Aneignungsformen populärer Musik (26. Arbeitstagung der GfPM)

Braunschweig, 20.-22.11.2015

Von Melanie Schiller, Groningen – 19.12.2015 | Vom 20. Bis 22. November 2015 fand unter dem Thema „ Aneignungsformen populärer Musik“ die 26. Arbeitstagung der Gesellschaft für Popularmusikforschung e.V. (ehem. ASPM) in Braunschweig statt. Gefördert u.a. durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, den Braunschweiger Hochschulbund und die Deutsche Forschungsgesellschaft, hatte das Institut für Musik und ihrer Vermittlung der TU Carolo Wilhelmina zu Braunschweig eingeladen, die komplexen gegenseitigen Wechselwirkungen von Musik Machern, Zuhörern, Produzenten, Fans und natürlich der Musik selbst als Formen der Aneignung zu diskutieren. Ob es darum geht ein Instrument zu erlernen, ein Lied nachzuspielen, Musik zu hören, über Musik nachzudenken, zu schreiben oder sie wissenschaftlich analysieren zu wollen: die Bedeutung von Musik ändert sich in jeder Form der Aneignung – nämlich dem Prozess in dem Musik in den persönlichen Kontext der eigenen Welt übersetzt wird. Aber auch aus Sicht der Musikpädagogik stellt sich die Frage von musikalischen Aneignungsformen: Außerunterrichtliche Aneignungspraxen der populären Musik, das sogenannte informelle Lernen, gewinnen zunehmend an Relevanz, sowohl im Musikunterricht als auch außerhalb der traditionellen Lernumgebungen wie durch Tutorien im Internet.

Insgesamt kamen knapp 30 ReferentInnen und insgesamt rund 70 nationale und internationale TeilnehmerInnen der Einladung nach, diese Fragen aus allen für die Popularmusikforschung relevanten Disziplinen (wie der Musikwissenschaft, und -pädagogik, Kultur, Medien und Kommunikationswissenschaften, Gender Studies, postkoloniale Theorien, Netzwerktheorien, der Soziologie, etc.) zu diskutieren. Nach der Begrüßung durch den Dekan der Geistes- und Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der TU Braunschweig, Prof. Dr. Martin Neef, Prof. Dr. Thomas Phleps als Vorstand der GfPM und Prof. Dr. Bernhard Weber im Namen des einladenden Instituts, wurde am Eröffnungstag der Themenschwerpunkt auf Fragestellungen der Aneignung von Populärer Musik in formellen und informellen Kontexten gelegt. Mit Vorträgen von Bernhard Weber, Stefan Orgass und Sidsel Karlsen aus dem Norwegischen Elverum als erster Keynote-Sprecherin wurden verschiedene Dimensionen und Begrifflichkeiten aus  Musikpädagogischer Sicht besprochen, und nach einem polemischen Beitrag von Barbara Hornberger über den Zusammenhang von Castingshows und Popvermittlung auch lebhaft diskutiert. Horberger verglich die konstruierten „Regelwerke“ von Fernseh-Casting-Shows mit Bezug auf Eggo Müller und Erwing Goffmans Konzept der „Rahmungen“ (framings) mit Bildungserfahrungen der - oft, aber nicht ausschließlich - jungen Zuschauerschaft: Der inszenierte Wettbewerb werde, laut Hornberger, als Anlass und Motor der Darstellungsprozesse von Leitung und Scheitern (sowie dem Lernen von Kritik) strukturiert, und somit könne man Shows wie Deutschland sucht den Superstar oder The Voice of Germany in gewisser Weise auch als „Pop-Lernprozesse“ verstehen. Im Anschluss schlug die Berliner Doktorandin LJ Müller mit einem mutigen Beitrag über die normative Konstruktion von gender performances in popmusikalischen Stimmeninszenierungen am Abend die Brücke zu den Schwerpunktthemen des zweiten Tagungstages, der sich mehr auf kulturelle Aneignungsformen konzentrierte.

Nils Kirschlager, Stefanie Jäger und Christof Jacke eröffneten den Samstag mit einem lebhaften Vortrag über (inter-)kulturelle Aneignungen von Countrymusik, Line-Dancing und Wildwest-Klischees als „amerikanisch“ in Deutschland. Diese „explorative Beobachtung“ zeigte einmal mehr, wie reich die Vielfalt der noch zu erforschenden popmusikalischen Phänomene und wie vielschichtig inter-nationale Aneignungsprozesse im konkreten lokalen Kontext sind. Auch der Beitrag von Michael Rappe und Christine Stöger zu Bildungsprozessen im Breaking zeigte, wie globale Musikströmungen wie Hip Hop und Performance-Praktiken sich in „Aushandlungsprozessen“ lokal äußern – und als Partizipationskultur potenziell spannende Einsichten für didaktische Ansatzpunkte bieten können. Parallel dazu fand eine Diskussionsrunde zu Aneignungen populärer Musik in lokalen Netzwerken statt, in der der Themenschwerpunkt auf den lokalen Musikszenen von Braunschweig (Live-Musik Locations und lokale Hip Hop sowie Blues Szenen in der Region) lag. Auch Dietmar Elflein, im Übrigen Hauptverantwortliche für die Tagungsorganisation, ging der Frage von inter-kulturellen Aneignungsprozessen nach, insbesondere der Darstellung von Afro-Amerikanischer Musik wie Doo Wop, Jazz und Soul im deutschen Diskurs. Neben der Keynote von Martin Cloonan aus Glasgow, in der er sein Forschungsprojekt zur Musician’s Union vorstelle und diskutierte, wie sich die Position von „Musikern als Arbeitern“ im Laufe von 122 Jahren Gewerkschaftsgeschichte wandelte – nicht zuletzt mit Blick auf die technische Entwicklung von Aufnahmegeräten, Schallplatten und DJs als Alternativen zur traditionellen live Musik – war Technologie eine weitere Perspektive, die in mehreren Vorträgen hervorgehoben wurde. Zunächst in Erhard Schüttelpelz‘ zweiter Keynote des Tages, in der er durch den Verweis auf die Akteur-Netzwerk-Theorie betonte, dass populäre Musik  –nicht nur aus Sicht der Medienwissenschaft – nicht ohne die entsprechenden technologischen Akteure wie das Produktionsstudio oder digitales Equipment bei Live-Auftritten als mediale Vermittlungsschritte, als sogenannte „Übersetzungsketten“ zwischen Personen, Artefakten und Zeichen, verstanden werden könne. Auch der Doktorand Daniel Scholz aus München zeigte in seinem Vortrag „Produktionsspezifischer Wandel im Sound von Popmusik“  eindrucksvoll und anschaulich, wie der Sound von populärer Musik sich durch unterschiedliche Produktions- und Mischweisen im Studio entwickelt hat und mit digitalen Methoden analysiert werden kann; hiermit schien Scholz sich einer Antwort auf die im Call for Papers  aufgeworfene  Frage „Wie kommt die Musikproduktion den Aneignungsprozessen den angestrebten Rezipienten entgegen?“ anzunähern.

Am abschließenden Sonntag wurde, neben einzelnen weiteren themenbezogenen Beiträgen über Musikproduktion (Georg Fischer), der Aneignung (und Enteignung) slowenischer Partisanenlieder (Alenka Barber-Kersovan) und musikalischen Aneignungsprozessen in deutsch-brasilianischen Bands (Andre Rottgeri), in dem mehrstündigen Panel „Verstehen als Aneignung“ mit Ralf van Appen, Nikolaus Urbanek, Georg Mohr und Dietrich Helms das Tagungsthema lebhaft diskutiert. Die Vielfalt der methodischen und thematischen Perspektiven auf Fragen der „Aneignungsformen populärer Musik“ zeigte, wie breit aufgestellt – und ein Stück weit institutionalisiert – die Popmusikforschung in Deutschland inzwischen ist. Diese an sich natürlich überaus erfreuliche Entwicklung stellt allerdings auch eine strukturelle Herausforderung für die stetig wachsende GfPM e.V. dar, und so stellte sich im Laufe der Tagung die Frage, wie Deutschlands größte Gesellschaft für Popularmusikforschung sich in Zukunft aufstellen möchte und wie man auch weiterhin den wissenschaftlichen Nachwuchs in „formellen und informellen“ Kontexten erfolgreich fördern kann. Diesbezüglich wurden einige interessante Formate vorgeschlagen, die möglicherweise auf der nächsten Tagung, die im November 2016 in Hamburg unter dem Motto „Höher, Schneller, lauter – Virtuosität in (populären) Musiken“ stattfinden wird, ausprobiert werden könnten.