„Nationes, Gentes und die Musik im Mittelalter“
Gießen, 08.-11.09.2011
Von Marian Weiß, Gießen – 24.01.2012 | Vom 08. bis 11. September 2011 fand in Gießen eine internationale Tagung zum Thema „Nationes, Gentes und die Musik im Mittelalter“ statt, die von dem am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen beheimateten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsunternehmen „Gemeinschaftsbegriffe im lateinischen Musikschrifttum des Mittelalters“ unter Leitung von Frank Hentschel organisiert wurde. Ein international und interdisziplinär ausgerichtetes Auditorium aus Musikwissenschaftlern und Historikern, Sprach- und Liturgiewissenschaftlern diskutierte und analysierte charakteristische Gemeinschaftsbegriffe in ausgewählten musiktheoretischen Schriften des Mittelalters. Nach Hentschel sei es besonders dieser direkte Kontakt zu angrenzenden mediävistischen Disziplinen, der dabei helfe, die musiktheoretischen Texte durch „fachübergreifendes Know-How“ besser verstehen zu können.
Die von Stefan Tebruck (Gießen) moderierten „einleitenden Grundsatzthemen“ der Tagung fragten nach der Funktion von Gemeinschaftsbegriffen. Hans-Werner Goetz (Hamburg) untersuchte Gemeinschaftsbegriffe in der Historiographie des 9. bis 11. Jahrhunderts als „mögliche Indizien einer Nationenbildung“ und diskutierte die Tendenz, dass Volksnamen ab dem 8. beziehungsweise 9. Jahrhundert zunehmend durch entsprechende Territorialbegriffe ersetzt worden seien. Daran anschließend fragte Alheydis Plassmann (Bonn) nach dem Wert dieser Volksnamen, die, wenngleich von der causa scribendi des Autors abhängig, typische Motive aufwiesen. Plassmann arbeitete heraus, dass beispielsweise den Gemeinschaftsbegriff „Franci“ sowohl (pseudo-)etymologische Erklärungsmuster als auch ein dezidierter Rom- oder Trojabezug und das Berufen auf einen mythischen Helden der Vergangenheit geprägt hätten. Jürgen Strohtmann (Paderborn) untersuchte das „karolingische Ordnungsgefüge“ und stellte am Beispiel von Kapitularien heraus, dass der König als „Verbandsvorsteher“ der Großen im Karolingerreich fungiert und somit das von den schriftlichen Quellen bis in die 830er-Jahre imaginierte Bild eines Antagonismus beider Seiten nicht der „Herrschaftswirklichkeit“ entsprochen habe.
Im Zentrum der Tagung standen die drei Begriffsfelder Franci / Galli, Teutonici / Alemanni / Germani und Itali / Lombardi / Langobardi. Die Eckpunkte der einzelnen Themengebiete bildeten dabei konkrete musiktheoretische Textstellen einerseits und Vorträge übergeordneter historischer Thematik andererseits. Marie Winkelmüller (Gießen) erörterte eine Erwähnung des Aurelianus Reomensis, der in seiner „De musica disciplina“ den Sängern in „Galliae“ gewisse Eigenheiten in den Melodien ihrer Responsorien unterstellte. Rosamond McKitterick (Cambridge) untersuchte das 799 gegründete Kloster Werden und zeigte anhand der Werden zurechenbaren Schriften, dass die Fülle der überlieferten Texte den „Wissensspeicher eines Jahrtausends“ wiedergebe, kulturelle Vielfalt demonstriere und die den Schriften immanente gemeinsamen Vergangenheit somit ein Mittel der Identitätsbildung darstelle. Andreas Haug (Würzburg) untersuchte Berichte über die Abweichungen zwischen dem römischen Gesang in Rom beziehungsweise im fränkischen Raum und diskutierte die ihnen jeweils zugrunde liegenden Motivationen.
Im Themebereich Teutonici / Alemanni / Germani erörterte Uta Goerlitz (Konstanz) Herkunft und Verwendung des lateinischen Wortes „theodiscus“ beziehungsweise seines althochdeutschen Äquivalentes „diutisk“ und betonte dabei die Ambivalenz dieses Wortes am Beispiel des frühmittelhochdeutschen Annoliedes. Frank Hentschel (Gießen) untersuchte die 1357 entstandene „Musica“ des Johannes Boen, in der der Autor im Kontext der Solmisationssilben den „Alemanni“ unterstellt, sie können „nicht richtig singen“. Boen beobachte somit eine kulturelle Eigenheit, die die „Konstituierung einer Gemeinschaft der ‚Alemanni‘ außerhalb von Geographie und Sprache“ greifbar mache. Klaus-Jürgen Sachs (Erlangen) gliederte und analysierte den Traktat des Anonymus codicis Pragensis, der die Gemeinschaftsbegriffe „Itali et Suevi“ als Moment der Abgrenzung nutze.
Das Themenfeld Itali / Lombardi / Langobardi eröffnete Giancarlo Andenna (Mailand), der langobardische memoria, ihre territorialen Fugen und ihre Identität im süditalienischen Raum bis 1200 darstellte. Jörg W. Busch (Frankfurt/Main) diskutierte seine These, dass „Gemeinschaftsbegriffe von den ‚Anderen‘ geprägt werden.“ Dies verdeutlichte er am Beispiel des Innenblickes der „Lonbardi“ im Hochmittelalter, die eine klare und wertende terminologische Trennung in „Lonbardi“ als ursprüngliche Einwohner und „Langobardi“ als feindselige Eroberer aufwiesen. Gunnar Wiegand (Gießen) widmete sich zwei Musiktheoretikern: Die bei Theoger von Metz auffindbare Behauptung, dass im Zuge der Gesangspraxis der „Teutonici“ einige von ihnen die „Romani vel Itali“ nachahmen, lasse sich nach einer umfassenden Quellenansicht nicht bestätigen. Dagegen handele es sich bei der Erwähnung der „Langobardi“ in Aribos „De Musica“ um einen „Hinweis auf eine eigenständige musikalische Praxis des mailändischen Gesanges“. Joseph Dyer (Boston) wies durch eine Gegenüberstellung von römischen und beneventanischen Melodieverläufen auf einen engen Kontakt von Rom zu anderen Städten bei musikpraktischen Phänomenen hin. Angelo Rusconi (Lecco) beschrieb den „cantus ambrosianus“ als ein „symbol of the Milanese tradition(s) ‚against Rome‘“, das ab dem 9. Jahrhundert nach einer Phase greifbar werde, in der er noch als Abgrenzungsmoment zu den Karolingern für ganz Italien fungiert habe. Ein Blick auf die iberische Halbinsel rundete die geographische Anordnung der Tagung ab: Barbara Haggh-Huglo (Maryland) demonstrierte die „spanishness“ der Motettenhandschrift Madrid, Biblioteca Nacional 20486. Margaret Bent (Oxford) stellte einen neuen Versuch vor, den Verfasser „Jacobus“ des „Speculum musice“, des „most compendious treatise of the 14th century“, zu identifizieren und ihn nicht Lüttich, sondern „de Ispania“ zuzuordnen.
Im letzten Themenbereich „Region und Differenz“ stellte Susan Rankin (Cambridge) nach einer Analyse unter anderem westfränkischer und ostfränkischer Notationsarten fest, dass diese „fundamental similarities“ aufwiesen. Ihre Unterschiede dagegen wären nicht systematischer Natur, sondern den persönlichen Eigenarten der Schreiber geschuldet, weshalb kontextuell keinesfalls von „differences“, sondern von „diversity“ gesprochen werden müsse. Oliver Huck (Hamburg) diskutierte das bei italienischen Musiktheoretikern des 14. Jahrhunderts greifbare Phänomen der Unterscheidung des modus cantandi in einen „modus ytalicus“ beziehungsweise „gallicus“ und verglich diese (Musik-)Theorie mit der Musikpraxis. Wolfgang Hirschmann (Halle) untersuchte die Verknüpfung von Landschaft und Klima an Gemeinschaftsbegriffe als ein „Beispiel für die mittelalterliche Fülle an Denkmustern“. So schildere der im frühen 14. Jahrhundert entstandene anonyme „Liber artis musicae“, dass die ebene Landschaft die Tonarten der „orientali“ weich und ihren Gesang „weibisch“ mache, die rauen Gebirgszüge der „occidentali“ jedoch deren raue Stimmen begründe, während die „mediterranes“ durch ein gemäßigtes Klima den perfekten Mittelweg gefunden hätten.
Die Tagung konnte durch ihre Kombination von detaillierten Analysen musiktheoretischer Traktate einerseits und übergeordneten historischen Fragestellungen andererseits eine große Bandbreite an Motiven, Denkmustern und Ideenwelten illustrieren, die im Kontext der Erwähnung von Gemeinschaftsbegriffen in den Quellen greifbar sind. Max Haas (Basel) konstatierte, dass die Gesamtheit der mittelalterlichen Quellen „gemeinsame Grundprobleme aufweist, die von Forschern aus verschiedenen Disziplinen angegangen und diskutiert werden müssen.“ Das Potential dieses Vorgehens wurde auf der Tagung dahingehend deutlich, dass Experten anderer Disziplinen dem Vortrag eines vermeintlich fremden Faches neue Fragestellungen und Denkanstöße geben konnten: Disziplinäres Expertenwissen scheint somit unabdingbar, aber besonders im interdisziplinären Austausch fruchtbar. Die Tagung und das dazugehörige DFG-Projekt sehen sich auf dem Weg zu einer systematischen kulturwissenschaftlichen Interdisziplinarität an einem noch frühen Zeitpunkt befindlich und verstehen sich als Impetus, diese oft nur vordergründig anzutreffende Kluft zwischen den verschiedenen mediävistischen Disziplinen schichtweise auszufüllen.