Jüdisches Leben: Musik und Kultur im Wandel der Zeit

Schwerin, 08.-09.10.2021

Von Josephina Strößner, Rostock – 03.02.2022 | Die internationale und interdisziplinäre Tagung, veranstaltet durch das Zentrum für Verfemte Musik der Hochschule für Musik und Theater Rostock (wissenschaftliche Leiterin: Yvonne Wasserloos, künstlerisch-pädagogischer Leiter: Volker Ahmels) reihte sich als Bestandteil des jährlichen Festivals Verfemte Musik zugleich in das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland ein. Sie widmete sich dem jüdischen Leben und verschiedenen Blickwinkeln auf seine Kultur und Musik im Wandel vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, wobei auch antisemitische Verfemung und ihre Folgen in der gegenwärtigen Gesellschaft reflektiert wurden.

Der erste Tag eröffnete mit einem breit gefächerten Angebot an Forschungsergebnissen, die das Leben, das Schaffen und die Rezeption verfolgter, verdrängter und vergessener jüdischer Musikschaffender in den Mittelpunkt stellten. Den Auftakt machte Nora Pester (Berlin/Leipzig) mit ihrem Vortrag „Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder – Jüdische Komponisten zwischen Verfolgung, Flucht und Rückkehr“, in dem sie schlaglichtartig zahlreiche Biografien verfemter Komponist:innen beleuchtete. Das im Verlagswesen oft verwendete Zitat im Titel ihres Referats sei ein Beispiel für die naive Haltung gegenüber der Annahme, dass Geschichte sich nicht wiederholen könne.

Gerold Gruber (Wien) spannte anschließend einen weiten Bogen zwischen dem Roman Die Stadt ohne Juden von Hugo Bettauer (1922) und biografischen wie künstlerischen Bezügen. Die Publikation stehe in mehrfacher Hinsicht als Vorzeichen für die Entwicklungen im „Dritten Reich“: 1924 begann eine Hetzkampagne gegen Bettauer, der auch als Mitherausgeber der sexualaufklärerischen Zeitschrift Er und Sie fungierte. In einem Gerichtsprozess kristallisierte sich heraus, dass nicht primär der Inhalt des Romans problematisch war, sondern Bettauers Judentum. 1925 wurde der Schriftsteller von dem jungen Nationalsozialisten Otto Rothstock ermordet. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans Die Stadt ohne Juden erschien der gleichnamige Stummfilm von Hans Breslauer, der wiederum Artur Landsberger zu seinem 1925 erschienenen Roman Berlin ohne Juden anregte. 2018 vertonte Olga Neuwirth Breslauers Stummfilm neu.

Den Lebensweg Erich Eisners „Von München nach La Paz“ zeichnete Aubrey Pomerance (Berlin) nach. Infolge der Ablehnung seines Aufnahmeantrags in die Reichsmusikkammer reichte der Prager Musiker, Komponist und Dirigent in München einen Antrag auf Gründung des „Jüdischen Kulturbundes in Bayern“ ein. Nach seiner kurzzeitigen Internierung im KZ Dachau 1938 und der Entlassung unter der Auflage, Deutschland umgehend zu verlassen, war er ab 1940 mit seiner Familie in La Paz (Bolivien) wieder vereint. Im bolivianischen Exil konnte er sich schnell musikalisch etablieren. Als Hommage an das Land komponierte er 1941 die Cantata Bolivia, eine Uraufführung konnte jedoch erst 18 Jahre später stattfinden. Als Gründungsinitiator gab er vor Ort ein Eröffnungskonzert mit dem Nationalen Sinfonieorchester, das unter anderem das Vorspiel zu Wagners Meistersingern aufführte.

Daniel Ortuño-Stühring (Schwerin) widmete sich der geistlichen Oper Christus von Anton Rubinstein (1829–1894), dessen jüdische Eltern bereits kurz nach seiner Geburt zum christlichen Glauben konvertierten. Neben Rubinsteins Komposition, die in ihrer Besetzung eine „couleur locale“ reproduziert, thematisierte Ortuño-Stühring auch das Libretto Heinrich Bulthaupts. Der Referent bezeichnete dieses als gewissermaßen „entdogmatisiert“, da es weder „entgeistlicht“ noch dezidiert jüdisch sei. In der Rezeption der Bremer Uraufführung von 1895 habe die jüdische Abstammung des Komponisten eine untergeordnete Rolle gespielt. Die Oper sei in Teilen sogar als Gottesdienstersatz verstanden worden. Auf der anderen Seite stehe eine Kritik, die die Komposition als „konventionell“ und „empfindungsarm“ rezipierte und die sich nach Rubinsteins Tod weg von seinem Werk hin zu seiner jüdischen Herkunft verlagerte.  
Birgit Kiupel (Berlin) nahm sich mit Elsa Bernstein, der Textdichterin des Kunstmärchens Königskinder, einer weiteren von Verfemung geprägten Biografie an. Dabei wies sie auf die Vertonung Engelbert Humperdincks und deren als „zu grell“ und „dissonant“ empfundene Einschätzung durch Cosima Wagner hin. Kiupel erläuterte, dass die unter dem Pseudonym Ernst Rosmer publizierende Elsa Bernstein sich selbst lange nicht durch Antisemitismus bedroht sah. Diese Fehleinschätzung sollte 1942 fatale Konsequenzen haben, als sie nach Theresienstadt deportiert wurde. Nach ihrer Befreiung lebte sie bei ihrer Tochter Eva und deren Mann Klaus Hauptmann in Hamburg und veröffentlichte einige autobiografische Darstellungen über diese Zeit. Den Schlusspunkt des ersten Tages bildete ein historischer Stadtrundgang, geführt von Martin Klähn von der Politischen Memoriale Mecklenburg-Vorpommern e.V., der diverse Orte der Erinnerung an die jüdischen Bürger:innen Schwerins erfahrbar machte.

Der zweite Tag der Tagung wurde von Vorträgen zu potenziellen Handlungsebenen und Zugängen, aber auch den Grenzen von Bildung und Aufklärung gerahmt. Die aktuelle Problematik und ihre Kontinuität durch inhaltliche, sprachliche und musikalische Muster waren weitere Themenschwerpunkte. Zu Beginn analysierte Oliver Plessow (Rostock) pädagogisches Arbeitsmaterial für den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen und machte auf das Problem aufmerksam, dass Antisemitismus trotz der Fülle vorhandener und gut aufbereiteter Materialien aufgrund des knappen Stundenkontingents ausschließlich ausschnittartig behandelt werden könne. Die Herausforderung bestehe darin, dass es nicht mehr um die Vermittlung eines kollektiv geteilten, kanonisierten Allgemeinwissens und einer affirmativen Gruppenkohärenz gehe, sondern der kritische Umgang mit und die mündige Bewertung von historischen Sachverhalten im Zentrum stehen solle.

Monika Schwarz-Friesel (Berlin) schloss mit ihrem Beitrag aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zu „Judenfeindschaft als kulturelle Kategorie zwischen Kontinuität und Wandel“ an. Muster des Sprachgebrauchs wurden als Teil des kommunikativen Gedächtnisses deutlich, indem Parallelen zur Geschichte von vor 2000 Jahren aufgezeigt wurden. Die Verankerung von Ressentiments sei als „Zeitgeist Antisemitismuszu verstehen, der als kulturelle Konstante Stereotype fixiert habe. Als „kultureller Code“ habe sich des Weiteren die narrative „Normalität“ vom Topos des „Bösen“ der Juden verfestigt. Auch mit Blick auf die Online-Präsenz könne hier von einer „Judenfeindschaft 2.0“ gesprochen werden. Den Wandel, aber auch die Kontinuität hob Schwarz-Friesel beispielhaft an Texten Xavier Naidoos hervor und betonte die Notwendigkeit einer Brücke zwischen Wissenschaft und Schulpraxis zur Bekämpfung von Antisemitismus und negativen Narrativen.

Anselm Hartinger (Leipzig) nahm die Erinnerungsorte für Felix Mendelssohn und Richard Wagner in Leipzig in den Blick. Das gegenwärtige Wagner-Denkmal sei vor der ehemaligen Stasi-Zentrale ebenso fragwürdig platziert wie das Mendelssohn-Denkmal, das hinter der Thomaskirche falsche Assoziationen wecke, indem es das antisemitische Bild Mendelssohns als eines Bach-Epigonen begünstige. Weitaus passender habe sich das Denkmal vor dem Gewandhaus befunden, wo es 1936 abgerissen worden sei. Als weiteren Ort der Erinnerung erwähnte Hartinger die Leipziger Festwiese als Ort für das „Richard-Wagner-Nationaldenkmal“, das bereits 1932 von Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler initiiert und von dem Bildhauer Emil Hipp entworfen wurde. Für eine 2022 geplante Ausstellung zur Rolle der Musikstadt in der NS-Zeit erstand das Stadtgeschichtliche Museum ein Bruchstück aus den Original-Sockels des unvollendeten Wagner-Denkmals. Der Ankauf wurde in der Öffentlichkeit als Akt der Resauration kritisiert, während das Museums lediglich intendiert hatte, die Geschichte des Denkmals anhand originaler Artefakte zu vermitteln. Der heutige Umgang mit den teilweise unaufgearbeiteten und verschleierten historischen Ereignissen habe gravierendes Konfliktpotenzial, schlussfolgerte Hartinger.

Yvonne Wasserloos (Rostock) sprach über rechtsextreme Musikclips auf frei zugänglichen Videoplattformen und ihr Potenzial als Multiplikationsfaktoren entsprechender politischer Haltungen. Als Beispiel einer solchen Plattform kann BitChute gelten, worauf Videos etwa mit Verschwörungstheorien und rassistischen Inhalten der rechtsextremen Szene nach einer Sperrung bei YouTube unzensiert erneut hochgeladen werden. Zum Beispiel stellt das mit Nazisymbolik versehene Streichquartett in c-Moll von Anton Bruckner einen audiovisuellen Konnex zur Szene her. Durch Reframing werde (Kunst-)Musik für rechtsextreme Haltungen in einen neuen Kontext gesetzt und damit umgedeutet. Wasserloos betonte, dass Musik nicht per se rechtsextrem sein könne, sondern es um ihre spezifische Verwendung in der rechtsextremen Szene ginge. Ein anderes Video zeigte den Versuch, durch die Kombination von Goebbels-Reden, nachkoloriertem historischem Filmmaterial aus dem NS-Staat und Bildern aus der jüngeren Geschichte (etwa von 9/11) mit Filmmusik von Hans Zimmer Vergangenheit und Gegenwart eng zu verknüpfen und antisemitische Haltungen zu aktualisieren. Radikal und brutal erschien auch ein dem „Fashwave“ zuzuordnendes Video, das durch martiale, sakrale und monumentale Klänge die als „heiligen Auftrag“ verstandenen Agitationen rechtsextremer Gruppierung glorifizierte. Ebenfalls werde „das Böse“ durch einen parallel zu einer „Judenkarikatur“ erklingenden Tritonus klanglich markiert. Wasserloos resümierte, dass sich neue Inszenierungsstrategien etabliert hätten und „normativer“ Antisemitismus durch chiffrierten ersetzt würde. Die angeeignete Deutungsmacht und -hoheit durch den Rechtsextremismus sei dabei durchaus als subtile Form von Gewalt zu verstehen.

Abschließend diskutierte Marc Grimm (Bielefeld) die Möglichkeiten und Grenzen von Bildung im Hinblick auf Antisemitismus. Die Untersuchung antisemitischer Erfahrungen von jungen Juden eines Fußballvereins bildete den Kern seiner Forschungsarbeit. Hier stellte Grimm eine generelle Angst bzw. Unsicherheit bei den Probanden fest, sodass beispielsweise das offene Tragen einer Kette mit Davidstern von den Eltern verboten werde. Er betonte, dass historisch-politische Bildung Antisemitismus thematisieren und das selbstreflexive Denken der Schüler:innen fördern müsse. Der Erfahrungsaustausch mit Gegenwartszeug:innen in einem pädagogischen Diskussionsraum sei dafür unabdingbar. Besonders müsse auf den Antisemitismus in digitalen Räumen, die „Judenfeindschaft 2.0“, aufmerksam gemacht werden. Yvonne Wasserloos beschloss die Tagung mit dem Appell, die aufgezeigten Forschungsfelder, Handlungs- und Vermittlungsoptionen verstärkt in die Gesellschaft zu tragen.