Musique, Mémoires, Histoire dans des Sociétés Plurielles

Tours, 13.02.2020

Von Verena Liu, Greifswald – 02.03.2021 | Ein deutsch-französisches Symposium diskutierte am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tours die Bedeutung von Musik in der Erinnerungskultur und der Geschichtserzählung von zunehmend pluralen Gesellschaften wie der deutschen oder der französischen. Unter dem Aspekt der ‚postmigrantischen Gesellschaft‘ (Shermin Langhoff) beleuchteten die gesprochenen und musikalischen Vorträge, was musikalisch, kulturell und erinnerungsgeschichtlich durch oder nach Migration entsteht. Die Zusammenhänge um eine globalere Perspektive auf Musik untersuchen nicht nur Fachgebiete wie die ‚postcolonial studies‘, ‚subaltern studies‘ oder ‚gender studies‘, auch in künstlerischen Formaten trägt die Aufarbeitung von ethnographischen Sammlungen oder historischen Archiven zunehmend dazu bei, die kulturelle Pluralität Frankreichs und Deutschlands in der Vergangenheit und heute zu thematisieren. Laut Talia Bachir-Loopuyts und Gesa zur Niedens Einleitungsvortrag müssen in diesen Themenkomplexen häufig zwei Probleme gelöst werden: Zum einen die Mehrsprachigkeit der Akteur*innen und des Materials, die zum anderen Sprachlosigkeit im Sinne einer fehlenden gemeinsamen Sprache bedeutet.

Das Symposium bestand aus sechs Vorträgen, die konkrete Projekte vorstellten oder sich der Thematik unter einem bestimmten Aspekt näherten. Dazu gab es eine imaginäre musikalische Begegnung auf der Seidenstraße zwischen einem deutschen Pianisten und einer türkisch-französischen Sängerin und eine ‚Conférence Chantée‘, die Lieder aus den algerischen Barbès-Cafés in einen Abendvortrag einband.

Lucille Lisack (Paris Nanterre) sprach über zeitgenössische Musik in Usbekistan und deren wichtigstes Festival ‚Omnibus‘. Sie konnte zeigen, dass zwischen dem deutschen Goethe-Institut und dem Festival eine lange Verbindung besteht. Auf der Suche nach einer eigenen usbekischen Identität wenden sich die Komponist*innen von der früher gelehrten sowjetischen Ästhetik ab, die starke Bindung an das Goethe-Institut führte jedoch einseitig zu einer Orientierung an Neuer Musik, wie sie in Deutschland gemacht wird, anstatt eine eigene usbekische Stimme zu entwickeln.

Naïma Huber-Yahi (Paris) stellte die von ihr kuratierten Musiktheatershows „Barbès-Café“ vor, welche seit 2011 im Pariser Veranstaltungsort „Cabaret Sauvage“ stattfinden und inzwischen auch in Algerien gezeigt wurden. Die Inszenierungen beziehen sich auf historische soziale Kontexte und kulturelles Leben in von maghrebinischen Einwander*innen gegründeten Cafés, in denen viel musiziert wurde – die sogenannten „Barbès-Cafés“. Die Vorstellungen sind aufgrund des Ausgangsmaterials mehrsprachig und werden laut Huber-Yahi von einem vielschichtigen Publikum besucht, das sich aus Stammpublikum des Veranstaltungsortes, älteren Algerier*innen sowie Personen der zweiten und dritten Einwanderergeneration zusammensetzt.

Der Vortrag von Andreas Krause (Mainz) über Fazıl Say und Chaya Czernowin beinhaltete mehrere musikalische Demonstrationen. Zum einen führte er pianistische Spieltechniken im Inneren des Flügelkorpus vor, die für die Interpretation etwa von Says Black Earth oder Gezi Park-Sonate anzuwenden sind. Zum anderen setzte er die Rufe der türkischen Demonstrant*innen, die in der Gezi Park-Sonate verarbeitet sind, mit der türkisch-französischen Sängerin Gülay Hacer Toruk in einer neuen Interpretation für Gesang und Klavier um. Krause legte seinen Fokus auf die Verbindungen der Türkei und Israels zu deutscher Geschichte und Kultur, die Say und Czernowin in ihrer musikalischen Ausbildung beeinflusst haben.

Über Thematisierungen von Flucht und Exil im zeitgenössischen Musiktheater sprach Anna Langenbruch (Oldenburg) in ihrem Vortrag. Sie wies darauf hin, dass bereits 1770 die Forderung „Chanter l’histoire“ („Die Geschichte singen“) an Musiktheaterstätten gerichtet wurde und daher seit Jahrhunderten die Darstellung und Interpretation von (Musik)geschichte(n) ein wichtiges Element des Musiktheaters ist. 2019 wurden im Rahmen ihres Oldenburger Forschungsprojektes mehrere Forschungs- und Praxisworkshops zu diesem Themenkomplex durchgeführt, an denen insgesamt 45 Teilnehmer*innen beteiligt waren. Als zentrales Element zur Darstellung von Geschichte, Exil oder Flucht wird laut Langenbruch im zeitgenössischen Musiktheater der Koffer als Gegenstand eingesetzt, er erscheint in den Inszenierungen als Requisite und in den inszenierten Texten, aber auch bildlich auf Plakaten oder im Titel der Stücke.

Mario Dunkel (Oldenburg) setzte sich mit der Frage auseinander, wie Jazzgeschichte geschrieben wurde und welche Rolle dabei transmediale Prozesse sowie fiktionale und nichtfiktionale Geschichtsschreibung spielten. Anhand der Darstellungen zur ‚Original Dixieland Jazz Band‘ (ODJB) zeigte Dunkel, wie eine durchweg weiße Jazzband durch Kurzfilme, Preisverleihungen, Berichterstattungen, Texten zur Jazzgeschichte oder auch durch Benny Goodmans Komposition 20 Years of Jazz als „geschichtemachende“ Swingband stilisiert wurde, während schwarzer Swing als reine Unterhaltungsmusik abgewertet wurde. Diese unterschiedliche Wahrnehmung von schwarzen und weißen Jazzmusiker*innen drückt sich auch darin aus, dass von den ersteren kaum Fotos gemacht und überliefert wurden.

Die französische Punkszene von 1976 bis 2016 untersuchten Solveig Serre (Paris) und Luc Robène (Bordeaux) im Rahmen des Forschungsprojekts „PIND – Punk is not dead“. In der etwa 40-jährigen Geschichte des Punk gibt es laut Serre und Robène inzwischen mehrere Generationen, auch in musiksprachlicher Hinsicht, und die ursprünglichen Ideale veränderten sich mit der Zeit. Das Projekt PIND hatte vor allem zum Ziel, zeitgenössische Quellen zusammenzutragen und systematisch zu ordnen. Probleme dabei hingen häufig mit den ehemaligen oder aktiven Akteur*innen zusammen, die nicht gern zu Forschungsobjekten gemacht werden wollten. Zugleich waren viele der Forscher*innen früher selbst Teil der Szene und geraten in Objektivitätsprobleme. Es stellt sich die Frage, wer legitimiert ist, Geschichte zu schreiben und wie man über eine relativ verschlossene Szene forschen kann, ohne zu stark involviert zu sein.

Im letzten Vortrag präsentierte Eva Meineke (Mannheim) Musik von Vinicio Capossela und Etta Scollo, die beide enge Verbindungen zu Süditalien und zu Deutschland haben. Anhand solcher Künstlerfiguren skizzierte Meineke Prozesse von „transkulturellem Gedächtnis“ (Bond/Rapson 2014), das entgegen aktueller Globalisierungs- und Homogenisierungstendenzen fast in subversiver Weise Kultur als eine Sammlung von einzelnen Referenzpunkten beschreibt („collection of reference points“, Gérard Namer 1994). Dies lässt sich auch bei Capossela und Scollo beobachten. So beziehen sich beide zum Beispiel auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoah sowie die Arbeitsmigration der sogenannten Gastarbeiter und deren Ausbeutung. Sie bilden über die Auseinandersetzung mit diesen Themen nicht nur persönlich-individuelle Geschichten ab, sondern auch kollektive Erinnerungen. Wie in den Musiktheaterstücken bei Anna Langenbruch der Koffer zentral war, ist es in den Liedern von Capossela und Scollo der Zug als ein immer wiederkehrendes Symbol.

Im Roundtable zum Abschluss diskutierten Gülay Hacer Toruk (Sängerin und Lehrerin), Ahmed Abourahim (Métropole de Châteauroux), Birgit Ellinghaus (alba Kultur) und Talia Bachir-Loopuyt über Möglichkeiten und Schwierigkeiten im Bereich von Veranstaltungen und education-Arbeit zu Musiken der Welt. Der Aufgabe, die Komplexität von Kultur hörbar zu machen, werden viele staatlich geförderte Musikinstitutionen nicht gerecht und die freie Weltmusikszene war jahrzehntelang finanziell unterversorgt. Die Musiklandschaft ist in Frankreich mit zahlreichen großen Festivals zur Musik verschiedenen Regionen der Welt besser aufgestellt als in Deutschland.