bloch in Berlin stattfand, rückte den Begriff ins Zentrum der Diskussion und fragte dabei nach Bedeutung, Funktion und Umgang mit dieser Kategorie: Wie formieren sich Genres? Wer ist an ihrer Produktion und Interpretation beteiligt? Welchen Einfluss, welche Konsequenzen haben sie für Musiker, Komponisten, Kritiker, für Fans oder Produzenten und wie stabil oder wandelbar sind solcherlei Grenzziehungen über Raum und Zeit hinweg?

Nach der Begrüßung durch Patrice Veit, Direktor des Centre Marc Bloch, und die Veranstalter der Tagung, Frédéric Döhl (Berlin), Klaus Nathaus (Edinburgh) und Gesa zur Nieden (Mainz), eröffnete die Auseinandersetzung mit dem Text Approaching Genre (2006) von John Frow die Tagungsdiskussion. Frow befragt in seiner Einführung den Begriff des Genres aus einer textorientierten Perspektive. Kann ein solcher Ansatz auch auf die Musik übertragen werden? Er kann, und vor allem wirft er Fragen auf, die sich im Verlauf der Tagung als immer wieder relevant erwiesen.
Die Beiträge der Teilnehmer näherten sich diesen Fragen aus drei Blickrichtungen: Unter dem Schwerpunkt Musiker und Genre stellte zunächst der Historiker Martin Rempe (Konstanz) seinen Zugriff auf die Kategorie des Genres vor. Er ging dabei davon aus, dass die Durchlässigkeit des Genrebegriffs für Musiker um 1900 weitaus größer gewesen sei als heute. Rempe eröffnete seinen Beitrag mit einem Foto Schönbergs, auf dem der Komponist sich als Mitglied einer stilisierten Tiroler Kapelle hatte ablichten lassen. Damit wurde eine Seite beleuchtet, die aus dem jetzt gängigen Schönberg-Bild ausradiert zu sein scheint. Es zeigt sich, dass das heutige Verständnis des Genrebegriffs das Ergebnis der musikalischen Handlung und damit also den Blick auf das Werk und den „großen Komponisten" privilegiert. Rempe aber machte deutlich, dass – will man beispielsweise Schönberg als Musiker und Komponisten seiner Zeit verstehen – diese Perspektive weit weniger relevant erscheint. Zwar kann das musikalische Leben um 1900 natürlich nicht als „grenzenlos" beschrieben werden, doch speisten sich, so Rempe, Antagonismen des Musiklebens hier vielmehr über soziale Differenzierungen (z.B. Militärmusiker vs. Berufsmusiker) als über ästhetisch markierte Genregrenzen wie bspw. die Unterscheidung von populärer und ernster Musik. Rempe plädierte damit für einen historisch-kritischen Zugang zum Genrebegriff. So rücken musikalische Produktionsprozesse und damit die Perspektive der Musiker selbst ins Zentrum der Betrachtung.
Fortgeführt wurde diese Argumentation mit Frédéric Döhls Beitrag über das Opernprojekt Brief Encounter des amerikanischen Komponisten André Previn. Grenzüberschreitungen fanden hier gleich in mehrfacher Hinsicht statt: Previn, der bereits eine Oper geschrieben, sich jedoch vor allem als Filmkomponist einen Namen gemacht hatte, wechselte mit diesem Projekt aus dem so genannten „U-Musik"-Bereich in den der „E-Musik". Auch der Opernstoff selbst – zuerst als Theaterstück, dann auch als Filmversion erfolgreich – hatte bereits einen mehrstufigen Adaptionsprozess durchlaufen, bevor Previn ihn für die Oper bearbeitete. Döhl verwies mit seinem Beitrag zunächst auf das kreative Potential, das Previns Grenzgang zwischen Filmmusik und Oper erzeugte. Dies erschöpfe sich nicht in der Tatsache, dass Previns Musik „wie Filmmusik klinge". Tatsächlich, so zeigte Döhl, bediene sich Previn ganz direkt filmischer Elemente – im hier analysierten Fall das des Close up – und deute das eigentlich visuell wirksame Mittel in auditiver, also musikalischer Perspektive. Obwohl es dem Komponisten ganz offenbar gelang, Filmmusik und Oper in kreativen Dialog zu bringen, blieb ihm die soziale Anerkennung in der Kunstmusik letztlich jedoch versagt.
Mit dem zweiten Panel der Tagung Ethnologische und ethnographische Perspektiven rückte die Untersuchung des Genre-Begriffs von der Musiker- auf die Rezeptionsebene. Gesa zur Nieden stellte in ihrem Beitrag das Wirken von Wagner-Verbänden vor, denen sie sich mit einem ethnographischen Ansatz genähert hatte. Wagner selbst schon hatte der Genre- Zuordnung seiner Werke entgegengewirkt und sich dabei nicht zuletzt als Person selbst zum rezeptiven Bezugspunkt gemacht. In diesem Spannungsfeld von Personenverehrung und Werkinterpretation kann auch heute die Wahrnehmung des Komponisten und seines musikalischen Schaffens verortet werden. Gesa zur Nieden befragte in ihrem Beitrag daher die Bedeutung, die den einzelnen, lokal verwurzelten Wagner-Verbänden in diesen Zusammenhängen zukommen. Dabei zeigte sie, dass sich zunächst alle gleichermaßen auf das Leben und Werk Richard Wagners beziehen. Gleichzeitig betonen (und etablieren) sie im historischen Rückgriff jedoch jeweils unterschiedliche Aspekte der ästhetischen und biographischen Überlieferung und positionieren sich sowohl damit, als auch über ihre gegenwärtige Funktionsbestimmung in Bezug zu anderen Verbänden und der Öffentlichkeit. Deutlich wurde dabei ein Ineinandergreifen unterschiedlicher Zeitregime, die sich im empirisch-ethnographischen Zugriff auf das „Jetzt" der Wagner-Rezeption als wirksam erweisen. Mit einem solchen empirischen Ansatz ist es möglich, sich mit Fragen zu Dauerhaftigkeit und Dynamiken des Genrebegriffs auseinanderzusetzen und ihn zugleich in seiner perspektivischen Ausdeutung sichtbar zu machen.
Die unterschiedliche Interpretation eines zunächst gleichen bzw. gemeinsam geteilten (ästhetischen) Bezugssystems machte auch der Musikwissenschaftler Nepomuk Riva (Berlin) zum Ausgangspunkt seines Beitrags. Dabei betrachtete er Prozesse des Kirchenliedtransfers, die er in zweifacher Richtung analytisch verfolgte: Im Zuge von Kolonisierung und Missionierung wurde europäisches Kirchenliedgut zum Bestandteil Kameruner Kirchenpraxis. Im Anschluss an diesen Transfer entwickelte sich eine lokale Tradition und Interpretation dieses Liedguts. Im Rahmen deutscher Kirchenmusikpraxis, z.B. bei Weltgebetstagen oder in der kirchlichen Kinder- und Erwachsenenbildung, werde wiederum versucht, Kameruner Kirchenlieder in das Gesangsrepertoire zu übernehmen. Diese würden dabei häufig mit „Einfachheit" und „Ursprünglichkeit" assoziiert und sollten zugleich die Internationalität der christlichen Kirche repräsentieren. In beiden Kontexten, so Riva, blieb der Rückbezug auf den eigentlichen „Herkunftsort" der Lieder immer relevant. Dabei aber hatten sich jeweils davon so eigenständige Interpretationen der transferierten Lieder entwickelt, dass sie von den Kennern der vorherigen Fassungen nicht mehr als solche erkannt wurden. Mit einem gekreuzten Blick auf unterschiedliche Aktualisierungen des zunächst scheinbar gleichen ästhetischen Ausgangpunktes (das Kirchenliedrepertoire oder -genre) verwies Riva so auf die Komplexität dieser Transferprozesse, die mit einem ethnographischen Blick sichtbar gemacht werden können: Der jeweilige Aufführungskontext, die dem Transferprozess unterliegenden Machtrelationen und nicht zuletzt die Imaginationen vom „Anderen" verschränken sich hier und wirken so gestaltend auf Performanz, Rezeption und Interpretation der Lieder ein.
Mit dem Panel Ästhetische und soziale Differenzierungen rückten schließlich Prozesse der musikalischen Klassifizierung auf einer institutionellen Ebene ins Zentrum der Tagungsdiskussion. Der Musikwissenschaftler Thomas Ahrend (Basel) diskutierte dies am Beispiel von Anton Weberns Streichtrio op. 20 und verwies damit auf Schwierigkeiten musikalischer Klassifikationen, wie sie bspw. in der Editionspraxis relevant werden. Ahrend zog dazu aus der soziologischen Systemtheorie den Begriff der „Unwahrscheinlichkeit" heran, der im Fall des Streichtrios gleich in zweifacher Hinsicht festzustellen sei: Einerseits wurden im 19. Jahrhundert kaum Trios geschrieben. Zudem weise die Gattung des Trios – z.B. im Vergleich zu der des Quartetts – keine stabile Tradition auf. Obwohl der Gattungsbegriff des Trios also selbst schon schwer zu greifen („unwahrscheinlich") sei und Webern diesen im Grunde mit seiner Komposition noch zusätzlich ausdifferenziert, hielt der Komponist an dieser Einordnung jedoch fest. Dieses „Neue" führte zur Infragestellung ästhetischer Kategorien. Solcherlei Auflösungstendenzen wiederum seien Kennzeichen avantgardistischen Musikschaffens. Nichtsdestotrotz müsste Rezeption (in diesem Fall speziell die Editionspraxis) sich diesen Auflösungstendenzen jedoch stellen. Dass dafür nicht allein Logiken der musikalisch-historischen Entwicklung wesentlich sind, machte Ahrend in seinem Beitrag deutlich. Als relevant erscheinen hier vielmehr die Macht des Komponisten, die Deutung seiner Werke mitzugestalten und damit die Eigenheiten des sozialen und ästhetischen Systems, innerhalb dem musikalische Produktion und Rezeption stattfindet.
Klaus Nathaus zeichnete wiederum am Beispiel musikindustrieller Entwicklungen zwischen den 1950er Jahren und 1980 Prozesse der institutionellen und gleichzeitig ästhetischen Ausdifferenzierung nach: Während in Großbritannien und den USA Unterhaltungsmusik rein kommerziell geregelt war, lag in Deutschland der Import englischsprachiger Musik zunächst in öffentlich-rechtlicher Hand. Daran gebunden war die Auffassung, dass englischsprachige Musik mit einem deutschen Text zu versehen sei, damit sie auf dem lokalen Markt vom Publikum aufgegriffen werden könne. Die Musiklandschaft der Zeit war daher, so Nathaus, durch einen starken Gegensatz geprägt: Die „eingedeutschten" Importe fielen der Kategorie Schlager zu und standen so der englischsprachigen Rockmusik deutlich entgegen. Diese Polarisierung spiegelte sich gleichzeitig in einer tendenziell dichotomen Publikumsstruktur. Ein folgenreicher Umbruch sei dann zu Beginn der 1980er zu verzeichnen: Umstrukturierungen der musikindustriellen Organisationsprozesse und neue musiktechnische Möglichkeiten differenzierten die musikalische Landschaft. Waren Musiker zuvor an bestehende Produktions- und Distributionsstrukturen gebunden, erweiterte sich ihr Gestaltungsraum nun deutlich. Auch die Hörer knüpften nach dem Vorbild neuer Formen des Musikjournalismus in neuartiger Weise an das musikalische Geschehen an. Die Ausdifferenzierung der Produktions- und Rezeptionsprozesse wirkte also, so Nathaus, ganz direkt auf das musikalische Schaffen und die Struktur des Publikums. Musikalische Stile differenzierten sich aus und auch die Musikhörer ließen sich nicht mehr deutlich einer Partei zuordnen.
Die unterschiedlich thematisch und methodisch orientierten Beiträge der Tagung ermöglichten es, die Diskussion des Genrebegriffs in einem weiten Rahmen zu betrachten und damit oftmals genau die Grenzen sichtbar zu machen und zu überschreiten, die musikalische Konventionalisierungen nicht nur auf musikalisch kreativer oder sozialer, sondern immer wieder auch auf diskursiver bzw. wissenschaftlicher Ebene nahezulegen scheinen.