Edvard Grieg, sein Umfeld, seine Nachfolge – Neue Forschungen

Leipzig, 14.-15.10.2016

Von Patrick Dinslage, Leipzig – 22.10.2016 | Das Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig hatte in Zusammenarbeit mit der Grieg-Begegnungsstätte Leipzig für den 14. und 15. Oktober 2016 zu einer Internationalen Musikwissenschaftlichen Konferenz zum Thema Edvard Grieg, sein Umfeld, seine Nachfolge – Neue Forschungen eingeladen. 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht europäischen Ländern waren der Einladung gefolgt und präsentierten im Hörsaal des Instituts ihre neuen Arbeitsergebnisse. Neben sechs skandinavischen Experten – vier aus Norwegen und zwei aus Schweden – waren sechs deutsche Kolleginnen und Kollegen zugegen. Dank der intensiven Kontakte des einladenden Gastgebers, Prof. Dr. Helmut Loos (Leiter des Instituts für Musikwissenschaft), zu Universitäten in Osteuropa, beteiligten sich zum ersten Mal Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Osteuropa zahlreich an einem Grieg-Kongress und machten ein gutes Drittel aller Referentinnen und Referenten aus; neben drei polnischen konnten auch zwei ukrainische Gäste und eine slowakische Forscherin begrüßt werden.

Die Konferenz stand in der vor 20 Jahren mit dem Ersten Deutschen Edvard-Grieg-Kongreß gegründeten Tradition von in Deutschland veranstalteten Forschungssymposien zu Leben und Werk des norwegischen Komponisten Edvard Grieg. In Leipzig wurde jetzt zum siebten Mal ein solcher Kongress anberaumt. Ein weiteres Motiv für die Planung und Organisation dieses Grieg-Kongresses war die Verlegung der Edvard-Grieg-Forschungsstelle von der Universität der Künste Berlin an das Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig im Februar 2016.

In seiner Begrüßung der Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer hob der Organisator und Gastgeber, Prof. Dr. Helmut Loos, besonders hervor, dass Edvard Grieg in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert neben Mendelssohn, Schumann, Brahms und Tschaikowski ein namhafter Repräsentant der Leipziger Musikgeschichte war. Die Außenwirkung der Konferenz solle die Bedeutung Griegs für Leipzig wieder stärker in den Blick der Fachwelt rücken. Es sei ihm wichtig, Grieg realistisch zu betrachten und nicht zu glorifizieren. So biete die Konferenz auch die Chance, Griegs Musik in verschiedene kulturpolitische Zusammenhänge einzubetten. Loos selbst befasste sich in seinem Vortrag unter dem Titel Edvard Grieg und die Leipziger Moderne unter anderem mit der Beobachtung einer ähnlichen sozialen, kulturellen und intellektuellen Struktur der aufgeklärten Universitätsstadt Leipzig mit Griegs Heimatstadt Bergen und führte Griegs ganzes Leben lang währendes Verhältnis zu Leipzig auch auf diese Umstände zurück. Ganz vehement wehrte Loos sich gegen die Glorifizierung von Komponisten im Allgemeinen und hier im Besonderen von Edvard Grieg, in dessen Haltung er „eine humane Alternative“ zu dieser kunstreligiösen Attitüde sah.

Es würde zu weit führen, hier jeden der 19 Vorträge zu erwähnen. So sollen nur einige zugegebenermaßen subjektiv ausgewählte Beiträge kurz betrachtet werden. Der zum „Leipziger Urgestein“ (so Helmut Loos) zählende Grieg-Forscher Dr. Joachim Reisaus, langjähriges Mitglied im Vorstand des Vereins Grieg-Begegnungsstätte Leipzig, überschrieb sein Referat: Die öffentliche Abschlussprüfung 1862 am Leipziger Konservatorium. Er konnte darin sehr anschaulich die Bedeutung Griegs im Kreise seiner Mitstudenten und den Stellenwert seiner Mitwirkung in einer Prüfung im, dem Konservatorium benachbarten, Gewandhaus darstellen und belegte die verschiedenen Konzertbeiträge mit Auszügen aus den Rezensionen der Leipziger Musik-Zeitungen.

Der langjährige Chefbibliothekar an der norwegischen Nationalbibliothek mit der ihr angegliederten Abteilung Norwegische Musiksammlung, Øyvind Norheim, widmete sich der Frage, inwieweit die auch auf Deutsch erschienene Publikation des amerikanischen Geigers und Musikkorrespondenten Arthur M. Abell Gespräche mit berühmten Komponisten ernst zu nehmen sei, ob sie Fact or Fiction sei. Im Anschluss an seinen eigenen Vortrag verlas er den Essay seines norwegischen Kollegen Prof. Arvid Vollsnes, der krankheitsbedingt nicht nach Leipzig kommen konnte. Dieser hatte den Titel “The Men of Modern Breakthroughˮ - was Edvard Grieg included? Vollsnes ist emeritierter Professor für Musikwissenschaft an der Universität Oslo und Gastprofessor am Zentrum für Grieg-Forschung der Universität Bergen.

Mehrere Beiträge hatten werkanalytischen Charakter. Die ursprünglich tschechische Musikforscherin Prof. Dr. Marketa Stefkova, die jetzt seit einigen Jahren an der Musikakademie der slowakischen Hauptstadt Bratislava im Fach Musiktheorie arbeitet, befasste sich mit Griegs Einfluss auf die Entwicklung des Impressionismus in Mittelosteuropa. Ähnliche Perspektiven nahmen die Untersuchungen des polnischen Kollegen Dr. Wojciech Stepien von der Szymanowski-Musikakademie Katowice ein. Er sprach über Szymanowski’s and Paderewski’s Songs in the Light of Grieg’s Works.

In sehr feinsinniger Weise vermochte die über zehn Jahre an der Würzburger Musikhochschule arbeitende und jetzt seit einem Jahr an der Universität der Künste Berlin tätige Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Ariane Jeßulat die erstaunliche Tatsache in Griegs Musik darzustellen, dass Grieg auch als spätromantischer Komponist in seinen Werken ganze Formteile ohne einen einzigen chromatischen Ton komponiert. Unter der Überschrift Diatonik zwischen Chromatik und Modalität. Griegs Harmonik aus der Perspektive der Wagner-Forschung machte sie ihre Untersuchungen an dem auf Carl Dahlhaus zurückgehenden Begriff von einer zweiten Diatonik fest.

Eine andere Gruppe von Vorträgen wandte sich rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen zu. Die an der Nationalen Musikakademie Lemberg arbeitende Kollegin Prof. Dr. Luba Kijanowska sprach in sympathisch ansprechender Weise auf Deutsch (!) über Die Rezeption des Schaffens von E. Grieg in der Ukraine. Geradezu amüsant war der Vortrag des Wiener Musikwissenschaftlers Prof. Dr. Hartmut Krones mit dem provokanten Titel „Nie wieder Grieg“. Zur Edvard-Grieg-Rezeption in Wien. Und schließlich betrachtete der an der südschwedischen Linné-Universität in Växjö tätige deutsche Musikwissenschaftler Dr. Martin Knust Die kompositorische schwedische Griegrezeption vor und nach der Auflösung der Union Norwegens mit Schweden, also den Zeitraum um 1905 und zeichnete die unterschiedlichen Reaktionen darauf an vier namhaften schwedischen Komponisten in deren Werken nach.

Zwei Vorträge widmeten sich dem Verhältnis von Grieg und Liszt. Der emeritierte Professor für Orgel an der norwegischen Musikhochschule in Oslo, Musikwissenschaftler und Ehrendoktor der Universität der Künste Berlin, Prof. Dr. Harald Herresthal, hatte seinem Essay ein auf Liszt bezogenes Grieg-Zitat vorangestellt: Edvard Grieg: «Liszt touched the great secret of every talent». Die langjährige Direktorin des Franz-Liszt-Gedenkmuseums in Budapest Maria Eckhardt verglich zwei zentrale Kompositionen von Liszt und Grieg, die beide durch ein an Bach orientiertes Harmoniemodell, die idealtypische Trauertopos-Formel in Gestalt des Bassmodells passus duriusculus, miteinander in Beziehung stehen. Das Verhältnis zwischen Grieg und Sibelius stand im Zentrum der Darstellung von Dr. Jorma Lünenbürger, überschrieben mit dem Titel Inspiration und Distanz. Grieg, Sibelius und die nordischen Künstlerkreise in Leipzig und Berlin. Den Abschluss der Tagung bildete ein deutsch-norwegischer Gemeinschaftsvortrag von Prof. Dr. Michael Custodis von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Dr. Arnulf Mattes vom Zentrum für Grieg-Forschung an der Universität Bergen. Ihre Ausführungen machten den Missbrauch von Griegs Person und Musik durch die Nazis im besetzten Norwegen während des zweiten Weltkriegs auf behutsame, aber doch eindrückliche Weise zu ihrem Thema. Sie versahen ihren englischsprachigen Beitrag mit einem Zitat des ursprünglichen Titels des wohl Bekanntesten von Griegs Lyrischen Stücken Hochzeitstag auf Troldhaugen op. 65 Nr. 6: „Die Gratulanten kommen“. Fighting for Edvard Grieg’s Legacy 1943; mit dieser Gratulation waren die propagandistischen Machenschaften der Nazis in Norwegen zu Griegs 100. Geburtstag gemeint.

Dem Autor dieses Tagungsberichts wurde die Ehre des Eröffnungsvortrags zuteil, in dem es um eine von der Grieg-Forschung bisher allenfalls marginal zur Kenntnis genommene Quelle ging: Edvard Griegs Haushaltsbücher. Diese 16 Notizbücher stellen neben einer Auflistung sämtlicher Ausgaben Griegs sowohl ein Brief- als auch ein Reisetagebuch dar. Manch ein Detail der überkommenen Grieg-Biographik erhält durch die in den Haushaltsbüchern enthaltenen Informationen durchaus eine andere Dimension und Bedeutung.

Der gesellschaftliche Teil des Siebten Deutschen Edvard-Grieg-Kongresses 2016 in Leipzig wurde begangen mit einem Empfang in der Grieg-Begegnungsstätte, die im alten Verlagshaus der Edition Peters ihre Heimat hat. Korrespondierend mit dem Generalthema der Konferenz standen Klavierlieder von Grieg, von Komponisten seiner Zeit – darunter auch eine der frühesten namhaften Komponistinnen Norwegens – und „Nachfolgern“ auf dem musikalischen Programm, das von der Sopranistin Lena Haselmann und der Pianistin Heide Görtz gestaltet und vom Autor dieser Zeilen moderiert wurde.