Richard Strauss: Der Komponist und sein Werk. Überlieferung, Interpretation, Rezeption

München, 26.-28.06.2014

Von Florian Amort und Sebastian Bolz, München – 14.01.2015 | Richard Strauss' Verhältnis zu seiner Vaterstadt München ist bekanntlich ebenso schwierig wie facettenreich. Dass sich diese Beziehung mittlerweile entspannt hat und München als Strauss-Stadt gelten darf, zeigt unter anderem die in der Entstehung begriffene kritische Neuausgabe der Werke von Richard Strauss, die an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie am musikwissenschaftlichen Institut der LMU München beheimatet ist. Diese Institutionen waren es auch, die gemeinsam mit dem Kulturreferat der bayerischen Landeshauptstadt anlässlich des 150. Geburtstags des Komponisten ein dreitägiges, international besetztes Symposium veranstalteten. Auf dem Programm standen, dem Forschungsschwerpunkt der Münchner Forschungsstelle gemäß, Fragen nach Quellenbeständen und philologische Problemstellungen, vor allem aber der tiefenscharfe analytische Blick auf Strauss' Musik, den Organisator Hartmut Schick in seiner Begrüßung als Desiderat formulierte. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die internationale Wirkungsgeschichte.

Die erste Sektion war „Richard Strauss und dem Orchester“ gewidmet. Als facettenreiche Fallstudie zum Verhältnis von „Altem“ und „Neuem“ bezeichnete Hans-Joachim Hinrichsen (Zürich), Spezialist für Hans von Bülow, zu Beginn die komplexen Beziehung zwischen Bülow zum jungen Komponisten und Kapellmeister Strauss. Während sich die ästhetischen Vorstellungen beider im Laufe der Entstehung der Tondichtung Macbeth voneinander entfernten, blieb – so Hinrichsens These – der Einfluss des Dirigenten Bülow auf seinen jüngeren Kollegen groß: Mit Blick auf die Praxis starker Tempo-Modifikationen innerhalb des Satzgefüges müsse so auch das Bild des eher nüchtern auftretenden Dirigenten Strauss korrigiert werden. Hartmut Schick (München) ging in seinem analytischen Beitrag von der Diagnose aus, dass die Hinwendung zu der so genannten „Neudeutschen Schule“ gerade keine grundlegende Abwendung von der Tradition bedeutet habe. Ausgehend von der Tondichtung Don Juan und deren eigenwilliger Satzkonzeption entwickelte er die These einer Kollision formaler und programmatisch-semantischer Strukturen in Strauss' Tondichtungen und schlug vor, das formale Problem des Sonatensatzes als „Reprisenproblem“ aufzufassen. Stefan Keyms (Leipzig) „tour d'horizon“ durch sämtliche Tondichtungen im Hinblick auf deren spezifische Schlussgestaltung bettete die Musik schließlich in den vom Komponisten selbst postulierten historischen Kontext der Instrumentalmusik Beethovens und Liszts ein. Keym zufolge sei Strauss hier Teil eines Ästhetik-Wandels hin zum pianissimo-Schluss, den Beethoven vorbereitet, Strauss favorisiert und Komponisten des 20. Jahrhunderts fortgeführt hätten.

Ganz im Zeichen (und in der Hand) der in München ansässigen Strauss-Ausgabe stand die zweite Sektion, die den philologisch-editorischen Blick auf Strauss als Komponisten, aber auch als Bearbeiter eigener und fremder Werke lenkte. Stefan Schenk gab gemeinsam mit Bernhold Schmid (beide München) einen Einblick in Strauss' Arbeit an Macbeth. Unter besonderer Beachtung der Uminstrumentierung, die Strauss zwischen der so genannten zweiten und der endgültigen, dritten Fassung insbesondere durch die Hinzunahme einer Basstrompete vorgenommen hatte, stellten Schenk und Schmid die Tendenz zu motivischer Verdichtung bei gleichzeitiger Klangmilderung fest. Andreas Pernpeintner (München) verlieh am Beispiel später Bearbeitungen dem Komponisten-Interpreten Strauss Kontur. An der wenig bekannten Spätfassung von Breit über mein Haupt demonstrierte Pernpeintner, wie der komponierende Pianist Strauss weitreichende (auch auf Improvisation basierende) interpretatorische Entscheidungen wie die Umgestaltung eines Klavierparts in eine neue Werkfassung überführte. Zuletzt ging Pernpeintner dem Verbleib der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Weg gebrachten Lieder-Gesamtausgabe durch Kurt Soldan nach und konnte anhand der Korrespondenz Strauss' Interesse an einer solchen unterstreichen. Ebenfalls dem Bearbeiter Strauss galt Ulrich Konrads (Würzburg) Beitrag zur Adaption der Gluck'schen Iphigenie auf Tauris. Mit dieser habe sich, so Konrads These, der Anspruch der Überwindung von (Musik‑)Geschichte durch deren Anverwandlung verbunden: In der „Verdeutschung Glucks im Geiste Wagners unter den Augen Goethes“ habe Strauss nicht nur den Umbau zum Musikdrama angestrebt, sondern sich dezidiert in jene Kulturgeschichte eingeschrieben, zu der Goethe mit seinem Drama, aber auch Wagner mit seiner Bearbeitung der anderen Gluck-Iphigenie (in Aulis) beigetragen hatten. Salome Reiser (München), die tragischerweise nur wenige Monate nach der Tagung am 16. Dezember 2014 verstarb, reflektierte die Bedeutung der Notenschrift für Strauss' Musikdenken. Als Hintergrund diente ihr der Bewusstseinswandels für die Notenschrift, der sich in zeitgenössischen Partiturreformversuchen in Richtung particellähnlicher Anordnungen artikulierte. In Reisers Lesart werde der Notentext bei Strauss zum „Spiegel eines Musikkonzepts“ und müsse sich dabei gerade nicht am Maßstab der Spielbarkeit messen oder anhand editorisch-verlegerischer Erwägungen betrachten lassen. Zum Abschluss des ersten Konferenztages gab Alexander Erhard (München) anhand der Elektra Einblicke in die Werkstatt des Komponisten und seine Zusammenarbeit mit Notenstechern und Kopisten wie Otto Singer. Erhard skizzierte die Werkgenese, an deren Ende Strauss offenbar Komposition und Instrumentation zugleich ausführte, und konnte so die Bedeutung des Partiturerstdruckes als editorische Leitquelle hervorheben.

Der Vormittag des zweiten Tages stand mit den „Bühnenwerken“ im Zeichen der prominentesten Werkgruppe. Walter Werbeck (Greifswald) zeigte am Begriff der Operette Linien im Verhältnis von Strauss zu Hugo von Hofmannsthal auf und verlieh ihm entgegen der Vorstellung einer pauschalen Ablehnung durch beide mehrdimensionalen Charakter. So sei der Ton der „leichten“ Gattung im Rosenkavalier noch couleur locale, später allerdings auch Möglichkeit, sowohl tagespolitische Motive als auch einen leichten Ton in die Oper zu integrieren. Die Operette sei damit, so Werbecks Postulat, eine vielschichtige Metapher für eine angestrebte Opernform, in die Strauss und Hofmannsthal ihre wechselseitigen Wünsche kleideten. Vor allem im Entstehungsprozess der Arabella seien diese Zuschreibungen deutlich hervorgetreten. Adrian Kech (München) spürte in seinem Vortrag der kompositorischen Revision durch den Komponisten nach und machte so die Kritik, vor allem in Form der Selbstkritik, als zentrales genetisches Merkmal sichtbar. So zeigte Kech am Beispiel der Ägyptischen Helena und der Frau ohne Schatten, in welch weitreichendem Maße Strauss noch in späten Phasen der Werkentstehung tief in die Substanz von Text und Musik eingriff. Robert Maschka (Frankfurt am Main) setzte Elektra und die Ägyptische Helena mit Blick auf den Tantaliden-Fluch in Beziehung, indem er die dramaturgische Funktion des Erinnerns und dessen musikalische Umsetzung herausarbeitete. Er schlug vor, die Helena als Zeitstück in ihrem historischen Kontext nach dem Ersten Weltkrieg zu lesen. In einem Ausblick wies Maschka auf die jüngere Fortschreibung hin, die der Strauss-Rezipient Manfred Trojahn in Orest von 2011 als Zuspitzung, aber auch als „Ausstieg aus dem Mythos“ ausgeführt habe. Arne Stollberg (Basel) zufolge habe Strauss seinem Librettisten Joseph Gregor neben Wagners Tristan vor allem Heinrich von Kleists Amphitryon als Anknüpfungs- und Abstoßungspunkt für die Entstehung des Daphne-Librettos nahegelegt. Vermittelt durch Zitate aus der Geschichte der Oper markiere seine Vertonung, so Stollbergs These, im Daphne-Mythos schließlich eine Reflexionsfigur der Strauss'schen Geschichts- und Opernauffassung und betreibe darin eine Apotheose des zeitlosen Kunstwerks.

Der Nachmittag führte in die Musikmetropole Berlin, die ebenfalls „Strauss-Stadt“ genannt werden darf. Die Vorträge umfassten hier den großen Zeitraum vom wilhelminischen Kaiserreich bis in die späte Zeit des NS-Staates. Den Anfang machte Dietmar Schenk (Berlin) mit einem umfassenden Überblick über das Musikleben der „Berliner Moderne“ in wilhelminischer Zeit und das Netzwerk, in dem sich der junge preußische Hofkapellmeister Strauss bewegte. Einer selten beachteten Werkgruppe wendete sich Achim Hofer (Koblenz/Landau) zu, indem er Strauss' Marschkompositionen historisch kontextualisierte und in ihrer wesentlichen Bindung an den Kaiser eine Facette des politischen Menschen Strauss sichtbar machte. Hofer bettete die Gattung so in ein Spannungsverhältnis zwischen kompositorischem Gestaltungswillen, ökonomischer Relevanz und konventionellem Rezipientenanspruch. Die Geschichte der Uraufführung der Alpensinfonie in Berlin im Jahr 1915 stand im Zentrum des Vortrags von Carsten Schmidt (Berlin). Anhand von Briefdokumenten konnte Schmidt zeigen, welche Umstände zu der eigenartigen Konstellation des Auftritts der Dresdener Hofkapelle in der Berliner Philharmonie geführt hatten: Da Privatkonzerte nicht vom Orchester der Hofoper gespielt werden durften und ein derartiges Konzert angesichts der Kriegsereignisse in der preußischen Administration zusätzlich auf Unverständnis stieß, habe Strauss auf den Klangkörper aus Dresden ausweichen müssen. Beinahe den gesamten am Anfang des Abschnitts genannten Zeitraum umfasst die Beziehung von Richard Strauss zu Gerhart Hauptmann. Wie Dörte Schmidt (Berlin) in ihrem Referat ausführte, einte die seit 1902 persönlich Bekannten die Selbstinszenierung beider als elitäre Vertreter einer deutschen Kunst, die sich auch in kulturpolitischem Engagement niederschlug, etwa in der „Deutschen Gesellschaft 1914“.

Dem Gebiet der Rezeptionsforschung gehörten die Beiträge an, die zu Beginn des Abschlusstages den Blick auf die Vereinigten Staaten lenkten. Wolfgang Rathert (München) ging eingangs der Wirkung Strauss' in der US-amerikanischen Kritik nach und stellte das Jahr 1918 als Bruchlinie in der Wahrnehmung des deutschen Komponisten heraus. Zuvor als „Moderner“ anerkannt, sei Strauss später als veraltet wahrgenommen und auch in Verbindung mit dem NS-Staat gebracht worden. Strauss' frühes Auftreten in den USA sei nicht nur in eine Formierungsphase des dortigen Musiklebens gefallen, sondern habe durch Erfolg und konstruktive Auseinandersetzung auch auf die deutsche Strauss-Rezeption zurückgewirkt. Claudia Heine (München) begab sich auf die schwierige Suche nach handschriftlichen Strauss-Quellen, die vor allem im Rahmen von Auktionen in den USA zu finden seien. Strauss sei hier, so Heines Vermutung, schon zu Lebzeiten als Agent seiner Autographe in Erscheinung getreten, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Wiener Kunsthändler Kallir.  Eine detaillierte statistische Analyse der Präsenz von Strauss' Musik auf amerikanischen Bühnen und Podien in historischer und aktueller Perspektive bot Morten Kristiansen (Cincinnati). Er bestätigte die Vorbehalte der US-Kritik um das Jahr 1918 herum, stellte aber eine baldige Rückkehr von Strauss' Musik in die Spielpläne im Verlauf der 1920er Jahre fest. Aktuell, so Kristiansens abschließender Befund, zeigten sich im globalen Vergleich durchaus ähnliche Aufführungszahlen. Mit seinem Bericht über die Strauss-Forschung nach 1945 sprach Bryan Gilliam (Durham) über eine Geschichte, die er selbst entscheidet mitgeprägt hatte. Unter Heranziehung musikgeschichtlicher Lehrwerke aus den 1950/60er Jahren strich er die Auswirkungen der von Arnold Schönberg ausgehenden theoretischen Agenda heraus, die Kategorien wie Polyphonie, Organizität und Fortschrittlichkeit gegen Begriffe wie Theatralität und Eklektizismus in Stellung brachte. Gilliams Diagnose einer bis in die 1980er Jahre andauernden Nicht-Satisfaktionsfähigkeit gelte freilich nicht nur für die anglophone, sondern ebenso für die deutschsprachige Musikwissenschaft.

Den Abschluss bildete eine Sektion, die noch einmal die gesamte Breite des Strauss'schen Wirkens aufzeigte. Bernd Edelmann (München) demonstrierte am Beispiel der „Lesefuge“ in Don Quixotte Strauss' Umgang mit dem sogenannten „poetischen Kontrapunkt“. Indem er der Provenienz des musikalischen Materials der im Laufe der Tondichtung auftretenden Figuren nachging, konnte Edelmann Strauss' Verständnis von semantischer Polyphonie Kontur verleihen. Mit seinem Blick auf Strauss' Bemühungen um das musikalische Urheberrecht nach 1933 gelang es Albrecht Dümling (Berlin), das diffizile Verhältnis des Komponisten zu den Machthabern des im Aufbau befindlichen NS-Staates um einige wichtige Facetten zu erweitern. Bereits vor der Gründung der Reichskulturkammer habe, wie Dümling für die Jahresmitte 1933 zeigen konnte, ein Machtkampf zwischen den beiden Gesellschaften STAGMA und GEMA die staatliche Kulturpolitik beherrscht. Strauss selbst habe in dieser Zeit durchaus nicht als zentrale Figur des deutschen Musiklebens gegolten, erst durch den Tod Max von Schillings' hätten sich die Kräfte entscheidend verschoben. Birgit Lodes (Wien) schlug am Beispiel der Blindenklage aus op. 56 vor, Strauss' „Kontrastharmonik“ mit Begriffen der bildenden Kunst, namentlich mit Äußerungen Emil Noldes zum Einsatz von Farbkombinationen, zu verknüpfen. Das Motiv des Liedes durch das 19. Jahrhundert verfolgend, gelangte Lodes zu dem Vorschlag, die Blindheit in der Spannung zwischen romantischer Verklärung des Blinden und Verdüsterung zu lesen und der musikalischen „Farbe“ bei Strauss ein zentrales Deutungsmoment zuzusprechen. Den Blick vom oberen Belvedere eröffnete Matthew Werley (Cambridge). Als „poetisches Fenster auf die Identität Österreichs“, das Werley mit historischen Stadtansichten Wiens in Verbindung brachte, ermögliche diese Komposition aus op. 88 auf einen Text des überzeugten Nationalsozialisten Josef Weinheber Einblicke in Strauss' Erinnerungswelt. Im Hinblick auf das so erzeugte Wien-Bild verortete Werley den Blick vom oberen Belvedere schließlich zwischen RosenkavalierArabella und dem Gedächtniswalzer.

Den Schlusspunkt der Tagung setzte Reinhold Schlötterer (München) mit seinen Ausführungen zu  den „musikalisch elementaren“ Klangverbindungen in der Harmonik des späten Strauss. Am Beispiel von Im Abendrot demonstrierte Schlötterer eine Satztechnik, die traditionelle Kadenzverläufe außer Kraft setzt und mit der funktionalen Analyse unzugänglichen Fortschreitungen substituiert.

Umrahmt wurde die Tagung von zwei hochkarätigen Konzerten, die die Musik von Richard Strauss zum Klingen brachten: Am Vorabend des ersten Konferenztages präsentierte die Sopranistin Anja-Nina Bahrmann, begleitet von Dieter Paier am Klavier, unter anderem die selten im Konzertsaal zu hörenden Lieder der Ophelia op. 67. Den zweiten Tag beschloss eindrucksvoll der Chor des Bayerischen Rundfunks unter seinem künstlerischen Leiter Peter Dijkstra mit den hochvirtuosen, großbesetzten Chorgesängen op. 34, ergänzt um einige Raritäten: Rezitator Georg Blüml interpretierte das klavierbegleitete Melodram Das Schloß am Meere nach Ludwig Uhland, sein Begleiter Anthony Spiri trug Klavierwerke des jungen Strauss aus den Opera 3 und 5 bei.

Mit Beiträgen aus Kulturgeschichte, Philologie, Rezeptionsforschung und musikalischer Analyse demonstrierte die Münchner Tagung die Bandbreite aktueller Strauss-Forschung. Sie führte damit eindrucksvoll vor Augen, mit welcher Fülle von Zugängen sich die Musikwissenschaft befassen muss, um dem Phänomen Richard Strauss jenen Status zu nehmen, den Michael Kennedy auf den Begriff „Man, Music, Enigma“ gebracht hat.