Christoph Willibald Gluck. Bilder – Mythen – Diskurse

Wien, 23.-25.10.2014

Von Elisabeth Schönfeld, Frankfurt am Main – 29.11.2014 | Das internationale Symposium „Christoph Willibald Gluck. Bilder – Mythen – Diskurse“ wurde anlässlich des 300. Geburtstages des Komponisten von der Universität Wien, der Goethe-Universität Frankfurt am Main, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz sowie der Österreichischen Gesellschaft für Musik in Wien veranstaltet. Es fand vom 23.–25. Oktober 2014 in den neuen Räumlichkeiten der ÖGM statt.

Auf dem Veranstaltungs-Flyer wurde im Vorfeld bereits ankündigt, die „historische Position [Glucks] kritisch zu ergründen“ sowie den Forscherblick auf die Rezeption der Werke des „Opernreformators“ zu richten und „vor allem, die kulturspezifischen Konstruktionen (in Deutschland, Frankreich, Italien usw.) freizulegen.“ Unter anderem dieses Anliegen wurde den zahlreich gekommenen Zuhörern von den drei Organisatoren Prof. Dr. Thomas Betzwieser (Frankfurt a/M.), Prof. Dr. Michele Calella (Wien) und Prof. Dr. Klaus Pietschmann (Mainz) erläutertet und darauf hingewiesen, dass sich das Symposiums-Thema explizit von dem des vorangegangenen Nürnberger Symposiums im Juli abgrenzte.

Michele Calella eröffnete die erste Beitragsfolge mit seinem Vortrag „Die ,nackteʻ Musik: Ambivalenzen der frühen deutschen Gluck-Rezeption (1768–1795)“. Anhand von ca. 50 Beiträgen und Rezensionen u. ä. stellte Calella Linien und Tendenzen der Gluck-Rezeption in der deutschen Literatur dar und zeigte auf, dass diese in drei Phasen zu gliedern sind, die mit der Uraufführung und Drucklegung der in Wien und Paris erstaufgeführten Werke in einem engen Zusammenhang stehen. Mit der Gluck-Rezeption im 18. Jahrhundert beschäftigte sich auch Jens Dufner (Bonn). Er machte in seinem Vortrag „Gluck durch die schwedische Brille: die intensive, aber widersprüchliche Rezeption im gustavianischen Stockholm“ deutlich, dass Gluck innerhalb der Bestrebungen, eine Nationaloper zu schaffen, eine wichtige Rolle spielte. Hierbei übersetzte man seine sog. Reformopern ins Schwedische und passte die Musik an Sprache und Sänger an. Außerdem waren Mischfassungen (z. B. Alceste) üblich. Einen ersten Blick in das 19. Jahrhundert wagte Klaus Pietschmann (Mainz), der über die Gluck-Rezeption in Wien und die Stilisierung des Komponisten zum „Klassiker“ sprach, wobei er dafür die Zeit um 1800 in den Fokus nahm. Die politischen Gegebenheiten berücksichtigend legte er dar, dass man sich in allen gesellschaftlichen Schichten mit Gluck und seinem Werk identifizierte und Interpreten wie Anna Milder und Johann Michael Vogl für die Gluck-Rezeption von großer Bedeutung waren. Dies auf der einen Seite und der gescheiterte Versuch, durch jüngere Komponisten an die Gluck-Tradition anzuknüpfen, auf der anderen, beförderten die Stilisierung Glucks zum „Klassiker“. An diesen Beitrag anschließend thematisierte Melanie Unseld (Oldenburg) unter dem Vortragstitel „,eine scharfgezeichnete, unverrückbare Bahnʻ: das Narrativ von Gluck als ,Opernreformatorʻ in der deutschsprachigen Biographik des 19. Jahrhunderts“ die Narrative „heroisch“, „Reformator“ und „klassisch“ anhand zahlreicher Schriften und belegte, dass diese Gluck bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wurden.

Die zweite Beitragsfolge des internationalen Symposiums eröffnete Arnold Jacobshagen (Köln) mit dem Vortrag „Opernreform und Reformoper: Voraussetzungen und Modalitäten eines musikhistoriographischen Narrativs des 19. Jahrhunderts“. Darin wurden die Begriffe „Reform“, „Reformation“ und „Revolution“ und deren historische Entwicklungen v. a. in Deutschland unter begriffsgeschichtlicher Perspektive betrachtet und die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Glucks Einfluss auf die Entwicklung der Musik v. a. in Frankreich und Deutschland dargestellt. Unter dem Titel „Zurück in die Zukunftsmusik: Gluck und die Idee der deutschen Nationaloper im 19. Jahrhundert“ sprach Barbara Eichner (Oxford) über Glucks Stellung im Diskurs um die deutsche Nationaloper. In ihren Ausführungen machte sie auf Probleme aufmerksam, die bei solch einer Vereinnahmung des Komponisten entstehen, und beschrieb die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich erfolgende Deklaration Glucks zum „Ahnenherr“ der deutschen Nationaloper. Mit den Gluck-Bildern in der russischen musikalischen Polemik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich Yuliya Shein (Mainz). Dafür betrachtete sie Texte der Kritiker Vladimir Stasov, Aleksandr Serov und German Larosh. Anhand von ihren Darstellungen, die vor allem nach Besuchen von Gluck-Aufführungen außerhalb Russlands geschrieben worden waren, ergab sich ein geteiltes Gluck-Bild der Zeit, das einerseits den Namen Gluck als Ikone begriff, andererseits aber seine Werke als veraltet, überholt und langweilig wertete. Danach wurde der Blick nach Italien gelenkt. Für seinen Vortrag „,riforma melodrammaticaʻ: die Gluck-Rezeption in Italien in den Schriften des 19. und frühen 20 Jahrhunderts“ untersuchte Daniel Brandenburg (Salzburg) zahlreiche Berichte der italienischen Presse, die sich mit Glucks Reform auseinandersetzen. Sie zeigen, wie der Komponist und dessen Ruhm von der italienischen Kritik vereinnahmt wurde, und dies, obwohl sich seine Werke auf italienischen Bühnen nicht etablieren konnten.

Dieser Darstellung folgten drei Beiträge, welche sich mit der Gluck-Rezeption in Frankreich beschäftigten. Mark Everist (Southampton) untersuchte dafür in seinem Beitrag „Beyond Berlioz: Gluck in the French Press of the Nineteenth Century“ die Gluck-Rezeption in Paris für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bis in die 1860er Jahre und stellte dar, dass Einzelnummern und teilweise ganze Akte aus Gluck-Opern in dieser Zeit immer wieder auf Konzertprogrammen standen, bevor erneut vollständige Gluck-Werke auf den Pariser Opernbühnen erschienen. Zudem hob er die Bedeutung der Gluck-Interpreten Pauline Viardot-Garcia sowie François Delsarte für die Rezeption hervor. In seinem Beitrag „,Le Michel-Ange de la musiqueʻ: l’image de Gluck dans les écrits français du XIXe siècle“ sprach Hervé Lacombe (Rennes) einerseits über die spärliche Gluck-Rezeption auf der Bühne und andererseits über die Auseinandersetzung mit dem Komponisten im Opernschrifttum. Trotz der hohen ästhetischen Wertschätzung für Gluck auch im Zuge einer verstärkten Rückbesinnung auf Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau betrachtete man seine Musik als nicht mehr zeitgemäß. William Gibbons (Fort Worth/TX) thematisierte in seinem Beitrag unter dem Titel „Gluck and ,Frenchnessʻ in Fin-de-Siècle Paris“ explizit den Aspekt des Französischen in Glucks Werken für Paris und belegte anhand von (biographischen) Texten, dass man Gluck als einen französischen Komponisten begriff, der die Tradition von Lully und Rameau sowie Quinault und Racine gleichermaßen aufgriff und überwand.

Die ersten drei Referate des dritten Symposiumstages widmeten sich wissenschaftshistorischen Aspekten. Unter dem Titel „Durch Wagner zu Gluck? Institutionelle Fehden und historiographische Modelle der Gluck-Forschung im frühen 20. Jahrhundert“ setzte Arne Stollberg (Basel) die beiden „Reformatoren“ Richard Wagner und Gluck in Beziehung. Dabei verdeutlichte er, dass die Wagnerianer zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gluck nur als Vorgänger Wagners betrachteten, die Gegenseite aber Wagner vielmehr als Nachahmer Glucks sah. Für die Untersuchung der Forschungslandschaft ging Stollberg v. a. auf die Rollen von Max Arend, die 1909 gegründete Gluck-Gesellschaft, Hermann Abert und Guido Adler ein. Hierbei wurde die konfliktbeladene Beziehung zwischen dem enthusiastischen Laien Arend und der akademischen Musikwissenschaft beleuchtet und das Vorhaben, eine Gluck-Ausgabe verteilt auf verschiedene Denkmalreihen herauszubringen, erwähnt. An dieses Referat knüpfte Michael Custodis (Münster) mit seiner materialreichen Untersuchung zu „Tradition, Programmatik, Ideologie: Rudolf Gerber und die Gründung der Gluck-Gesamtausgabe (1939–1953)“ an. Er legte v. a. die aktive Rolle des Hermann Abert-Schülers Rudolf Gerber im „Sonderstab Musik“ bzw. seine Verbindungen insbesondere auch zu Karl Vötterle sowie die wechselseitigen Interessen offen. Die Archivreisen Gerbers ins Ausland und die daran geknüpfte Grundlagenforschung in der NS-Zeit dienten ihm nach Ende des Weltkrieges neben früheren Forschungsergebnissen als Basis für die Konzeption der GGA. Custodis’ Forschungen, die von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur angeregt und unterstützt wurden, legten wesentliche Voraussetzungen der Gluck-Gesamtausgabe offen und sollen in einer eigenen Publikation zeitnah dokumentiert werden.

Fortgeführt wurde der Blick auf die Forschungsgeschichte und die Entwicklung der GGA von Daniela Philippi (Frankfurt a/M.), die über die „Gluck-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg“ referierte. Ihre Übersicht gliederte sie in drei Aspekte: Themenbereiche der Gluckforschung, Motivation und Interpretation von Grundlagenforschung sowie institutionelle Bedingungen. Sie verwies darauf, dass die Grundlagenforschung zu Gluck in den 1950er- und 1960er-Jahren u. a. von Gerber-Schülern fortgeführt wurde. Zugleich konnte sich die GGA als Zentrum der Gluckforschung etablieren. Dörte Schmidt (Berlin) sprach über „Richard Strauss’ Capriccio und die theatrale Gluck-Rezeption“, spitzte ihre Ausführungen aber auf das Gluck-Bild in der Zeit des Nationalsozialismus zu, wofür sie u.a. Musterspielpläne von Strauss, Schlösser und dem Kampfbund um die Mitte der 1930er-Jahre auswertete. Nicht nur in diesen Dokumenten wurde speziell den Reformwerken Glucks eine wichtige Rolle beigemessen.

In ihrem Beitrag „Vom Porträt zum ,Monumentʻ: Aspekte der ,Pariserʻ Bilder des Komponisten Christoph Willibald Gluck“ sprach Helena Langewitz (Bern) über Kunstwerke, die zu Glucks Lebzeiten entstanden. Dabei richtete sie ihren kunsthistorischen Blick v. a. auf das Bildnis von Gluck am Spinett von Joseph-Sifrède Duplessis sowie die Gluck-Büste in Gips von Jean-Antoine Houdon (beide 1775), die im Pariser Salon der Académie Royale de Peinture et de Sculpture präsentiert und wohlwollend besprochen worden waren. Das Abschlussreferat hielt Thomas Betzwieser (Frankfurt a/M.) unter dem Titel „Operngeschichte ,volkstümlichʻ erzählt: Gluck als Romanheld“. Darin wertete er zwei sehr unterschiedliche belletristische Werke aus den 1930er- und 1940er-Jahren, Hans Gäfgens „Kampf um Iphigenie“ und Kurt Hildebrand Matzaks „Gluck erobert Paris“, aus.

„Das Symposium exploriert bewusst neue Themenfelder, die nicht zuletzt durch einen selbstreflexiven Umgang mit der musikhistoriographischen Tradition der künftigen Gluck-Forschung Impulse liefern soll.“ Diesem auf dem Flyer der Veranstaltung formuliertem Wunsch sind die Veranstalter ein gutes Stück näher gekommen. Denn neben dem breitem Spektrum an Vorträgen, die einen Zeitraum vom 18. bis in das 20. Jahrhundert abdeckten und sich geographisch weit fächerten (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Russland, Schweden), gab es einen regen Austausch und inspirierte Diskussionen. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist vorgesehen