Mendelssohn und Wagner. Zwei Leitfiguren der Leipziger Musikgeschichte

Leipzig, 23.-25.06.2022

Von Niklas Schächner, Leipzig – 20.12.2022 | Das Internationale Symposium des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Leipzig fand im Museum für Musikinstrumente statt – in unmittelbarer Nachbarschaft zur Oper Leipzig, die in diesen Wochen alle dreizehn Bühnenwerke Richard Wagners zur Aufführung brachte. Das eng auf diesen berühmten Sohn der Stadt zugeschnittene Profil dieses Festivals erweiterte das Symposium mit einer Perspektive, die einen anderen Leipziger Musikheroen des 19. Jahrhunderts in den Blick nahm: Felix Mendelssohn Bartholdy. Dabei war nicht nur das Verhältnis der beiden zur Stadt radikal verschieden – Wagner wuchs in Leipzig auf und fand seinen Erfolg andernorts, während Mendelssohn erst mit Mitte Zwanzig in die Stadt kam, in dieser aber zur nachhaltigen Identifikationsfigur wurde. Auch als Menschen und als Künstler gelten die beiden als Antipoden. Dass dieses Bild ganz zentral von der durch Parteienstreit, journalistische Auseinandersetzungen und antisemitische Attacken brisanten Rezeptionsgeschichte geprägt wurde (die Mendelssohn durch seinen frühen Tod ungleich weniger beeinflussen konnte), wurde in den über zwanzig Vorträgen des Symposiums deutlich. Neben den Kontrasten traten an ungeahnten Stellen Gemeinsamkeiten zu Tage, die bei zwei nahezu gleichaltrigen Musikern mit enger Beziehung zur „Musikstadt“ Leipzig, deren geistig-kulturellem Nährboden und ihren personellen sowie institutionellen Netzwerken letztlich kaum überraschen.

Die erste Sektion legte den Fokus darum konkret auf die Bezüge der beiden Komponisten zur Stadt Leipzig als drittem Akteur einer Dreiecksbeziehung. Anselm Hartinger (Leipzig) umriss in seinem einführenden Vortrag aus stadthistorischer Perspektive das „Bühnenbild“ der bürgerlichen Messestadt. Roger Allen (Oxford) nahm Wagners Studien bei seinen Leipziger Lehrern Christian Gottlieb Müller und Christian Theodor Weinlig in den Blick, während Helmut Loos (Leipzig) darlegte, wie stark Mendelssohn sein Musikertum als soziale Verantwortung begriff. Auf die daraus resultierende Vielzahl an Kompositionen für konkrete Anlässe nahm auch Thomas Schmidt (Manchester) Bezug. Er untersuchte zwei im selben Rahmen aufgeführte Auftragswerke der beiden Komponisten zur Huldigung des sächsischen Königs Friedrich August I. Auf das häufig vernachlässigte Chorvereinswesen Leipzigs und dessen schwankendes Verhältnis zu den Werken Wagners und Mendelssohns ging Isabell Tentler (Zwickau) ein.

Die zweite Sektion widmete sich kompositorischen und ästhetischen Berührungspunkten und Differenzen. Birgit Heise (Leipzig) legte das von hoher Aufmerksamkeit geprägte Verhältnis der beiden Musiker zum Leipziger Instrumentenbau offen. Fundamentale ästhetische Parallelen diagnostizierte Christiane Wiesenfeldt (Heidelberg) beim Vergleich der Romantik-Konzepte der Zeitgenossen. John Michael Cooper (Georgetown, Texas) fand erstaunliche Kongruenzen darin, wie die beiden Komponisten in England als Repräsentanten deutscher Kultur fungierten. Weitere Parallelen zeigte Stefan Keym (Leipzig) anhand des Umgangs sowohl Wagners als auch Mendelssohns mit der Sonatenform auf, vor allem beim Austarieren der im protestantischen Raum stets geforderten Einheit der Stimmung mit der zeittypischen Tendenz zum Potpourri, und schlug dafür den (bei Verdi etablierten) Begriff der „tinta musicale“ vor. Deutliche Unterschiede zwischen den Komponisten veranschaulichte hingegen Monika Hennemann (Cardiff) anhand der Konzeption und Umsetzung von Opernplänen. Benedict Taylor (Edinburgh) machte an Mendelssohns Liedern fest, dass dieser im Gegensatz zu Wagners Synthesebestrebungen eher zwischen den Spezifika der Künste trennte, während Frieder von Ammon (Leipzig) die klar divergierende Goetherezeption der beiden Komponisten nachzeichnete. Arne Stollberg (Berlin) illustrierte, wie Wagner Mendelssohns Schauspielmusik zu Sophokles‘ Antigone lautstark geringschätzte, sich bei der Komposition von Elsas Tribunal aus Lohengrin aber in typisch widersprüchlicher Weise sowohl bezugnehmend als auch abgrenzend an ihr orientierte.

Die letzte Sektion widmete sich der Rezeptionsgeschichte in den hundert Jahren nach Mendelssohns Tod. Claudius Böhm (Leipzig) zeichnete minutiös nach, wie die Professoren des Leipziger Konservatoriums 1850 geschlossen gegen die antijüdische Pressekampagne der Neuen Zeitschrift für Musik vorgingen, die Wagners Pamphlet Das Judentum in der Musik einschloss, und die Entlassung ihres Kollegen und Herausgebers Franz Brendels forderten. Dessen geschichtsphilosophische Ansichten, die zu einer wechselhaften Beurteilung beider Komponisten führten, analysierte Sean Reilly (Leipzig). Mit wertvollen statistischen Befunden legten Linus Hartmann-Enke und Josias Schill (Leipzig) die Präsenz von Mendelssohn und Wagner in den Konzerten des Gewandhauses und des Euterpe-Vereins dar.

Wie die populären Leipziger Journale und Zeitschriften, allen voran die immens auflagenstarke Gartenlaube, Mendelssohn zum vorbildhaften Menschen und Künstler stilisierten, dabei Wagner aber nahezu vollständig totschwiegen, zeigte Barbara Eichner (Oxford). Marion Recknagel veranschaulichte, dass die Allgemeine musikalische Zeitung nach ihrer Neuauflage 1868 unter Friedrich Chrysander eine radikale Kehrtwende vollführte und das Vermächtnis Mendelssohns stark attackierte – was die Neue Zeitschrift für Musik schon anlässlich seines Todes getan hatte. Posthume (Um-)Deutungen auch im Assoziationsfeld Wagners gerieten zuletzt in den Blick. Peter Schmitz (Münster) stellte das wechselvolle Verhältnis zwischen dem Leipziger Weltverlag Breitkopf & Härtel und dem Kreis um Cosima Wagner dar. Eine vergleichende Studie zu dem wie Wagners „Judentum“-Aufsatz zweimal erschienenen, jedoch heute deutlich weniger bekannten antisemitischen Kapitel in Franz Liszts Buch Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie legte Shay Loya (London) vor. Dem dunklen Kapitel der radikalen Gegenüberstellung Wagners und Mendelssohns im nationalistischen Leipzig widmete sich Kerstin Sieblist (Leipzig). Als in den Krieg gegeneinander geführte „Monumente“ der Stadt deutete Angela Mace Christian (Durham, NC) die beiden Komponisten, bevor in der Abschlussdiskussion unter Anderem Kontinuitäten der nationalsozialistischen Rezeptionsgeschichte in die DDR hinein zur Sprache kamen.

Zwei öffentliche Abendveranstaltungen ergänzten das Panorama der Tagung: Im Hauptvortrag zeichnete Ulrich Konrad (Würzburg) Wagners Blick auf Mendelssohn in all seinen Facetten nach: „Vorbild – Kollege – Konkurrent – ‚Jude‘“. Ein Gesprächskonzert im Mendelssohnhaus, bei dem Kenneth Hamilton und Monika Hennemann die beiden Komponisten im Spiegel von Transkriptionen Liszts betrachteten, rundete das Programm ab.