Musik der mittelalterlichen Metropole: Räume, Identitäten und Kontexte der Musik in Köln und Mainz ca. 900-1400

Mainz und Köln, 15.-18.10.2014

Von Anna Plaksin, Mainz und Steven Rozenski, Rochester/Göttingen – 01.12.2014 | Betreibt man Landes- oder Stadtgeschichte, bietet sich nicht selten eine vergleichende Perspektive an, denn zumeist befruchten derartige Betrachtungen, indem sie die Eigenarten des jeweiligen Raumes besonders zur Geltung bringen und den Blick für tiefgreifende Entwicklungen schärfen. Dass sich diese Herangehensweise bestens auch zur Beleuchtung des mittelalterlichen Musiklebens am Rhein eignet, konnte die vom 15. bis 18. Oktober 2014 stattgefundene Tagung „Musik der mittelalterlichen Metropole: Räume, Identitäten und Kontexte der Musik in Köln und Mainz ca. 900-1400“ unter Beweis stellen; eignen sich doch die beiden Domstädte und Erzbischof-Kurfürstensitze am Rhein durch zahlreiche Parallelen besonders für diesen Vergleich. Und vor allem wenn es das Ziel sein soll, ausgehend von Quellen- und institutionellen Studien derart unterschwellige und vielleicht gerade darum in ihrer Relevanz kaum zu unterschätzende Themengebiete wie ‚cultural performances‘ und Identitätsbildungen der einzelnen Metropolen in den Fokus zu nehmen, stimuliert der gewählte Blickwinkel den Diskurs ungemein.

Dieser inhaltlichen Ausrichtung Rechnung tragen sollte auch das aufwändige Format der Tagung. So wurde die von Fabian Kolb (Mainz) organisierte Veranstaltung durch das Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Kooperation mit dem Erzbistum Köln, dem Bistum Mainz, der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte, der Arbeitsgemeinschaft für mittelrheinische Musikgeschichte und der Hochschule für Musik und Tanz Köln ausgerichtet und bespielte mit ihrem umfangreichen Programm, das neben den wissenschaftlichen Vorträgen auch zwei Konzerte beinhaltete, gleich beide Städte an aufeinanderfolgenden Tagen.

Der erste, in Mainz angesiedelte Teil wurde dabei im Dompfarrsaal des Doms St. Martin durch den Abendvortrag „Köln und Mainz als mittelalterliche Kultur- und Bildungsmetropolen“ des Historikers und Experten mediävistischer Städteforschung Frank G. Hirschmann (Trier) eröffnet, der ein durch etliche Daten gestütztes, beeindruckendes Spektrum an Parallelen und Gegenströmungen in der urbanen sowie kulturellen Entwicklung der beiden Rheinmetropolen aufspannte, ehe anschließend an einen Empfang das Konzert „Ze Lande an den Rîn. Ein mittelalterlich-musikalisches Panorama aus Mainz und dem rheinischen Raum“ auch musikalisch den Beginn der Tagung markierte. In der spätgotischen Hallenkirche St. Quintin erklang hier präsentiert vom Basler Ensemble Les Riches Heures in einem ansprechend arrangierten Querschnitt Mainzer bzw. Mainz bezogenes Repertoire vom 10. bis 14. Jahrhundert, somit gleichsam den inhaltlichen Bogen des Symposions klanglich nachvollziehend und akustisch erlebbar machend.

Zu Beginn des inhaltlichen Hauptteils am nächsten Morgen widmete sich zunächst der als methodischer Aufriss und Impuls angelegte Beitrag „Musik und urbane Identität: Aspekte und Tendenzen musikalischer Profilierung in Köln und Mainz zwischen Hoch- und Spätmittelalter“ von Fabian Kolb (Mainz) dem Vergleich der beiden Metropolen und ihrer musikbezogenen Überlieferungssituation, die zwischen 1100 und 1400 auf gewisse Mechanismen der Konkurrenz und Distinktion schließen lasse, bevor sich Andreas Haug (Würzburg) in einem Grundsatzreferat der zentralen Rolle von „Mainz in der Musikgeschichte des zehnten Jahrhunderts“ und hier namentlich der Bedeutung der Quellen aus St. Alban bzw. St. Martin sowie der Kompilation des Pontificale Romano-Germanicumzuwandte. Hieran anschließend präsentierte der Beitrag von Michael Klaper (Jena), der bedingt durch den Lokführerstreik leider verlesen werden musste, eine neue, in Altengönna wiederentdeckte Tropenquellen der Zeit um 1200, deren rheinischen Hintergrund er unter dem Titel „Die ‚rheinische Gruppe‘ in der Geografie der Tropen: Mainz, die Reichenau und eine neue Tropenquelle des späteren Mittelalters“ diskutierte. Lori Kruckenberg (Eugene/Oregon) hingegen lenkte den Blick auf die „Propriumstropen in der liturgischen Musikpraxis des Kölner Raums“, indem sie die Tropen des sogenannten Drachenfels-Missale des 13. Jahrhunderts in Augenschein nahm.

Der eminenten Bedeutung der Heiligenverehrung im Musikleben des mittelalterlichen Köln und Mainz widmeten sich sodann die Referate von Klaus Pietschmann (Mainz) und Stefan Morent (Tübingen). Während Klaus Pietschmann anhand der Beispiele der Vita des Hl. Severin und des Heiligsprechungsprozesses der Hl. Hildegard von Bingen dem Konnex von „Musik und Heiligkeit im mittelalterlichen Köln und Mainz“ nachging, legte Stefan Morent den Fokus auf die klingende „Musikalische Heiligenverehrung im mittelalterlichen Köln“ mit Schwerpunkt auf das reiche (Reliquien-)Prozessionswesen und das dadurch konstituierte Netzwerk der geistlichen Institutionen der ‚Colonia Sancta‘. Fokussierend auf das im All Souls College Oxford verwahrte Motetten-Fragment des 14. Jahrhunderts (GB-Oas Ms 56) verfolgte Karl Kügle (Utrecht) schließlich die Verbindung des französischen Kardinals Philipp d’Alençon zum Kölner Stift St. Aposteln als einem möglichen Kontext und Szenario der Provenienz, ehe sich Franz Körndle (Augsburg) Funktion und Status der Orgelbauer in der mittelalterlichen Stadt zwischen Handwerk, Auftrag und Idee widmete.

Den Einsatz medialer Kommunikationsformen in Koppelung von Auditivem und Visuellem stellten die nächsten Vorträge ins Zentrum: So beschäftigte sich die Kunsthistorikerin Susanne Wittekind (Köln) mit der Vernetzung Kölner Konvente anhand von Heiligenfesten, Prozessionen und Kunstwerken, Björn R. Tammen (Wien) beleuchtete die „Symbolische Kommunikation, institutionelle Repräsentation und die Visualisierung der Musik im Kölner Dom“ und der Kunsthistoriker Harald Wolter-von dem Knesebeck (Bonn) zeigte Tendenzen in Bildern zur Überlieferung textgebundener Musik auf („Von David zu Frauenlob, vom Dagulfpsalter zum Codex Manesse“). Beschlossen wurde der Mainzer Teil der Tagung schließlich mit der – anhand eines zu einem ‚Frauenlob-Museum‘ umfunktionalisierten Schranks ebenso belebend-anschaulich präsentierten wie kritisch-reflektierten – Auseinandersetzung des Literaturhistorikers Stephan Jolie (Mainz) mit dem Verhältnis von „Frauenlob und Mainz: Literatur und Mythos“.

Nachdem einige Köln-bezogene Themen bereits am Vortag in Mainz referiert worden waren, lag es beim folgenden Programm, das in der Hochschule für Musik und Tanz Köln geboten wurde, nahe, dass nun umgekehrt auch Mainz-bezogene Themen dem Kölner Tagungspublikum präsentiert werden sollten. So eröffnete der Historiker Kai-Michael Sprenger (Mainz) diese zweite Hälfte des Symposions mit einem Vortrag zu den politischen und kulturellen Rahmenbedingungen des weltlichen Musiklebens der ‚Aurea Moguntia‘ im 13. bis 15. Jahrhundert, wobei bislang unbekanntes, überaus aufschlussreiches Archivmaterial ausgewertet werden konnte. Nachdem sodann Henry Hope (Oxford) das Hoffest Kaiser Friedrich Barbarossas 1184 in den Blick nahm, um in schlagender Weise eine Dekonstruktion der „Historiographie deutsch-französischen Kulturaustauschs im Minnesang“ vorzuschlagen, folgte Barbara Neumeier (Saarbrücken) mit ihrem Referat zur Rolle der Instrumentalmusik im Sinne kurhöfischer, patrizischer und städtischer Repräsentation. Unter dem Titel „Zur Existenz und zum Phänotyp ‚urbaner‘ Musikquellen“ stellte Thomas Schmidt (Manchester) sodann Überlegungen zum Überlieferungskontext früher Mehrstimmigkeit an, wobei das um 1400 zweistimmig notierte „Vernans virtus sacramenti“ im Antiphonale des Mainzer Weißfrauenklosters den Fluchtpunkt der Beobachtungen darstellte.

In den sich hieran anschließenden Vorträgen zum musiktheoretischen Schrifttum von Kirchengelehrten und Mystikern entflocht der Theologe und Philosoph Stefan Seit (Mainz) in seinem Beitrag über „Die Musik im Bildungsverständnis des Hrabanus Maurus“ die Quellen und Filiationen der die Musik betreffenden Kompilationen in De institutione clericorum, bevor Therese Bruggisser-Lanker (Zürich) die Rolle der Musik in der Liturgie- und Schriftexegese des Kölner Mystikers Rupert von Deutz thematisierte und der Literaturhistoriker Steven Rozenski (Rochester, derzeit Göttingen) die Anteile der Musik in der Mystik von Meister Eckhart und Heinrich Seuse nachzeichnete. Der Beitrag von Wolfgang Fuhrmann (Wien), der streikbedingt leider ebenso nur schriftlich vorlag, widmete sich unter dem Titel „Rhetorik der Verinnerlichung“ dem Cantuagium des Kölner Kartäuserpriors Heinrich Egher von Kalkar sowie weiteren spätmittelalterlichen Choraltraktaten.

Nachdem der erste Tag des Kölner Teils seinen eindrucksvollen Ausklang im Konzert „Felix Agrippina“ gefunden hatte, bei dem die Ensembles Ars Choralis Coeln (Köln) und Ordo Virtutum (Tübingen) in der romanischen Basilika Groß St. Martin mit weitgehend erstmals wieder präsentierten Gesängen einen klingenden, am Prozessionsweg des Schreins des Hl. Anno 1075 angelehnten Stationengang zu den mittelalterlichen Kirchen Kölns rekreierten (das von WDR3 aufgezeichnete Konzert wird am 6. Dezember 2014 um 18.05h ausgestrahlt), setzte der Samstag die musiktheoretischen Perspektiven fort. Da die Vorträge von Stefan Klöckner (Essen) zur Tonalität in Kölner Heiligenoffizien und Christian Berger (Freiburg/Br.) zu Tonsystem und Modus-Lehre in den Quaestiones in musica des Rudolf von St. Trond entfallen mussten, eröffnete dabei Inga Mai Groote (Fribourg) den Vormittag, indem sie die Handschrift von Johannes de Grocheos Ars musicae in der Kölner Kartause St. Barbara im Kontext klösterlicher Gelehrtennetzwerke und Bildungsräume betrachtete. Anne Maria Busse Berger (Davis/California) ging daraufhin den Folgen und Widerständen nach, auf die Francos reformierte Notation traf, und führte sie auf die Nähe der Modalnotation zu den Maßeinheiten im römisch-mittelalterlichen Zahlen-, Gewichts-, Währungs- und Kalendersystem zurück, ehe sich Christian Thomas Leitmeir (Bangor) abschließend der faszinierenden Figur des Sammlers musiktheoretischer Schriften Amplonius Rating de Berka zuwandte.

Alles in allem kann die Tagung als stimmig und perspektivenreich bezeichnet werden. Denn so sehr der Vergleich der Situationen in den beiden Rheinmetropolen über einen derart großen Zeitraum von rund 500 Jahren hinweg bei diesem reichhaltigen Programm letztlich auch nur schlaglichtartige Blicke ermöglichte, so sehr konnten sich die exemplarischen Beobachtungen durch die vergleichende Gesamtperspektive einerseits und die fruchtbare Beteiligung von Experten benachbarter Disziplinen andererseits zu einem aufschlussreichen und stimulierenden Panorama zusammenzusetzen, das nicht zuletzt auch weit über die lokal-regionale Dimension des Themas hinaus Relevanz für das Verständnis der Musikkultur des europäischen Mittelalters besitzen und entsprechende Anregungen und Impulse für die musikwissenschaftliche Mediävistik bereithalten dürfte. Eine Veröffentlichung der Beiträge in der Reihe „Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte“ ist vorgesehen.