Bach bearbeitet: vor Bach – Bach und seine Zeit – nach Bach

Tübingen, 01.-03.10.2018

Von Elke Steinhauser und David Waldbaur, Tübingen – 19.03.2019 | Anlässlich des 93. Bachfestes der Neuen Bachgesellschaft in Tübingen fand am Musikwissenschaftlichen Institut der Eberhard Karls Universität ein internationales Symposium statt, das sich der Bearbeitungspraxis vor, während und nach Johann Sebastian Bachs Lebenszeit widmete. Universitätsmusikdirektor Philipp Amelung (Leitung Bachfest) sowie Christina Richter-Ibáñez und Thomas Schipperges (Tübingen) als Tagungskoordinatoren begrüßten dazu Bachforscherinnen und Bachforscher aus dem In- und Ausland. Die Tagung wurde von der DFG gefördert.

Vor Bach: In Uwe Wolfs (Stuttgart) Vortrag „Historische Aufführungspraxis? Bachs Einrichtungen älterer Musik“ stand die Frage im Mittelpunkt, ob Bach in seinen Bearbeitungen älterer Komponisten für die Aufführung in Leipzig bewusst die altertümliche Besetzung mit Zinken und Posaunen wählte oder vielmehr einer allgemeinen Tradition folgte. Vor diesem Hintergrund betrachtete Wolf die örtlich unterschiedliche Palestrina-Rezeption der Zeit sowie die Rolle der Zinken- und Posaunengruppe in Leipzig bei Bachs Vorgängern. Wolf kam zu dem Schluss, dass Bach trotz bereits existierender Praxis anderorts durchaus eine bewusst historisierende Absicht unterstellt werden könne.

Hendrik Schulze (Denton) referierte über „Die Johann Crüger’schen Choralmelodien und ihre Veränderung durch Bach“. Einer kurzen Biographie Crügers sowie Informationen zu dessen Gesangbuchveröffentlichungen folgte die Betrachtung der Adaption, ihrer Veränderungen und Substitutionen bei Bach am Beispiel des Weihnachtsoratoriums BWV 248 sowie der Motette Jesu meine Freude BWV 227. Bach habe demnach bewusst Crügers Melodien verändert und durch solche anderer Komponisten ersetzt, um einen komplexen theologischen Diskurs mittels intertextueller Bezüge zu schaffen. Die anschließende Diskussion beschäftigte sich mit Bachs Rezeption älterer Musik in Weimar, der Frage nach einem Zusammenhang der Zink- und Posaunengruppe mit Festtagen und der Bedeutung des christlichen Glaubens in Bachs Werk.

Bach und seine Zeit: Nach einem Hinweis Christine Blankens (Leipzig) auf Bach digital als hilfreiches Instrument beim Quellenvergleich erläuterte Wilfried Fischer (Mössingen) in seinem Vortrag „Zur Methode der philologischen Rekonstruktion verschollener Solokonzerte Johann Sebastian Bachs“ die These, dieser habe einige seiner Cembalokonzerte ursprünglich als Solokonzerte für Melodieinstrumente geschrieben. Fischer legte seine Rekonstruktionsmethode dar, welche auf Rückschlüssen aus der Bachʼschen Bearbeitungstechnik basiert, und zeigte, wie ein Vergleich mit überlieferten Werken Bachs (BWV 1042 und BWV 1041) die Methode bestätige. Der Anspruch der Rekonstruktion müsse, so Fischer, die Stiltreue noch vor der Notentreue anstreben.

Wolfram Enßlin (Leipzig) beschrieb unter dem Titel „Bach bei Bach. Zur Übernahme und Einrichtung von Sätzen J. S. Bachs in den Pasticci C. P. E. Bachs“, wie Carl Philipp Emanuel in Hamburg eine hohe Anzahl an musikalischen Aufführungen zu realisieren hatte. Da er dabei nicht wie sein Vater auf eigenes Repertoire zurückgreifen konnte, bezog er sich in seinen Pasticci neben anderen Komponisten oftmals auf diesen, ergänzt um eigene Kompositionen. Es folgte eine Betrachtung der von C. P. E. Bach aufgeführten Werke seines Vaters und deren Bearbeitungen für die Aufführungen in Hamburg, mit besonderem Fokus auf die Matthäuspassion BWV 244, welche stark verändert wurde, wobei dem Hamburger Publikum die Autorenschaft unbekannt blieb. Außerdem verwies Enßlin auf ein Konzertprogramm vom 9. April 1786, bei welchem C. P. E. Bach im ersten Teil Werke seines Vaters und Georg Friedrich Händels aufführte.

Mit der These zu Wilfried Fischers Vortrag, das Konzert in d-Moll BWV 1052R sei womöglich ursprünglich für die Orgel komponiert worden, eröffnete Christine Blanken die Diskussion. Debattiert wurden in diesem Zusammenhang die Violinfiguren der Solostimme, der Eindruck, dass in Bach Geiger und Organist zusammenträfen, sowie die Ansicht, Bach habe die Konzerte aus pragmatischen Gründen von vornherein für verschiedene Instrumente konzipiert.

Nach Bach: Der dritte Themenkomplex der Tagung erstreckte sich über drei Blöcke. Ruth Tatlow (Stockholm) stellte in ihrem Vortrag „Bach’s Compositional Unity Reworked By Chopin“ die Parallelen im formalen Aufbau zwischen Bachs Wohltemperiertem Klavier BWV 846–893 und Chopins 24 Préludes op. 28 vor. Das Proportionenverhältnis beider Werke deutete sie als Beispiel dafür, dass Bachs Bewusstsein für Symmetrie und Proportion in der Rezeption des 19. Jahrhunderts durchaus erkannt wurde. Die Nachschöpfung als Form des Studiums begreifend stellte Andreas Flad (Tübingen) in „‚Also glaubte ich den richtigen Weg zu wandeln…‘ Durch ‚Modernisirung‘ zur ‚Bindestrichausgabe‘: Bachs Clavierwerk unter Busonis Händen“ die Chaconne als Gipfel von Ferruccio Busonis Auseinandersetzung mit Bach dar. Die für den Unterricht konzipierte Busoni-Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers führe auf diesen Gipfel hin. Eine schlaglichtartige Betrachtung dieser Ausgabe betonte die Unterrichtszwecke sowie Busonis Quellenbewusstsein. Alexander Odefey (Hamburg) präsentierte in „‚I wanted to shew how gorgeous & brilliant he would have made himself sound if he had our means.ʽ Zu Edward Elgars und Gustav Mahlers Bachrezeption und ihren Bearbeitungen“ die Rolle Bachs für die beiden Komponisten. Biographischen Informationen zu Mahler und Elgar folgte eine Chronik spätromantischer Orchesterbearbeitungen Bachʼscher Werke. Mahlers historisierende Aufführungspraxis und Elgars titelgebender Gedanke, Bach hätte sich wohl der neuesten Klangmöglichkeiten bedient, standen sich dabei gegenüber. In der Diskussion wurde insbesondere Busonis zur selbstständigen Ausführung erziehende Praxis thematisiert. Außerdem wurden Vergleiche zwischen Busonis Bach- und Bachs Vivaldibearbeitungen gezogen. Im sich anschließenden Gesprächskonzert spielte und erklärte Ann-Helena Schlüter (Würzburg/Leipzig) die Kunst der Fuge BWV 1080 (in Auszügen).

Hans-Joachim Hinrichsen (Zürich) gab eine Einführung in die europäische Aufführungsgeschichte und den Stand der Bach-Rezeptionsforschung, in der die Betrachtung von Mitteldeutschland aus gesehen entfernter gelegener geographischer und kultureller Räume noch eine junge Disziplin ist. Vor diesem Hintergrund betraten die Vorträge zu Übersetzungsprozessen im 20. Jahrhundert neues Terrain. Daniella Fugellie (Santiago de Chile) beschäftigte sich in „Bach auf Spanisch erstaufgeführt. Das Weihnachts-Oratorium (1925), die Matthäus-Passion (1934) und die Johannes-Passion (1950) in Chile“ erstmalig mit spanischen Übersetzungen der Werke Bachs. Sie beschrieb die Aufführungen der genannten Werke durch die 1917 gegründete „Sociedad Bach“. Bach wird im Musikleben Chiles als Symbol für individuelle Musik, Geistigkeit und Spiritualität verstanden. Die Übersetzungen des chilenischen Komponisten und Musikpädagogen Domingo Santa Cruz nach französischem Vorbild sorgten nicht zuletzt für Textverständnis als Bestandteil transkulturellen Musikgenusses. Hong-yu Gong (Auckland) befasste sich mit „Bach in China. Images, Translations, Performances“. Ab den 1920er Jahren spielte Bach an Universitäten und Konservatorien eine bedeutende Rolle. Seine Musik verbreitete sich durch europäische Flüchtlinge in der Kriegs- und Nachkriegszeit von Shanghai aus und fand auch Einzug in das Repertoire chinesischer Musikerinnen und Musiker. Während und nach der Kulturrevolution wurde in China zunächst alles Westliche abgelehnt, bevor vor allem sowjetische musikwissenschaftliche Schriften die Grundlagen für den heutigen Bach-Boom legten. Die Diskussion erörterte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vorgestellten Bachrezeption. In China wurde Bach außerhalb der Universitäten in Übersetzungen aufgeführt und die religiöse Komponente in den Werken bewusst nicht zur Sprache gebracht. Außerdem wurde der flexible Umgang mit Bach in Chile thematisiert sowie der Einfluss deutscher Exilanten. Die Bedeutung von Aufnahmen, Klavierauszügen und Taschenpartituren für den Privatgebrauch sind in beiden Fällen bedeutend.

Als Ausgangspunkt des letzten Themenblocks der Tagung diente Die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach. Christina Richter-Ibáñez begann ihren Beitrag über „Die Popularisierung Bachs in England und Esther Meynells Romane (1920er/1930er Jahre)“ mit Ausführungen zur Identität der Autorin: Während diese in England bekannt war, galt der Roman in Deutschland lange Zeit als authentisches Zeugnis Anna Magdalena Bachs, zumindest bei Teilen der Leserschaft. Auf die Frage nach den Beweggründen Meynells für ein Bach-Buch referierte Richter-Ibáñez die Autobiographie der Autorin. Diese genoss eine musikalische Ausbildung in London und hatte neben prägenden Erfahrungen an der Orgel, welche sich in ihren Texten widerspiegeln, Kontakt zu bedeutenden Persönlichkeiten der Bachbewegung in England.

Anna Magdalena Bredenbach (Stuttgart) befasste sich in „Fakt und Fiktion: Erzählstrategien in Die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach“ mit den stilistischen und inhaltlichen Merkmalen, die es möglich machten, dass viele Leser das Buch für eine authentische Quelle halten und hielten. Dieser Effekt wird von der Autorin bewusst durch eine glaubwürdige Rahmenhandlung, die Bezugnahme auf reale Quellen sowie die weitgehend korrekte Beschreibung faktischer Gegenstände und Ereignisse erzeugt. Die Geschlechterrollen, metaphorisch an der Orgel und in der sich selbst erniedrigenden Glorifizierung Bachs durch seine Frau dargestellt, beschreiben primär konservative Bilder des frühen 20. Jahrhunderts. In der anschließenden Diskussion wurde thematisiert, inwiefern dieses Bild der realen Anna Magdalena Bach gerecht werden könne. Ihre Rolle als Ehefrau sei vor allem für das Bild Bachs als Familienmensch, aber auch als Bestätigung einer Genievorstellung in früheren Zeiten der Rezeption von Bedeutung. Insofern stelle Die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach eine exemplarische Projektion der Erwartungshaltung der Leserinnen und Leser dar, mit der es bewusst spiele.