Gender, Lexikographie und Musikgeschichtsschreibung

Hamburg, 26.-29.05.2016

Von Beatrix Borchard und Elisabeth Treydte, Hamburg – 09.08.2016 | Vom 26. bis 29. Mai 2016 fand an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (HfMT) eine internationale Tagung zum Thema „Gender, Lexikographie und Musikgeschichtsschreibung“ statt, zu der Wissenschaftler_innen und Musiker_innen aus vielen europäischen Ländern und den USA zusammenfanden. Ziel war es, die Vernetzung der musikbezogenen Genderforschung, den Aufbau eines Kooperationsnetzwerks sowie die Internationalisierung der Plattform MUGI (= Musikvermittlung und Genderforschung im Internet) weiterzuentwickeln. MUGI besteht aus drei Teilen: einem Online-Lexikon, multimedialen Präsentationen zu verschiedenen Sachthemen und Personen sowie einer Materialsammlung. Die Plattform wird seit 2003 an der HfMT Hamburg unter der Leitung von Beatrix Borchard aufgebaut, das Lexikon enthält mittlerweile über 470 Personeneinträge. Seit 2015 ist Nina Noeske Mitherausgeberin. Die Tagung wurde im Rahmen des Programms „Chancengleichheit / Genderforschung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. 

Nach der Begrüßungsansprache des Präsidenten der HfMT, Elmar Lampson, der den notwendigen Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft ins Zentrum seiner Überlegungen stellte, und einer Würdigung der guten Vernetzung von Gleichstellungsarbeit und genderbezogener musikwissenschaftlicher Forschung durch Ministerialrätin Christina Hadulla-Kuhlmann vom BMBF führten Beatrix Borchard und Nina Noeske unter dem Titel „Vergangenheit / Gegenwart / Visionen“ in das Grundkonzept der MUGI-Plattform, seine Veränderung im Laufe der Jahre und die geplante Weiterentwicklung ein. Künftig werden lexikalische Artikel, die sich mit männlichen Musikern und ihrer Arbeit unter Gendergesichtspunkten auseinandersetzen, ausgebaut. Dann soll der längst geplante Sachteil in Angriff genommen und schließlich der Bereich der Popularmusik als notwendige Ergänzung aufgebaut werden.

Zwei Vorträge folgten: Annegret Fauser (Chapel Hill/USA) sprach über „Musikgeschichtsschreibung, Lexikographie und Gender im internationalen Vergleich“ mit Fokus auf die stark intersektional orientierten Genderforschungsarbeiten der US-amerikanischen Musikwissenschaft. Thomas Seedorf (Karlsruhe) berichtete über seine Erfahrungen mit „Lexikographie und Gender aus der Sicht der Interpretations- und Aufführungsgeschichtsforschung“ und dem Paradigmenwechsel in der Musikgeschichtsschreibung.

Das Konzept der Tagung war es, auf eine Reihung von weiteren Vorträgen mit anschließender Diskussion zu verzichten. Stattdessen gab es vier kurze Impulsreferate und für die Diskussion je zwei moderierte „Ateliers“ zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen, die sich als zentral für die Arbeit an und mit MUGI im Laufe der Jahre herauskristallisiert hatten:

Impuls 1: „Lexicography after Pandora: Writing Women into the Histories of Western Classical Music“ (Sophie Fuller, London)

Impuls 2: „Werk und Nicht-Werk: Begrifflichkeit und Nutzbarkeit” (Annegret Huber Wien)

Atelier 1: „Lexikographie“ (Moderation: Anke Charton, Wien)

Atelier 2 „Werk und Nicht-Werk in den neuen Medien“ (Moderation: Barbara Eichner, Oxford)

Impuls 3: „‘Musik als kulturelles Handeln‘ aus ethnologischer Perspektive“ (Britta Sweers, Bern)

Impuls 4: „Musik in den Anden – eine Männersache?“ (Julio Mendivíl, Frankfurt a. M.)

Atelier 3: „Musik als kulturelles Handeln“ (Moderation: Cornelia Bartsch, Basel)

Atelier 4: „Genderkonstruktion in der musikethnologischen Forschung“ (Moderation: Florian Heesch, Siegen)

Dieses Konzept ging hervorragend auf, zumal die ebenfalls in dem jeweiligen fachlichen Schwerpunkt ausgewiesenen Diskussionsleiter_innen nicht identisch waren mit den Impulsgeber_innen. Auch die Diskutant_innen waren gezielt eingeladen worden. Zu ihnen gehörten u.a.: Bianca Antolini (Rom), Elizabeth Dobson (Huddersfield), Teresa M. Gialdroni (Rom), Kordula Knaus (Bayreuth), Anna Korotkina (Minsk), Dorothea Redepenning (Heidelberg), Eva Rieger (Vaduz), Stefan Segi (Prag), Nicole Strohmann (Hannover), Ferenc Szabó (Budapest), Claudia Maurer Zenck (Hamburg).

Im Abendprogramm stellte Beatrix Borchard in einem künstlerisch-wissenschaftlichen Salon mit musikalischen Beiträgen und Textlesungen von Studierenden auf der Basis ihrer jüngst erschienenen Biographie die Lebens- und Klangwelt der Sängerin, Komponistin, Sammlerin, Herausgeberin, Bearbeiterin und Musikvermittlerin Pauline Viardot-Garcia (1821-1910) vor.

Am Tag zuvor hatten sich bereits verschiedene internationale Projekte zum Thema Musik und Gender präsentiert:

Präsentation 1: „Die Archive ,Komponistinnen in Luxemburg´ im ,Cid-Fraen an Gender´ und ihre begleitenden Musikprojekte“ (Danielle Roster, Luxemburg)

Präsentation 2: „Das ,Archiv Frau und Musik´ in Frankfurt am Main: Services und Projekte, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung“ (Mary Ellen Kitchens, München)

Präsentation 3: „Zeitgenössische Partituren und ihre Archivierung: Zur aktuellen Situation in Serbien“ (Snezana Nesic, Hannover)

Präsentation 4: „Rethinking Genre“ (Susan Wollenberg, Oxford)

Präsentation 5: “The contemporary state of research on women´s musical culture in Poland” (Magdalena Dziadek, Warsaw)

In die Tagung war – unter der Leitung von Elisabeth Treydte – ein Nachwuchsforum eingebettet, das sich dem Schwerpunkt Popmusik widmete. Anliegen war und ist es, die bisherige Plattform um den Komplex Popmusik zu erweitern.

Neben einem Vortrag von Sonja Eismann (Journalistin, Missy Magazine) wurden Forschungsarbeiten von Promovierenden präsentiert, die sich mit Fragen der Geschlechterkonstruktionen im Feld populärer Musik beschäftigen. So sprach Nadine Sanitter (Rostock) über die Repräsentation von Männlichkeit im Musikgenre Indie und Sarah Schauberger (Detmold/Paderborn) beleuchtete die dominierende Darstellung männlicher „Guitar Heroes“ an der E-Gitarre. Stefan Körner (Hannover) untersuchte in einer genauen Analyse die Kanonisierungsprozesse der heteronormativ und männlich dominierten Jazzgeschichtsschreibung. Im Anschluss folgte der Vortrag von LJ Müller (Berlin) über Begehrenskonstruktionen im Klang von Popsongs, bevor Laura P. Fleischer (Siegen) die fiktiven hegemonialen Männlichkeiten in den Performanzen des franko-kanadischen Country in den Blick nahm.

Darüber hinaus diskutierte ein Round Table mit Archivvertreterinnen und Wissenschaftler_innen aus der Schweiz und aus Deutschland die Frage, welche lexikographischen Grundstrukturen notwendig sind, um sowohl lokal als auch international verortete Popmusiken unter den Maximen von Geschlechtersensibilität und allen Facetten von Diversity in einem emanzipativen Sinne darstellen zu können. Im Rahmen der darauf folgenden interdisziplinären Gesprächsrunden und Werkstätten des Forums konnten erste Weichen für die neuen Bereiche von MUGI gestellt werden: Geplant sind die Schaffung von personen(gruppen)bezogenen Lexikonartikeln, multimedialen Präsentationen u.a. zu Bands, Festivals, Konzepten oder Performances sowie einem Sachteil aus musikwissenschaftlicher und gendertheoretischer Perspektive.

Zum Abschluss der Gesamttagung wurden die Ergebnisse der Arbeitsgruppen wie auch des Nachwuchsforums vorgestellt und Kooperationsmöglichkeiten diskutiert. Vernetzung tut Not, und zwar auf allen Ebenen; das war das Fazit nicht nur der beiden Tagungsleiterinnen in einer abschließenden Betrachtung. Die Tagung wird bis Ende 2016 auf der MUGI-Plattform multimedial dokumentiert werden: http://mugi.hfmt-hamburg.de/