Integrative Approaches to Contemporary Cross-Cultural Music Making: Turkey, Italy, Germany

Rom (Musikgeschichtliche Abteilung des Deutschen Historischen Instituts), 18.-19.03.2016

Von Janina Klassen, Freiburg im Breisgau – 13.04.2016 | Es zieht in den Ohren. Man ist versucht, sich die Töne „zurecht“ zu hören. Doch sind die Interferenzen zwischen den einzelnen Instrumenten, den unterschiedlichen Stimmungssystemen und der Vielfalt von mikrointervallischen Tonproduktionen Teil der Komposition. Onur Türkmens Werk Hat for Kemençe and Strings (2013) war das letzte Stück in einem großartigen Konzert, mit dem die internationale und interdisziplinäre Veranstaltung beschlossen wurde, die das Orient-Institut Istanbul und die Musikgeschichtliche Abteilung des Deutschen Historischen Instituts Rom in Zusammenarbeit mit der Istanbul Berlin Art Bridge (Bahçeşehir University, BAU) veranstaltete. Ziel der inhaltlich sehr reichen und anregenden Tagung war es, wissenschaftliche Reflexion, musikalische Praxis sowie theoretisches und künstlerisches Wissen gewinnbringend in Beziehung zu setzen. So boten theoretische Vorträge und Statements, Workshop Talks, Lecture Concert und Konzert höchst anschauliche multiperspektivische Zugänge. Kunst war dabei nicht Beiprogramm, sondern Teil des Erkenntniszugangs. Dieses in musikwissenschaftlichen Tagungen ungewöhnliche, von Martin Greve (Orient-Institut Istanbul), Sabine Ehrmann-Herfort (Deutsches Historisches Institut Rom, Musikgeschichtliche Abteilung) und Markus Engelhardt (Leiter der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts Rom) vorbildlich entwickelte Konzept ist vollkommen aufgegangen, sowohl im Hinblick auf die offene Diskussion, als auch im Hinblick auf die mit einem cross-culture-Ansatz verbundenen Probleme. Der Diskurs über ein cross-cultural music making wurde im Dialog mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Komponierenden und Musizierenden sowie den zu hörenden Stücken geführt. Nicht zuletzt zeigte die lebhafte Beteiligung an der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Ernst von Siemens Musikstiftung, der Istanbul Berlin Art Bridge (Bahçeşehir University, BAU) und der Max Weber Stiftung geförderten Tagung modellhaft, wie Musikwissenschaft, Musiktheorie und Kunstschaffende in einem Ansatz von „Artistic Research“ kooperativ funktionieren und sich ergänzen können.

Der erste Teil der in Englisch geführten Tagung galt der „Ethnology of Contemporary Intercultural Music“ (Moderation: Michael Ellison, Bristol/Istanbul). Anschaulich demonstrierte Jin-Ah Kim (Seoul) in ihrem Beitrag „Cross-Cultural Music Making“, wie vielfältig vor dem Hintergrund allgemeiner Globalisierungstheorien die unterschiedlichen Diskurse und Bewertungen von „cross-cultural“, „intercultural“, „transcultural“,„ethnic music“ und „cultural hybridity“ verstanden und gebraucht werden. Ihr Einsatz bedarf jeweils einer (sehr) kritischen Hinterfragung, nicht zuletzt deshalb, weil damit mehr oder weniger explizite Bewertungen sowie Ein- und Ausschlusskriterien verbunden sind. So tauchen auch in den Diskussionen immer wieder die Fragen auf, wer zu „wir“ gehört und wer die „anderen“ sein sollen. Um dieser Gefahr zu entgehen, wurde vorgeschlagen, nach dem Vorbild von „Cultural Networking“ von einer „cultural and musical diversity“ auszugehen und Musikmachen als Teil von „social practices of knowledge“ zu betrachten. Damit fasert sich der Diskurs allerdings in eine Vielheit individueller Musikpraktiken auf.

Dieses Bild boten auch die Statements von Komponierenden. Unter dem Aspekt „Tradition and Avant-Garde“ stellten Dieter Mack (Lübeck; sein Paper wurde verlesen), Oliver Schneller (Berlin/Rochester NY), Younghi Pagh-Paan (Bremen) und Christian Utz (Graz) eigene und Werke anderer vor, in denen Material aus unterschiedlichen Kulturen eine Rolle spielt. Alle Beteiligten komponieren mit Tönen, Tonsystemen, Sprachen und Instrumenten verschiedener Herkunft. Es wurde überwiegend die Ansicht vertreten, Musik sei bereits interkulturell. Die Vorstellung einer musikalischen „purity“ (Stilreinheit) sei dagegen ein Erbe rassistischen Denkens. Bei allen Statements wurde sofort Widerstand gegen „Exotismen“ formuliert beziehungsweise als Tabu vorausgesetzt. Vielmehr gehe es bei der Auseinandersetzung darum, sich mit dem Habitus und der „Aura“ (Mack) von Instrumenten, den Kontexten und dem Gebrauch von Tonsystemen intensiv auseinanderzusetzen und nicht-hegemoniale antihierarchische (Utz) Strukturen herzustellen. Dabei hob Schneller auch die Bedeutung von Lehrenden und Musizierenden hervor, die mit Musiken und Instrumenten anderer Traditionen umgehen und sie auf diese Weise vertraut machen. Darauf wies auch Pagh-Paan hin. Sie schlug vor, Spezialistinnen und Spezialisten für bestimmte Instrumente (wie die koreanische Daegeum, die in ihrem Stück Warte nur von 2007 eingesetzt ist) anzufordern und den Kulturaustausch in alle Richtungen zu führen. So sollten nicht nur Kulturorchester (wie die Berliner oder Wiener Philharmoniker*innen) mit europäischer artifizieller Musik zu weltweiten Tourneen aufbrechen, sondern auch Orchester, Solistinnen und Solisten mit Instrumenten aus anderen Musiktraditionen in gleicher Weise in europäische Konzertzentren eingeladen werden.

Die Relevanz derartiger Forderungen zeigte sich sogleich im sich anschließenden, sehr anschaulichen „Workshop talk“ mit dem Titel „Performing Tradition and Avant-Garde in Turkey“, einem von Martin Greve moderierten Lecture Rehearsal mit dem international besetzen Hezarfen Ensemble. Die öffentliche von Michael Ellison geleitete Probe mit unterschiedlichen Instrumenten – Streichquartett, Kemençe, Flöte, Klarinette, Horn, Schlagzeug, Kanun und Klavier – löste lebhafte Nachfragen aus. Manchen (auch mir) waren die Kastenzither Kanun und die Kastenhalslaute Kemençe ebenso unbekannt wie die beiden herausragenden Solistinnen, Esra Berkman (Kanun) und Nermin Kaygusuz (Kemençe). Die engagierten Diskussionen mit den Ausführenden und Komponierenden drehten sich nicht nur um Fragen nach Intonation und Spielweisen, etwa in der Kombination von Kemençe mit Streichern und Bläsern, die Tonfärbungen von nur wenigen Centgraden ausführten. Vielmehr brachen immer wieder grundsätzliche Überlegungen auf, wie die nach notierter und nicht notierter Musik. Immer wieder zeigte sich, dass musikwissenschaftliche Form- und Gattungskategorien westlicher Prägung bei dem, was zu hören war, nicht richtig griffen.

Beim „Lecture Concert“ stand die Langhalslaute Bağlama im Mittelpunkt. Unter dem Titel „New Music for a Traditional Turkish Instrument“ führten die drei Virtuosen Taner Akyol (Berlin), Kemal Dinç (Köln/Rotterdam) und Erdem Şimşek (Istanbul) solistisch und gemeinsam eine Vielfalt von Spiel- und Klangmöglichkeiten des Instruments beziehungsweise ihrer Instrumente vor. Habituelle Spielweisen und Spielfiguren, Einflüsse von Jazz- und „klassischer“ Gitarre, Improvisation und Komposition – alles Ordnungskriterien westlicher Musikwissenschaft und -theorie – sind dabei kaum sinnvoll voneinander zu trennen.

Im zweiten Teil der Tagung (Moderation: Markus Engelhardt, Rom) wurde der Aspekt von „Cross-Cultural Experience and Music Artwork“ vertieft. Marc Andre (Berlin) verbrachte im Rahmen des Siemens Arts Program „into ...“ fünf Wochen in Istanbul und sprach über seine künstlerische Auseinandersetzung mit der Stadt. Ein Weg, den er beschritt, bestand darin, „Echografien“ (akustische Fotografien) von spezifischen mit religiösen Praktiken verbundenen Gebäuden, wie der Blauen Moschee, dem Chora Museum, der Hagia Irene oder der Nove Shalom Synagoge, und von Menschen in bestimmten Situationen aufzunehmen. Als fundamentale Herausforderung formulierte er in zwölf Punkten grundlegende Gedanken wie die Suche, Selbsttäuschung und den Selbstschutz im Umgang mit der „Aura und Magie“ des Ortes, die Gefahren mimetischer Aneignung beziehungsweise Leugnung, das Einverleiben von Situationen, Klängen und Strukturen sowie der Entfaltung einer transzendentalen Präsenz. Daraus hervorgegangen ist das Stück üg für Orchester und Live-Elektronik. Der Titel steht für „(ü)ber(g)ang“ (Andre). 

Derartige Überlegungen betreffen – mehr oder weniger – auch die Komponierenden und Musizierenden des zweiten Panels, die unter dem Titel „Native Country and Abroad: Personal Experiences and Intercultural Relations as Resources of Music Composition, Interpretation, and Didactics“ ihre jeweiligen Erfahrungen zusammenfassen. So betonte Akyol, wie unterschiedliche Kontexte sein Bağlamaspiel beeinflussten. Sven-Ingo Koch (Düsseldorf) und Stefan Pohlit (Istanbul) gaben Einblicke in ihre Annäherungen an Komposition durch die Erfahrung mit anderen Musiken, während Charlotte Seither (Berlin) sehr konzis demonstrierte, wie sie Sprache zuerst musikalisch, dann semantisch aufnehme und komponiere. Uğraş Durmuş (Istanbul) präsentierte drei stilistisch recht unterschiedliche „interkulturelle“ Beispiele seines Komponierens. Yuval Avital (Mailand) ging diesbezüglich am weitesten, indem er die Komponistenperson hinterfragte und am Ende der Tagung alle Kolleginnen und Kollegen dazu aufforderte, ein gemeinsames Werk zu komponieren.

Bevor der letzte Abschnitt begann, brach die politische Realität in die auf dem beschützten Gelände des Deutschen Historischen Instituts so glücklich verlaufene Tagung ein: die Nachricht vom Terroranschlag in Istanbul, am Vormittag des 19. März, nahe dem Sitz des mitveranstaltenden Orient-Instituts. Im Schlussteil gaben unter dem Thema „Cross-Cultural Music as Political and Artistic Challenge: Politics, Institution, and Music Creativity in Intercultural Contexts“ (Moderation: Jin-Ah Kim, Seoul) mit dem Komponisten Luca Lombardi (Rom/Tel Aviv), dem bildenden Künstler Jochen Proehl (Istanbul/Berlin), Direktor der Istanbul Berlin Art Bridge, Bahçeşehir University (BAU),und Joachim Blüher, dem Direktor der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo, Persönlichkeiten, die auf reiche Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen zurückblicken konnten, engagierte Statements. Trotz Differenzen im Detail war man sich darüber einig, dass ein Kulturaustausch modernen Zuschnitts sowohl aus ästhetischen als auch aus politischen Erwägungen heraus vor dem Hintergrund der Globalisierung wichtiger sei denn je, nicht zuletzt unter dem Eindruck der aktuellen politischen Ereignisse. Dem stimmten auch die Teilnehmenden der Schlussdiskussion emphatisch zu. Eine baldige Fortsetzung derartiger Veranstaltungen wurde dringlich gewünscht.

Beim Schlusskonzert in der Deutschen Schule in Rom war ich womöglich nicht die einzige, die (mit Ausnahme der Komponistin Zeynep Gedizlioğlu) von keinem der Komponierenden bislang etwas gehört hatte. Unter dem Titel „Contemporary Music for German, Turkish, and Italian Composers including Turkish Instruments“ präsentierte das Hezarfen Ensemble unter der Leitung von Ulrich Mertin und Michael Ellison zusammen mit dem anfangs erwähnten Stück Hat von Onur Türkmen vier italienische Erstaufführungen (Tolga Yayalar: di luce e ombra für Flöte, Bassklarinette, Klavier und Streichquartett, 2005; Stefan Pohlit: De-sero für Streichquartett, 2006; Zeynep Gedizlioğlu: Susma für Streichquartett in memoriam Hrant Dink, 2007), zwei Uraufführungen (Uğraş Durmuş: At the Golden Horn Nr. 8, für Kanun und Klavier, und Evrim Demirel: Seikilos Epitaph für Kanun, Kemençe, Flöte, Klarinette, Horn, Violine, Violoncello, Klavier und Schlagzeug. Francesco Filideis finito ogni gesto für Flöte, Klarinette, Horn, Schlagzeug, Violine und Violoncello von 2010 war wenigstens in Italien schon einmal zu hören gewesen.