„Russian and Soviet Music: Reappraisal and Rediscovery / Rossijskaja i sovetskaja muzyka: Pereosmyslenie i otkrytie zanovo“

Durham, 11.-14.07.2011

Von Albrecht Gaub, Madison (Wisconsin) – 24.01.2012 | Der zweisprachige Titel verrät es: Um russischen Teilnehmern entgegenzukommen, wurde bei der bisher größten internationalen Tagung über russische Musik Russisch als Konferenzsprache zugelassen. Etwa ein Drittel der über hundert Beiträge wurde auf Russisch präsentiert, darunter die dritte keynote address von Marina Rachmanova (Moskau). Rachmanova war allerdings nicht anwesend. Dem Vernehmen nach war ihr und einigen weiteren russischen Teilnehmern das Visum verweigert worden. Dies war einigermaßen befremdlich, da man seit dem Ende der Sowjetunion derlei Geschichten kaum noch gehört hatte. Allerdings sind die britisch-russischen Beziehungen seit dem Mord am ehemaligen Spion Aleksandr Litvinenko (2006) im wörtlichen Sinne vergiftet und nicht mit den deutsch-russischen zu vergleichen. Der russische Konsul reiste dennoch aus Edinburgh zum Festbankett an. Die Vorträge der Abwesenden wurden verlesen.

Rachmanovas Vortrag handelte von Errungenschaften und Problemen der russischen Musikwissenschaft seit dem Ende der Sowjetunion. Dabei wurde unfreiwillig offenbar, wie tief das alte, zentralistische Denken immer noch verwurzelt ist. Rachmanovas Ausführungen über die russische Musikgeschichtsschreibung gingen implizit von der Notwendigkeit einer neuen, verbindlichen Gesamtdarstellung aus. Sie beschrieb das Projekt, an dem häufig Autorenkollektive beteiligt sind, als nationale Aufgabe. Wohl würdigte Rachmanova auch Einzelleistungen und -Studien, aber sie nahmen sich im Gesamtbild als Randerscheinungen aus. Dies mag freilich mit dem Mangel an Publikationsmöglichkeiten zusammenhängen. Seit der Auflösung des sowjetischen Staatsverlags gebärdet sich die russische Musikwissenschaft diesbezüglich hilflos. Auch Informations- und Vertriebswege sind zusammengebrochen. Rachmanova schilderte, wie sie bei jeder Reise nach St. Petersburg einen Koffer voll Moskowiter Neuerscheinungen mitnehme und von St. Petersburg mit Büchern von dort zurückkomme. Die Zeitschrift Muzykal’naja akademija stehe vor der Einstellung, ohne dass es andere Periodika gebe. Die Möglichkeit, eigenmächtig online zu publizieren, blieb unerwähnt. Vermutlich scheuen viele davor zurück, weil zum zunftgemäßen wissenschaftlichen Publizieren seit sowjetischen Zeiten ein ritualisiertes Begutachtungswesen (vergleichbar dem angelsächsischen peer review) gehört.
Die beiden anderen keynote addresses wurden von den Galionsfiguren der Szene in den USA und in Großbritannien – Richard Taruskin (Berkeley) und Marina Frolova-Walker (Cambridge) – vorgetragen. Taruskin hielt ein Plädoyer für eine Erforschung der russischen musikalischen Emigration nach 1917 als Gruppenphänomen; die vorhandene Literatur zur russischen Emigration pflegt die Musik aus der Betrachtung auszugrenzen. Frolova-Walker kritisierte Tendenzen zur Vorverurteilung von Musik aus der sowjetischen Ära aus besserwisserischer westlicher Perspektive und trat für die Anerkennung eines sozialistisch-realistischen Musikstils ein, der mitnichten eine Fiktion sei. Zum Beweis der Familienähnlichkeit führte sie Beispiele von Vissarion Šebalin und Dmitrij Kabalevskij vor.
Beide Komponisten sind Schüler von Nikolaj Mjaskovskij, der demnach als Vater dieses Stils zu gelten hätte. Mjaskovskij war in Durham eine eigene Sitzung gewidmet, desgleichen Sergej Taneev. Die Dauerbrenner Prokof’ev und Šostakovič erhielten sogar je zwei Sitzungen zugebilligt, und weitere Vorträge über dieselben schlichen sich in andere Sitzungen ein. Auf der anderen Seite beschäftigten sich nur vier Beiträge mit dem „Mächtigen Häuflein“ und nur zwei mit Čajkovskij.
Gleichzeitig faszinierend und frustrierend ist, wie die russische Musikwissenschaft – zumindest diejenige Hälfte, die an den Lehrstühlen für russische Musik tätig ist oder von dort kommt – nach wie vor vornehmlich von der Suche nach dem genuin Russischen in der Musik umgetrieben wird, dabei eisern an metaphysischen oder gar mystischen Konzepten festhält – natürlich auch am Geniebegriff – und letztlich Züge einer Kunstreligion annimmt. Das Referat von Galima Amineva (Moskau) über Taneevs Musikphilosophie geriet zu einem Lobpreis auf die russisch-orthodoxe Ethik und ihre Verkörperung in Taneev und seiner Musik. Noch extremer fiel der Beitrag von Oksana Aleksandrova (Char’kov) über Georgij Sviridov als Philosoph und Komponist aus. Eine kritische Frage aus dem Publikum, bezogen auf Sviridovs Nationalismus und künstlerischen Konservativismus, führte dazu, dass etliche russische Delegierte den Saal verließen. Bei Wissenschaftlern, die ihr ganzes Leben nicht aus Russland hinausgekommen sind, mag dergleichen nicht verwundern, aber wenn sogar Ildar Khannanov (Baltimore), der seit über zehn Jahren in den USA lebt und am Peabody Conservatory lehrt, der Kritik von Taruskin und Frolova-Walker, die genuin russische Nationalmusik sei ein Mythos, eine Apotheose des Moskauer Theorielehrers Jurij Cholopov entgegenstellt und diesen als Zeugen einer genuin russischen Musik und Schöpfer einer genuin russischen Musiktheorie (gegründet auf Zahlenmystik!) anruft, kann man kaum anders als befremdet sein. Man wird jedoch akzeptieren müssen, dass die russische Grundhaltung gegenüber Kunst und Künstlern die Ehrfurcht ist. Und von einer „Ghettoisierung“ (Taruskin) der russischen Musik zu sprechen ist schon deshalb problematisch, weil sich die Russen vorzugsweise selbst ausgrenzen.
Nicht viel anders sieht es in den ehemaligen Sowjetrepubliken aus, die in Durham vielstimmig vertreten waren. Auch hier wird mit aus der Sowjetunion ererbten Methoden jeweils die Geschichte (der Mythos?) einer autochthonen Nationalmusik geschrieben, vorzugsweise in der jeweiligen Landessprache. Aus der Außensicht ergibt sich ein stark irrational gefärbter Provinzialismus. Parallelen zum Osteuropa der Zwischenkriegszeit sind nicht zufällig.
In der Quellenforschung stellen sich derlei Probleme weniger, und hier kann die postsowjetische Musikwissenschaft auch am besten überzeugen. Exemplarisch sei das Referat von Jaroslav Timofeev (Moskau) über die Neufassung von Musorgskijs Chovanščina durch Sergej Djagilev, Maurice Ravel und Igor’ Stravinskij (1913) genannt, ein lange verschollenes Phantom, das durch neue Quellenfunde allmählich wieder Gestalt annimmt. Postmoderne philosophische Konzepte, Semiotik u.a. haben in der russischen Musikwissenschaft bisher wenig Spuren hinterlassen, auch wenn sie bei einigen der unzähligen Emigranten fruchtbar geworden sind. Die wenigen Konferenzbeiträge zu den gender studies stammten von englischen Muttersprachlern. Musikethnologische Referate gab es zuhauf. Der thematisch ausgefallenste Beitrag, von Polina Dessiatnitchenko (Toronto), handelte von Gerasim Lebedev, einem Russen, der Ende des 18. Jahrhunderts in Kalkutta wirkte, mit einheimischen Musikern Musik zu einem Schauspiel in bengalischer Sprache schuf und sich den Argwohn der britischen Kolonialherren zuzog.
Die englischsprachige Wissenschaft – ob auf den Britischen Inseln, in Nordamerika oder in Australien – hat freilich auch ein Problem: Wenn sie von „Western scholarship“ spricht, meint sie hauptsächlich sich selbst. Arbeiten und Strömungen auf dem europäischen Kontinent werden höchstens am Rande zur Kenntnis genommen. In diesem Zusammenhang ist bedauerlich, dass Italien und Frankreich in Durham stark unterrepräsentiert waren. Deutschland war stärker vertreten. Auch China und Japan hatten Delegierte entsandt.
Besonderes Lob gebührt Patrick Zuk (Durham), der die Organisation der gewaltigen Veranstaltung fast im Alleingang stemmte. Er übersetzte, oft in letzter Minute, russische Beiträge, damit sie mit dem Beamer auf Englisch an die Wand projiziert werden konnten, hielt einen Vortrag über Dmitrij Šepilov, einen Drahtzieher der „antiformalistischen“ Kampagne von 1948, und begeisterte die Teilnehmer als Begleiter der ukrainischen, in England lebenden Sopranistin Nataliya Kompaniyets-Jouri in einem pianistisch äußerst anspruchsvollen Programm aus Liedern von Sergej Taneev, Mjaskovskij, Šebalin, Michail Gnesin, Aleksandr Aljab’ev und Sergej Rachmaninov.