Beethoven und seine rheinischen Musikerkollegen

Bonn, 10.-12.06.2022

Von Robert von Zahn, Köln - 20.09.2022 | Dreizehn Referent*innen und ein ansehnliches Publikum fanden sich zu einer dreitägigen Tagung im Kammermusiksaal des Bonner Beethoven-Hauses zusammen, um aktuelle Forschungen zu den Musiker*innennetzwerken auszutauschen, in denen der junge Ludwig van Beethoven in Bonn groß wurde. Man kennt sie kaum, die Hofmusiker*innen des kurfürstlichen Hofes und die mit ihnen verbundenen Persönlichkeiten des Musiklebens jener Zeit. Bis heute stehen sie im Schatten Beethovens. Aber geforscht wird zu den Themen an vielen Orten – Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italiens, der USA und weiterer Länder fügten ihre Erkenntnisse zu einem eindrucksvollen Mosaik zusammen. Veranstaltet von der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte und dem Beethoven-Haus Bonn, wurde die Tagung vom Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Rheinland und der Kunststiftung NRW gefördert und von Christine Siegert geleitet, unterstützt von Sabine Meine, Stephan Schulmeistrat und Robert von Zahn.

Die erste Sektion, moderiert von Julia Ronge (Bonn), widmete sich der Familie Beethoven in Bonn. Jürgen May (Bonn) relativierte das negative Bild, das Biografen bis ins Beethoven-Jubiläum 2020 hinein von Beethovens Vater Johann gezeichnet haben. Meist erscheint er als negatives Gegenbild zu Leopold Mozart und dessen geschickter Förderung und Präsentation seines Sohnes. War Johann van Beethoven wirklich ein Alkoholiker, der gewalttätig werden konnte, musikpädagogisch unfähig agierte, dafür aber an der Verwertung der Musikalität seines Sohnes interessiert war? Dieses Bild ist auf wenige und eher magere Quellen gestützt. In deren Bewertung säte May erhebliche Zweifel an der Authentizität der Schilderungen, ohne gleich ein anderes Charakterbild des Vaters entwerfen zu wollen. Julia Ronge bestätigte diese These in der Moderation durch eigene Überlegungen. Indizien sprechen zum Beispiel dafür, dass der Alkoholismus erst spät, nach dem Tode von Beethovens Mutter, zum Problem wurde. Leonardo Miucci, Hochschule der Künste Bern, spürte in direkten Vergleichen zwischen verschiedenen Werken Mozarts und den Klavierquartetten WoO 36 van Beethovens den Einflüssen Mozarts auf Beethoven nach. Er führte Partien Beethovens so unmittelbar auf Partituren Mozarts zurück, dass man von bewussten Übernahmen Beethovens ausgehen muss. Vermutlich sind dem jungen Komponisten Werke Mozarts gezielt als erfolgreiche Vorlagen unterbreitet und die Musik Mozarts als ein ideales Arbeitsergebnis hingestellt worden.

Die zweite Sektion, moderiert von Siegert und von Schulmeistrat (Bonn), beleuchtete Bonner Musikerfamilien. Birgit Lodes (Wien) konnte krankheitshalber nicht selbst kommen, ihr Manuskript wurde von Elke Hager (Wien) verlesen. Lodes entfaltete tief verästelte Verbindungen der Hofmusikerfamilien in Bonn, ausgehend von Johann Peter Salomon, der seit 1781 in London wirkte und von dort aus das Londoner Konzertwesen, die Wiener Meister und auch Bonner Netzwerke verflocht. Das Netzwerk wurde zur Überlebenshilfe der Musikerfamilien auf dem freien Musikmarkt. Das Referat von Matthias Brzoska (Essen) über Antoine Reicha, Beethoven und die „Nobilitierung der Variation“ sollte per Videoübertragung erfolgen, weil Brzoska sich zu der Zeit in den USA aufhielt, doch kam die technische Verbindung nicht zustande.

Louise Bernard de Raymond (Tours) und Fabio Morabito (Alberta, Edmonton) stellten ihre aufwändige Entschlüsselung des Netzwerks von Reicha vor, das sie kürzlich in einer Buchpublikation beschrieben haben. Ausgehend von einem zuvor unbekannten Brief Giacomo Meyerbeers an Reicha vom Mai 1835 analysierten sie die Beziehungen der Musiker. Auch ein Schreiben Maximilian Stadlers erwies sich mit Blick auf das Beziehungsgeflecht der Musiker als indizienreich. Guido Johannes Joerg (Ludwigsburg) näherte sich Ferdinand Ries als einem Bearbeiter Beethovens, speziell von dessen Dritter Sinfonie, der „kitzlichsten aller Beethoven-Sinfonien“, so Ries. Jörg zeigte Ries als hingebungsvollen und stolzen Schüler und Adlatus Beethovens, der sich dessen Werk verpflichtet fühlte, andererseits aber auch als Arrangeur, der Aufträge Simrocks suchte und in den Bearbeitungen seine persönliche Handschrift einbrachte. Die Sinfonie Es-Dur „Eroica“ ist schon bald nach ihrer Uraufführung als Klavierquartett erfolgreich verbreitet worden, der Arrangeur blieb allerdings anonym. Es war nicht Ries, dessen eigenes Arrangement erst zwanzig Jahre nach seinem Tod gedruckt wurde. Bis heute werden die beiden Arrangements verwechselt. Unterscheidungsmerkmal sind unter Anderem zwei Takte am Schluss der Exposition des Kopfsatzes, die Beethoven in späterer Arbeit am Werk tilgte und die auch in der anonymen Bearbeitung fehlen. Bei Ries, der eine Vorlage aus seiner Zusammenarbeit mit Beethoven verwendete, sind die Takte jedoch erhalten. Auch Richard Sänger (Bonn) widmete sich Netzwerken, namentlich solchen um Beethoven, die Familie Ries und den ersten Ehrenpräsidenten des Beethoven-Hauses, Joseph Joachim. Zeugen von Netzwerken sind etwa Widmungen von Kompositionen. Franz Ries widmete seine Suite für Violine und Klavier op. 26 von 1872 dem berühmten Violin-Virtuosen Joachim. Ries’ Partner Hermann Erler bot Joachim im Januar 1873 an, dass Ries und er ihm das neue Werk vorspielen würden. Eine Antwort ist nicht bekannt, doch dem Geflecht der Beziehungen kann man fortan nachspüren, etwa in einem Brief von Ries vom 2. April 1875 an Joachim, der in vielen Details Aufschluss über dieses Musikernetzwerk gibt.

Die dritte Sektion wandte sich, moderiert von Beate Kraus (Bonn), der Bonner Hofkapelle und deren Musik zu. Elisabeth Reisinger (Wien) erforschte die Musikerinnen an der Hofkapelle. Dort waren die hohen Stimmen mit zumeist sechs Sängerinnen besetzt, die an der Tafel, in der Kirche und in der Kammermusik zu singen hatten. Einige stammten aus Bonn, eine aus Mainz, eine aus Koblenz. Auch als Solistinnen wurden sie eingesetzt, etwa in der Messe in Es-Dur von Davide Perez oder in der Motette „Leves aurae“ von Andrea Lucchesi. Der Kurfürst verstärkte das Orchester nach 1789, das Vokal-Ensemble hingegen nicht, die Klang-Balance muss sich deutlich geändert haben. Reisinger sieht die Forschung bezüglich der Musikerinnen als einen Ausgangspunkt zu weiteren Forschungen mit Blick auf den Bonner Hof (Organisation, Individuen), auch im Vergleich zu anderen Höfen sowie auf einer Makroebene zu generellen Erkenntnissen bezüglich Aufführungspraxis, Ästhetik und der Partizipation an musikalischen Aufführungen. Wichtig ist dabei auch die Münsteraner Domkapelle, die durch die Personalunion der Dienstherren eng mit der Bonner Kapelle verbunden war und Dokumente liefert, die auch über diese Aufschluss geben.

Zwei Referate näherten sich dem Werk und der Überlieferungslage zu Lucchesi, und beide Referentinnen, Anna Sanda und Christine Siegert, stehen wie auch Elisabeth Reisinger in Verbindung mit einem Forschungsprojekt zu den kurkölnischen Musiksammlungen bei Erzherzog Maximilian Franz, bei dem die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und das Beethoven-Haus kooperieren. Unter der Ägide von Lodes untersuch eine Gruppe von Wissenschaftler*innen die Bestände. Sanda ist dabei die Spezialistin für Liturgie und Musikpraxis und widmete sich in der Tagung den kirchenmusikalischen Kompositionen für die Advents- und Weihnachtszeit. Siegert konzentrierte sich hingegen auf eine Kantate, die Hofkapellmeister Lucchesi zur Weihe von Maximilian Franz zum Erzbischof von Köln komponiert hatte. Ihr Text ist beziehungsreich aus verschiedenen Texten des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio zusammengesetzt, spielt auf verschiedene dynastische Feierlichkeiten des Wiener Kaiserhofs an und bringt die Familie Maximilians gleichsam virtuell auf die Bühne. Beethoven vertonte vor diesem Hintergrund ein Rezitativ aus einer weiteren Kantate Metastasios (Skizze Beethoven-Haus Bonn, BH 117) und näherte sich damit der italienisch geprägten Festkultur an.

Die abschließende Sektion verfolgte, moderiert von Robert von Zahn (Bonn), Zirkel, Lesegesellschaften, Verlagsunternehmen und Presserezeption im Rheinland um 1800. Joanna Cobb Biermann (Alabama) differenzierte die Zirkel, Logen und Lesegesellschaften, die sich in Bonn vor und nach 1800 bildeten, samt ihren politischen Zielsetzungen. Die erste Freimaurerloge in Bonn bestand aus elf Personen, darunter mit Nikolaus Simrock, Christian Gottlob Neefe und Ries immerhin drei Musiker. Simrock war der politisch radikalste. Aus verschiedenen Geheimbünden heraus veröffentlichte er Ideen der politischen Partizipation, die ihm und weitere schließlich die Ehre eintrugen, in einem Katalog der „Vaterlandsverräter“ zu erscheinen. Beethoven befand sich in seiner Jugend offensichtlich in einem politischen Spannungsfeld.

Matthias Wessel (Minden) verfolgte in einer detailreichen Spurensuche die Aktivitäten des Magazins de Musique, das Simrocks Kooperationspartner Kuntze in Beuel betrieb. War Kuntze ein gestaltender Partner, der immerhin auch neunzehn eigene Ausgaben veröffentlichte, oder betrieb er ein Schattenunternehmen, das es Simrock ermöglichte, am französischen Urheberrecht vorbei Drucke herauszubringen? Der Pianist Ivan Grbesa (Brühl) hat zwei Jahre lang die Musikberichterstattung des Bonner Wochenblatts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht. Wie zeigt sich dort die Wirkung der Werke Beethovens und seiner rheinischen Zeitgenossen? Neefe, die Ries-Familie und natürlich Beethoven selbst wurden viel gespielt. Es gab keinen Einbruch der Popularität der Musik Beethovens in den Jahren nach seinem Tod, so Grbesa, doch wurden viele Werke gespielt, die später weniger im Fokus der Öffentlichkeit standen.

Zum Rahmenprogramm der Tagung gehörte die Sonderausstellung Kleine Denkmäler. Beethoven in der Medaillenkunst. Zentraler Bestandteil der Ausstellung ist die von der Numismatischen Gesellschaft Bonner Münzfreunde e. V. betreute Beethoven-Medaillen-Edition des Jubiläums-Jahrs, wobei die Werke von Grit Bergner und Lucia Maria Hardegen explizit Beethovens Jugendzeit in Bonn visualisieren. Weitere Ausstellungsstücke dokumentieren ebenfalls Beethovens Verbindung nach Bonn, so etwa die von Theodore Gruner und Manfred van Rey gestalteten Gedenkmedaillen oder der von Beethoven seinem Bonner Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler gewidmete Porträtstich von Friedrich Dürck. Dass ein Großteil der Leihgaben für die Dauerausstellung der Sammlung Offermann aus Bensberg entstammt, zeigt nicht zuletzt die Bedeutung regionaler Sammler für die Beethoven-Rezeption. Die Abschlussdiskussion zur Tagung legte der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte mindestens eine weitere Tagung nahe. Gezeigt hatte sich, dass es in Bezug auf die Musiker*innennetzwerke noch etliche Desiderate gibt und an vielen auch gearbeitet wird.