Wahn der Eroberung – Wagner-Kosmos III. Festival und interdisziplinäres Symposion

20.–22.05.2022

Von Leonie Krempien (Mainz), Florian Zimmermann (Mainz) – 10.05.2023 | Der „Dortmunder Wagner-Kosmos“ ist in seiner Konzeption einzigartig. Es handelt sich dabei um ein jährliches Opernfestival, immer im Mai zum Geburtstag des Komponisten, das sich auf eine seiner Opern konzentriert und diese in ihren kulturhistorischen und musikalischen Kontext einordnet. Begleitend dazu findet ein musikwissenschaftliches Symposion zum Thema statt, das auch der interessierten Öffentlichkeit offensteht. Der erste Kosmos war, bedingt durch die Corona-Pandemie, der ursprünglich an dritter Stelle geplante: „Wahn der Eroberung“, gestaltet rund um Die Walküre. Der eigentlich für 2020 geplante Kosmos I „Ein Mythos beginnt“ mit Lohengrin, Spontinis Fernand Cortez oder die Eroberung von Mexico und Aubers Die Stumme von Portici sowie der Kosmos II „Macht und Manipulation“ mit Die Walküre, Guirauds Frédégonde und einer Uraufführung von Bernhard Langs Der Hetzer, angedacht für 2021, mussten entfallen. Stattdessen wurde die Premiere der Walküre nun eingerahmt von den laufenden Produktionen der Frédégonde von Guiraud und Saint-Saëns sowie der dritten Fassung von Spontinis Fernand Cortez.

Letzteres Stück hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Insgesamt existieren vier Fassungen der Oper, die ersten beiden (1809 und 1817) wurden in Paris uraufgeführt, während die dritte und die vierte (1824 und 1832) für Berlin am Hofe von König Wilhelm Friedrich III entstanden. Erst nach Spontinis Umzug nach Berlin wurde die dritte Fassung zur Aufführung gebracht, die Richard Wagner, wie auch seine Agnes von Hohenstaufen, wohl gesehen haben muss, und deren Einfluss sich musikalisch vor allem in Rienzi und Tannhäuser niederschlägt. Dortmund hatte sich die erste moderne Wiederaufführung eben dieser dritten Fassung zur Aufgabe gemacht. 

In seiner Keynote beleuchtete der Musikkritiker des New Yorker, Alex Ross, die Wagner-Rezeption in Frankreich, besonders am Beispiel Charles Baudelaires. Zu Beginn stand die Frage, ob der „Französische Wagner“ eine komplette „reinvention“ sei. ….der den Franzosen attestierte, Dinge in Wagner gefunden zu haben, die sonst unentdeckt geblieben waren. Nietzsches Ziel sei es hier gewesen, die deutschen Nationalisten, die Wagner vereinnahmen wollten, zu demütigen. Baudelaire habe mit Wagner sympathisiert, da er in dessen schwieriger Rezeption in Frankreich Parallelen zu seinen eigenen Fleurs du Mal gesehen habe. Ross stellte die These auf, dass Baudelaires überschwängliches Lob in vielerlei Hinsicht Nietzsches Aussagen geradezu antizipiere. Als Advokat Wagners in Frankreich habe er befürchtet, dass die Franzosen sich durch ihre Geringschätzung des Komponisten aus Deutschland im europäischen musikalischen Diskurs blamieren könnten.

Klaus Pietschmann (Mainz) stellte fest, dass es unter Betrachtung des ursprünglichen Zweckes von Fernand Cortez als Auftragswerk Napoléons I. erstaunlich sei, dass dieses wiederum eine gute und langanhaltende Rezeption in Berlin erfuhr. Wie ließ sich also die Verherrlichung des französischen Monarchen so nahtlos für „Preußens Gloria“ instrumentalisieren? Der Opernstoff, so der Referent, konnte recht einfach unterschiedlichen Rahmenbedingungen angepasst werden. Verboten wurde die Oper letztlich, weil sie beim Publikum zu viele Sympathien mit den Spaniern auslöste. Auch in Berlin bleibt Fernand Cortez ein politisches Lehrstück. Nach der vor allem dramaturgisch optimierten 3. Fassung war die große Neuerung der 4. Fassung das Errichten eines Kreuzes auf den Trümmern Mexikos und dessen Anbetung, was sich problemlos als ein Triumph des Christentums ausdeuten lasse. Von der spanischen Herkunft der Eroberer könne ohne Weiteres abstrahiert werden. Die Oper weise so Parallelen mit entscheidenden Elementen von „Preußens Gloria“ auf. Die zentralen Merkmale, die eine Anpassung an diverse politische Umstände ermöglichten, seien übergeordnete Konzepte von Eroberung, Militarismus, sowie der prävalente Marschcharakter der Komposition selbst.

Das Narrativ, dass Wagners Opern etwas explizit Deutsches seien, sei nicht haltbar, stellte Anno Mungen (Bayreuth) gleich zu Beginn seines Referates klar. Wagners Werk sei tatsächlich eher global-international angelegt. Der Dortmunder Wagner-Kosmos kontextualisiere eben solche internationalen Zusammenhänge. Während die Wissenschaft also eben sehr wohl um beispielsweise die französische Rezeption Wagners wisse, sei das populäre Bild seines Werkes nach wie vor deutschnational geprägt. Wagners eigene Schriften dienten allenfalls der Promotion seiner Werke und seiner Ideologie, sie enthielten ein nationales Narrativ, das so nicht der Wahrheit entspräche. Der enorme Vorbildcharakter, den insbesondere Spontinis Fernand Cortez zu dieser Zeit für Wagner hatte, schlage sich hauptsächlich in Rienzi nieder. Wagner habe Spontinis Wirken in Berlin als eine Art „kleine Schwester“ der Pariser Oper gesehen. Rienzi sei zwar unter dem unmittelbaren Eindruck des Fernand Cortezkonzipiert, bewege sich aber in seinen musikalischen Einflüssen durchaus zwischen Spontini und Meyerbeer. Agnes von Hohenstaufens Tableauhaftigkeit und großzügige Rezitative fänden sich darüber hinaus im Tannhäuser wieder – der allerdings noch eine Nummernoper ist – während Lohengrin die Kontinuität des Gesanges von Spontini geerbt habe. Wagner sei dabei allerdings durchaus bedacht darauf gewesen, Spontinis Einfluss zu verbergen.

Arnold Jacobshagen (Köln) nahm das Publikum mit auf eine Reise hinter die Kulissen der Pariser Grand Opéra. Die verwendeten Libretti weisen viele Gemeinsamkeiten auf: Sie sind in Versform, es wird durchgesungen, verarbeitet werden in aller Regel mythologische und geschichtliche Stoffe. Betrachte man den Stoff von erfolgreichen Produktionen wie Aubers La muette de Portici, Meyerbeers Les Hugenots, oder Halévys La Juive, so falle unmittelbar auf, dass die Grand Opéra ein enorm politisches Genre gewesen sei. Die meistgespielte Grand Opéra sei mit weitem Abstand Gounods Faust. Ein so allumfassendes Spektakel mit hunderten von Beteiligten wie die Grand Opéra musste selbstverständlich minutiös koordiniert werden. Hier sei in vielerlei Hinsicht also die Entstehung der „Operninszenierung als Kunstform“, die uns heute so selbstverständlich erscheint, zu verorten. Das Publikum erwartete eine große Masse an Statisten auf der Bühne, detailverliebte und perspektivisch auf den Zuschauerraum zugeschnittene Bühnen­bild­konstruktionen. Wagner war in jungen Jahren in Paris und habe mit Sicherheit solche Inszenierungen gesehen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben müssen. Sein ursprünglicher Plan war es, den Holländer in Paris herauszubringen. Das Scheitern dieses Unterfangens sei in Teilen Grund für Wagners späteren Groll gegen die Grand Opéra gewesen, eine Kunstform, die man allerdings zurecht bereits als „Gesamtkunstwerk“ bezeichnen könne, und die beim jungen Wagner offenbar einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte.

Inga Mai Groote (Zürich) beschäftigte sich mit der Wagner- und Bayreuth-Rezeption speziell in Frankreich. Es existierten mannigfaltige Bearbeitungen von Wagners Opern für Klavier- bzw. Hausmusik, oft in Form von Paraphrasen oder Tänzen, so zum Beispiel Faurés Souvenirs de Bayreuth oder Dukas’ Bacchanale auf dem Venusberg. Die Reisen von Frankreich nach Bayreuth wurden bald zu einem Geschäft: Schnell entstanden buchbare „Pauschalreisen“ und mit dem Voyage Artistique à Bayreuth sogar ein Reiseführer. Mit diesen Entwicklungen ließe sich auch eine Veränderung des Bayreuther Publikums beobachten: Nach und nach reiste weniger „Fachpublikum“ an, dafür immer mehr „Wagner-Fans“ (beides schließe sich gegenseitig natürlich nicht immer unbedingt aus) – die Reise nach Bayreuth wurde zur regelrechten „Pilgerreise“. Die Bayreuther Festspiele seien so zu einer „mondänen Veranstaltung“ geworden.

Am Nachmittag fand die Premiere der Dortmunder Walküre-Inszenierung von Peter Konwitschny statt. Der Grund dafür, dass der Kosmos mit dem zweiten Abend des Rings begann, lag in einer konzeptionellen Anlehnung an den Stuttgarter Ring von2000 – auch hier sollten die vier Inszenierungen sich deutlich voneinander unterscheiden. Sie wurden zwar vom gleichen Regisseur ausgeführt, dem aber jedes Mal unterschiedliche Bühnenbildner:innen zur Seite stehen werden. Um die Eigenständigkeit jeder Produktion zusätzlich sicherzustellen und sich vom Gedanken des „Roten Fadens“ weiter zu lösen, wurde auch die eigentlich von Wagner vorgesehene Reihenfolge der Opern aufgehoben.

Im Rahmen der den nächsten Tag eröffnenden Buchpräsentation von Günther Heegs Fremde Leiden­schaften Oper. Theater der Wiederholung widmeten sich er und Merle Fahrholz der Grand Opéra und ihren Auswirkungen. Heeg stieg ein mit einer Sezierung der sogenannten „Ästhetik des Antisemitismus“ in der Meyerbeer-Rezension. Wagner und ideologisch Gleichgesinnte sahen in Meyerbeers Opern das Prinzip von Wirkung ohne Ursache erfüllt, warfen ihnen Oberflächlichkeit vor und sprachen ihnen dadurch jegliche Originalität ab. Einen Grund für die ästhetischen Differenzen zwischen Wagner und Meyerbeer, sah Heeg im unterschiedlichen Verständnis der beiden davon, wie und v. a. wessen Emotionen auf der Bühne eine Rolle spielen sollten. Bei Wagner galt die Authentizität des künstlerischen Subjekts als Primat, während Meyerbeer und vertreten durch ihn die Grand Opéra „kollektive Gefühle“, also gesellschaftliche Zustände und Stimmungen durch die Rollen auf der Bühne porträtierten. Die „Leidenschaften in der Oper“ seien somit „nicht unbedingt die der Akteure.“ Fahrholz ergänzte, indem sie am Beispiel der Opern Templer und Jüdin, Die Stumme von Portici und Guillaume Tell deren soziologisch-reflexive Funktion herausstellte, die. Diese zeige sich darin, dass eben genannte Werke die Nivellierung von Ständeunterschieden und die Annäherung von Fremden betone. Die Grand Opéra als „Historienbild in Bewegung“ fungiere als Vehikel einer imagi­nativen Teilhabe des Publikums an politischer Macht. Dies wusste Heeg am Ende des Gesprächs in eine Theorie des „Theaters der Wiederholung“ zu bündeln: In einer Gegenwart ohne festgelegte Heils­versprechen wird die Wiederholung von Vergangenem und das In-Beziehung-Treten der Gegenwart zur Vergangenheit zur notwendigen kulturellen Praxis und dadurch die Wiederholung selbst zur Kulturtechnik. Das Schlusswort des Gesprächs bildete die These, die Geschichte selbst sei ein „Theater der Wieder­holung“.

Günther Heeg exemplifizierte im Anschluss seine Überlegungen am Beispiel der dritten Oper des Wagner-Kosmos: Frédégonde. Sein Referat betrachtete den Stoff der Kollaboration Girauds und Saint-Saëns, zeigte Parallelen zwischen ihm und Wagners Ring auf und präsentierte schlaglichtartig verschiedene Aspekte der Oper in ihrem politischen und gesellschaftlichen Kontext. Auch wenn die „imaginierte Ursprungsgeschichte“ der Grande Nation, vorrangig in der Version Thierrys verbreitet, ein „Fremdkörper“ im Fin de Siècle gewesen sei, habe die Merowinger-Sage auch wegen ihrer Gewaltexzesse fasziniert. Dass hier machtvolle, kalkulierende und grausame Frauen weichen und ausgelieferten Männern gegenübergestellt sind, nährt sich aus dem damals weit verbreiteten Topos der Femme Fatale – eine Männerfantasie, die eine emanzi­patorische Lesart dieser starken Frauengestalten ausschließe. Vielmehr zeige sich hier eine Manifestation von männlichen Ängsten vor einer Eroberung des Männlichen durch das Weibliche, ergo eine „Ent­männlichung“. Die Gemeinsamkeiten von Wagner und Giraud/Saint-Saëns sah Heeg vor allem im Konzeptuellen: Die Wahl eines Gründungsmythos als Stoff. Der Ringmythos könne als Amalgam aus Sage und Geschichte, als – in Wagners Augen – Urmythos des deutschen Volkes angesehen werden. Die „kollektiven Gefühle“, die Heeg bereits im Gespräch mit Fahrholz der Grande Opéra attestiert hatte, könne man bei Frédégonde im Motiv der Rachgier finden. Die Erbfeindschaft Deutschlands und Frankreichs erfuhr durch den Krieg 1870/71 einen neuen Kulminationspunkt, analog dazu sind die Akte I, III und V in Frédégonde sehr kriegerisch. Die Verbindung eines Eskapismus in weit vergangene Zeiten mit dem Mythischen führe zu Erkenntnissen über die Gegenwart: Die Reflexion über die Gegenwart wird durch die historische Distanz des Stoffes erleichtert. 

Unter dem Motto „Liebste Feinde“ diskutierten abschließend Inga Mai Groote, Merle Fahrholz, Louis Delpech und Arnold Jacobshagen über französische und deutsche Musik zwischen 1870 und 1918, wobei gleich zu Beginn etablierte Narrative von ständigem Antagonismus oder gar Erbfeindschaft als zu relativierend und zu wenig komplex reklamiert wurden. Die deutsch-französische Musikbeziehungen seien facettenreicher als es die Polemik der Zeit auf den ersten Blick vermuten ließ. Insbesondere die Oper sei eine von Anfang an europäische Kunstform gewesen, die ständig von Künstlermigration (bspw. der Preuße Meyerbeer in Paris) und Kosmopolitismus profitierte. Stilistische Einflüsse seien multilateral in allen Nationen anzutreffen, National- und Individualstile oftmals nicht so klar umrissen, wie simplifizierende Nomenklatur es suggerieren. So stellte man heraus, Wagners „Gesamtkunstwerk“ sei eine Konzeption, die ohne die Grand Opéra nicht denkbar gewesen wäre, und rekurrierte dafür auf Anno Mungens Beitrag. Generell sei das Kosmopolitische ständiger Gegenspieler des Nationalismus. Deutsch-französische Unterschiede fand Groote in den Diskursen um die Musik, was vor allem an der besonderen Pariser Presselandschaft läge: Die Periodika seien deutlich vielfältiger, die schiere Masse an zu besprechendem Material ungleich größer – dadurch sei das Tempo des Diskurses ein schnelleres und somit auch die Vielfalt des auf den Stimmungspegel reagierenden Repertoires eine ausgeprägtere.

Am Ende wurde der „Wagner-Kosmos III“ selbst zum Gesprächsgegenstand, indem dessen Allein­stellungs­merkmale hervorgehoben wurden: wissenschaftliche und theaterpraktische Kontextualisierung von Werken und Inszenierungen, die Verbindungen offenlegt, Denkanstöße geben kann und einen Mehrwert für beides, sowohl die Inszenierungen als auch die wissenschaftlichen Beiträge schaffen können. Oder in den Worten der beschließenden Forderung des Moderators Albrecht Thiemann: „Dieses Format gehört nach Bayreuth!”