Spiel (mit) der Maschine: Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Reproduktionsklavier, Film und Radio

Frankfurt am Main, 29.-31.05.2014

Von Sebastian Rose, Frankfurt am Main – 11.07.2014 | Unsere gegenwärtige Kultur versteht sich als Medienkultur. Zahlreiche Medien, die heute unseren Alltag bestimmen, haben sich vor langer Zeit gegen konkurrierende Entwicklungen durchgesetzt und andere wiederum sind in Vergessenheit geraten. Zu den lange Zeit marginalisierten Medien gehört das Reproduktionsklavier, das einen der vier Mittelpunkte der internationalen Tagung „Spiel (mit) der Maschine“ bildete. Die Tagung – eine Kooperation des Instituts für Musikwissenschaft mit dem Frankfurter Hindemith-Institut und der ARTE-Filmredaktion – fand vom 29.-31. Mai 2014 im Renate-von-Metzler Saal der Goethe-Universität Frankfurt am Main statt und verfolgte das Anliegen, die Frühzeit musikalischer Medienpraxis von Phonographie, Reproduktionsklavier, Film und Radio aus musik- und medienwissenschaftlicher Sicht insgesamt in den Blick zu nehmen.

Verschiedene Perspektiven der Annäherung wurden in nucleo bereits in der ersten Sektion der Tagung „Wissenschaft – Ästhetik – Ökonomie“ nebeneinander gestellt: Julia Kursell (Amsterdam) referierte über die zeittypische, an den Naturwissenschaften ausgerichtete Experimentalisierung des Hörens am Beispiel experimenteller Anordnungen, die das Klavierspiel messbar machen sollten. Ihr besonderes Interesse galt der Art und Weise, wie das Aufkommen mechanischer Klaviere die Wahrnehmung des Klavierspiels insgesamt veränderte, was auch auf die Didaktik des klassischen Klavierunterrichts zurückwirkte. Der Beitrag von Dieter Daniels (Leipzig) stellte die ästhetische Vereinnahmung der neuen Medien am Beispiel von Rundfunk und Film dar. Walter Ruttmanns „Lichtspiel Opus 1“ illustrierte dabei die Vision einer „absoluten“ Medienkunst, die auch andere – wie Hans Flesch oder Friedrich W. Bischoff – teilten. Dass das „Absolute“ dabei eine Chimäre blieb bzw. bleiben musste, da jedes Medium jeweils ein anderes Medium zum Inhalt hat und der Anspruch auf Absolutheit nicht eingelöst werden konnte, eröffnete eine neue, medientheoretisch motivierte, kritische Sicht auf den ursprünglich aus der Musik stammenden ästhetischen Begriff des „Absoluten“. Von einer ganz anderen, empirischen Seite näherten sich Marion Saxer und Leonie Storz (beide Frankfurt) ihrem Gegenstand. Ihr Ansatz, eine Wirtschaftsgeschichte der Frühzeit der Reproduktionsmedien zu skizzieren, basiert auf der Einsicht, wie groß der Einfluss der Industrie auf Prozesse der Medialisierung sein kann. Die Referentinnen konnten zeigen, dass die These von der Ablösung des Selbstspielklaviers durch Grammophon und Radio nicht haltbar ist, da das Selbstspielklavier durchaus zeitweise mit beiden Medien konkurrieren konnte, bis andere Gründe zu seiner Marginalisierung führten.

Die zweite Sektion legte den Fokus auf das neu restaurierte Rollenklavier des Frankfurter Instituts für Musikwissenschaft, das im Rahmen der Tagung präsentiert wurde. Kai Köpp (Bern) gab einen Überblick über die aktuelle Forschungssituation und stellte sein Forschungsprojekt „Recording the Soul of Piano Playing“ vor, in dem Welte-Rollen als Quellen der Interpretationsforschung erschlossen werden. Durch die Rekonstruktion des Aufnahmemechanismus der Firma Welte konnte erstmals die Glaubwürdigkeit dieser Quellen objektiv beurteilt und gegenüber den frühen Tonaufnahmen aufgewertet werden. Anschließend unternahm Kerstin Helfricht (Frankfurt) einen Streifzug durch die Firmengeschichte der Frankfurter „Orchestrion- & Piano-Instrumenten-Fabrik J. D. Philipps“, aus deren Produktion das institutseigene Rollenklavier stammt. Die Firmengeschichte gibt Auskunft über die damalige Nachfrage, über Zielgruppen und verschiedene Modellreihen und leistet damit am Einzelbeispiel einen Beitrag zu der in weiten Teilen noch ausstehenden Forschung zur Wirtschaftsgeschichte der frühen Reproduktionsmedien. Der erste Tag schloss mit einem Konzert, bei dem der Pianolist Rex Lawson unter Mitwirkung von Musikern des Ensemble Modern demonstrierte, dass die Koordination zwischen Kunstspielklavier und traditionellen Instrumenten kein Problem sein muss. Zu hören war zudem eine fulminante Interpretation des Streichtrios Nr. 1 von Paul Hindemith und der erste Teil von Strawinskys Sacre du Printemps mit Rex Lawson am Kunstspielklavier.

Die dritte Sektion der Tagung, die sich über den gesamten zweiten Tag erstreckte, drehte sich um den Themenkomplex „Interagieren mit den neuen Medien. Medienpraxis als Darbietungspraxis“. Die ersten drei Beiträge widmeten sich performativen Aspekten des „Spiels mit der Maschine“. Daniel Gethmann (Graz) stellte Überlegungen zu den Eigenschaften von Klangmaschinen und ihrer Einbettung in eine allgemeine Mediengeschichte an. Dabei betonte er insbesondere das historische Potential ephemerer und heute vergessener neuer Entwicklungen. Galten Player Pianos gegenüber dem lebendigen Musizieren zunächst als „tote Maschinen“, so sorgten Kunstspielklaviere mit ihrem Hybrid-Charakter von menschlicher (virtuoser) Bedienung und dem Wiedergabemechanismus einer Maschine diesbezüglich für Konfusion. Rebecca Wolf (München) legte dar, wie die ursprüngliche Dichotomie der Begriffe damit durchlässig wurde und zahlreiche Fragen aufwarf. Im Anschluss führte Rex Lawson am Pianola in die Praxis des Kunstspielklaviers ein. Claudia Thieße (Ludwigshafen) und Janina Klassen (Freiburg) beleuchteten anhand der Analyse historischer Zeitschriften Vermarktungsstrategien des Grammophons sowie des Radios und zeichneten damit ein Bild der historischen Medienpraxis dieser damals neuen „Instrumente“. Die Wechselwirkungen von Live-Musik und Tonabspielgeräten als filmischen Musikmedien diskutierte Tobias Plebuch (Berlin) anhand der Konkurrenz beider Möglichkeiten in der Frühzeit des Kinofilms. Beide, so Plebuchs These, befruchteten sich gegenseitig und führten zu einer wechselseitigen Annäherung, bis die Technik des Tonfilms so weit ausgereift war, dass ihr Siegeszug unvermeidlich wurde. Der Beitrag von Sabine Breitsameter (Darmstadt/Berlin) beschäftigte sich mit der frühen Rezeption des Rundfunks und verwies mit einer Geschichte radiophoner Hausmusik auf die Praxis der Vermischung von Live-Musizieren und radiophoner Musikübertragung. Die Körperlosigkeit von Stimmen und Lauten, die der Rundfunk erzeugte, griff auch Michael Harenberg (Bern/Karlsruhe) in seinem Vortrag über die Belegung der Maschine mit Topoi des Organischen/Körperlichen auf. In einer Podiumsdiskussion (Daniel Gethmann, Rolf Großmann, Michael Harenberg, Julia Kursell) wurde anschließend versucht, die Vielfalt der Medienpraxen und Mediengemische, die im Verlauf des Tages erörtert worden waren, historisch zu verorten. Dabei waren sich alle Gesprächspartner einig, dass musikalische Mediengeschichtsschreibung ohne einen geschichtsphilosophisch motivierten Fortschrittsgedanken auszukommen habe. Der zweite Tag endete mit der Vorführung einer Rekonstruktion des Films „Im Kampf mit dem Berge – In Sturm und Eis“ (Regie: Arnold Fanck, Musik: Paul Hindemith), die Nina Goßlar (ARTE-Redaktion Mainz/Frankfurt) vorstellte.

Den dritten Tag und die vierte und letzte Sektion eröffnete Rolf Großmann (Lüneburg) mit Reflexionen über ein Medium der Medienmaschinen: die Schriftlichkeit. Er zeigte anhand interessanter Beispiele die Auswirkungen auf, welche die technische Verfasstheit von Medieninstrumenten auf ihre Medienpraxis hat. Susanne Schaal-Gotthardt (Frankfurt) erläuterte das Verhältnis Paul Hindemiths zur Technik und wie sich sein reges Interesse für die neuen Medien in seinen Kompositionen niederschlug. Unmittelbar an den Film des Vorabends anknüpfend analysierte Andreas Münzmay (Frankfurt) die Filmmusik Hindemiths. Der Versuch, musikalische Synchronizität herzustellen, verweist im Kontext des Films auf die Parallelschaltung von Mensch und Maschine, die für das Gelingen der Bergbesteigung unverzichtbar ist. Den Schlussbeitrag lieferte Martin Elste (Berlin), der das Spiel mit der Maschine als paradigmatisch für die gesamte abendländische Musikgeschichte beschrieb und in der Folge versuchte, den Wandel im ästhetischen Verständnis der Zeitgenossen von Reproduktionsklavier, Phonographie und beginnendem Film und Rundfunk zu hinterfragen, welche die neuen Medien nicht als Fortsetzung der Geschichte, sondern als einschneidende Neuerung erlebten.

Die weite Bandbreite der Tagungsbeiträge ließ die Vielschichtigkeit musikalischer Medienpraxis sowie die immense Vielfalt von Mediengemischen der zur Rede stehenden Zeit anschaulich werden und zeigte zahlreiche Desiderate der medienorientierten musikwissenschaftlichen Forschung auf. Zudem ergab sich ein reger Austausch unter den Teilnehmern, der viele Wechselwirkungen und Querverbindungen zwischen den vier thematischen Blöcken zu Tage förderte. Der Erkenntnisgewinn verdeutlicht einmal mehr die positiven Potentiale eines interdisziplinären Diskurses. Eine Publikation ist in Vorbereitung. Begleitet wurde die gut besuchte Tagung von einer Ausstellung, die – von Kerstin Helfricht konzipiert und von Studierenden des Frankfurter Instituts für Musikwissenschaft erarbeitet – den singulären Bestand der Klavierrollen des Instituts vorstellte und über die PianistInnen informierte, welche die Rollen eingespielt haben.