The Art of Listening – Trends und Perspektiven einer Geschichte des Musikhörens

Berlin, 12.-14.07.2012

Von Matthias Haenisch & Lydia Rilling, Berlin – 01.09.2013 | Vom 12. bis zum 14. Juli 2012 fand im Radialsystem V in Berlin die internationale Konferenz „The Art of Listening – Trends und Perspektiven einer Geschichte des Musikhörens“ statt. Ziel der Konferenz war es, zum einen Bilanz des aktuellen Stands der Forschung seit James Johnsons Studie Listening in Paris (1995) zu ziehen und zum anderen Perspektiven zu weiteren Forschungsdesiderata aufzuzeigen. Dass die Geschichte des Musikhörens seit Mitte der 1990er Jahre in verschiedenen Disziplinen auf großes Interesse stößt, wurde schon dadurch ersichtlich, dass die Konferenz gemeinsam von dem Musikwissenschaftler Christian Thorau (Universität Potsdam) und dem Kulturhistoriker Hansjakob Ziemer (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin) konzipiert und organisiert wurde.

Bemerkenswert groß war insbesondere im Kontext der deutschen historischen Musikwissenschaft die thematische Vielfalt und Bandbreite der Konferenz. In insgesamt 32 Vorträgen wurden unterschiedlichste Aspekte der Geschichte des Musikhörens beleuchtet, die sich in neun Themenbereichen zusammenfassen lassen: Anthropologische Perspektiven sowie historische und soziologische Taxonomien des Hörens (Richard Leppert, Alexandra Supper, Holger Schulze, Benjamin Steege), emotionsgeschichtliche Aspekte des Hörens sowie Hören als soziale Praxis (Sven Oliver Müller, Hansjakob Ziemer, Neil Gregor), die Transformation des Hörens unter den Bedingungen der Technisierung und Medialisierung (Thomas Schopp, Jens Gerrit Papenburg, Sonja Neumann, Alexandra E. Hui, Jonathan Sterne), intra-, inter- und transkulturelle Aspekte des Hörens (Vanessa Agnew, Kira Thurman, Christina Bashford, Christian Thorau), architektonische, soziale und mediale Räume des Musikhörens (Viktoria Tkaczyk, Gesa zur Nieden, Sarah Zalfen), die Verbindung der Sinne beim Hören und Sehen (Tobias Plebuch, Lydia Goehr, William Lockhart), der implizite Hörer (Fred Everett Maus, Wolfgang Fuhrmann, Christoph Dennerlein), Musikhören in spezifischen historischen Situationen (Katharine Ellis, William Weber, Christiane Tewinkel) und schließlich avantgardistische Konzepte von Hörhaltungen (Martha Brech, Marcus Zagorski).

Die beiden Keynotes der Konferenz folgten dem Ziel, zentrale Probleme und richtungsweisende Fragen einer historischen Musikhörforschung zu diskutieren. James Johnson (Boston), der mit Listening in Paris (1995) einen der Grundsteine der aktuellen kulturwissenschaftlichen und historischen Hörforschung gelegt hatte, thematisierte vor allem Fragen der Methodologie und Quellenlage. Dabei wurde deutlich, dass die große Herausforderung einer Historiographie des Hörens darin besteht, auf der Grundlage vor allem literarischer und künstlerischer Dokumente und mit hohem interpretativen Aufwand auf Hörverhalten schließen zu müssen, das selbst nicht beobachtet werden kann. Wolfgang Gratzer (Salzburg) diskutierte die für die Rolle des Hörers wichtige Frage, ob Hören selbst als eine Kunst aufzufassen sei und entwickelte dazu Kategorien einer Funktionsbestimmung des Hörens. Dabei reichte das Spektrum von empathischen, verstehenden und wertenden über therapeutische Funktionen bis zum Konzept des Hörens als mehrpoligem Prozess.

Der Schwerpunkt der Konferenz lag auf historischen Rekonstruktionen des Hörens. Immer wieder wurde dabei deutlich, dass von „einer“ Geschichte des Musikhörens kaum die Rede sein kann. Exemplarisch standen dafür Katharine Ellis’ (London) Differenzierungen von James Johnsons Listening in Paris. In ihrem Vortrag untersuchte sie, was „nach“ Johnson passierte und legte überzeugend dar, dass trotz der allgemeinen Entwicklung zum „stillen Zuhören“ andere Formen des Zuhörens nicht gänzlich verschwanden. Stattdessen sei die Demokratisierung der musikalischen Hochkultur gerade damit einhergegangen, dass diese auch in Kontexten präsentiert wurde, in denen das stille Zuhören nicht gefordert worden sei. William Weber (Long Beach), der mit Music and the Middle Class: The Social Structure of Concert Life in London, Paris and Vienna 1830‑48 (1975) eine der ersten wegweisenden Studien zum historischen Musikhören vorgelegt hatte, argumentierte ähnlich für eine Vielfalt des Musikhörens im 19. Jahrhundert. Anhand von Konzertprogrammen aus Paris, Bad Homburg und Berlin zeigte er mithilfe von Bourdieus Habitus-Begriff und dem Begriff des Eklektizismus, wie Stücke in „crossover“-Programmen von einer Sphäre eines musikalischen Habitus in eine andere wechselten. Die „gemischten“ Programme resultierten dabei seiner These nach aus der Fragmentierung des Musiklebens im 19. Jahrhundert.

Musikhören als soziale Praxis in bestimmten historischen Situationen analysierten die Kulturhistoriker Hansjakob Ziemer (Berlin) und Neil Gregor (Southampton). Ziemer untersuchte emotionale Hörerfahrungen in deutschen Konzertsälen im Kontext der „emotionalen Landschaft“ des I. Weltkriegs und legte überzeugend dar, wie sich im Zuge der allgemeinen Instrumentalisierung von Musik die Atmosphäre in den Konzertsälen veränderte. Seiner These nach unterstützten die Konzerte bei den Zuhörern die Vorstellung von nationalen Gemeinschaften sowohl zwischen Zuhörern und Komponisten der Vergangenheit, vor allem Beethoven, wie auch zwischen Zuhörern und Soldaten an der Front, an der Musik wie in der Heimat als emotionale Kraft eingesetzt wurde.

Neil Gregor präsentierte seinen Ansatz, Musik als Zugang zu einer historisch spezifischen Erinnerungskultur zu begreifen. Anhand von Interpretationen von Richard Strauss’ Metamorphosen versuchte er, das „period ear“ der Nachkriegszeit zu lokalisieren. Dieses habe Strauss’ Komposition weniger als Lamento der Zerstörung denn als nostalgische Erinnerung an den verlorenen bildungsbürgerlichen Habitus der Vorkriegszeit gehört. Mit seinem Forschungsansatz wandte sich Gregor auch gegen die von ihm kritisierte Fokussierung der memory studies auf Ereignisse, auf die sich emotionale Landschaften seiner Meinung nach nicht reduzieren ließen.

Zugleich historiographisch und methodologisch ausgerichtet war Christian Thoraus (Potsdam) Konzept eines „touristischen Hörens“. Aus semiotischer Perspektive analysierte Thorau die strukturellen Gemeinsamkeiten von Touristen und Musikhörern, wie sie sich in Programmheften und Konzertführern im Vergleich mit Reiseführern beobachten lassen. Dabei konzipierte Thorau die bürgerliche Musikrezeption als eine musikalische Bildungsreise.

Kritik an den bisherigen Ansätzen, Methoden und Ergebnissen der Hörforschung wurde im Rahmen der Vorträge aus unterschiedlichen Perspektiven geäußert.

Die Musikphilosophin Lydia Goehr (New York) sorgte für lebhafte Diskussionen mit ihrer auch im weiteren Verlauf der Konferenz immer wieder aufgenommenen These, das Hören erfahre in der bisherigen Forschung eine ähnliche Überhöhung wie das Werk in der Geschichte der bürgerlichen Musikkultur. Indem in der Musikhörforschung, so Goehr, der Rezeptionsvorgang an die Stelle des Werkes trete, betreibe sie eine Fortschreibung spezifisch bürgerlicher ästhetischer Prämissen.

Holger Schulze (Berlin) kritisierte aus anthropologischer Perspektive, dass die gegenwärtige Hörforschung überwiegend kulturell und historisch limitiert sei. Vor dem aktuellen Hintergrund der sound studies verwies Schulze vor allem auf die allzu oft übergangene Korporalität des Hörens und plädierte für eine transkulturell orientierte Musikhörforschung.

Fred Everett Maus (Charlottesville) sorgte mit seinem Vortrag für eine notwendige Diversifizierung der Konferenzperspektiven, indem er als einziger gender studies in die Diskussionen einbezog. Dabei setzte er Ansätze von Susan McClary und Suzanne Cusick in Beziehung zum Nachdenken über musikalisches Hören und griff dabei vor allem auf McClarys Parallelisierung von Hören und Sexualität zurück.

Christiane Tewinkel (Berlin) machte indirekt auf eine nicht reflektierte Prämisse der meisten Vorträge aufmerksam, indem sie darauf hinwies, dass Stille nicht notwendigerweise auch konzentriertes Zuhören bedeutet. Sie untersuchte, wie die „Störung“ des Hörens, mithin das Phänomen des Nicht-Zuhörens, in wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Literatur dargestellt wird.

Insgesamt präsentierte die Konferenz eindrucksvoll die Möglichkeiten und Herausforderungen einer Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Als erfolgreich erwies sich dabei die Konzeption der großen thematischen Vielfalt und der Verbindung unterschiedlichster Disziplinen. Wie groß das Interesse an der Hörforschung ist, zeigte sich am durchweg großen Andrang von Zuhörerinnen. Dabei verband die Konferenz Publika verschiedener wissenschaftlicher communities, die sonst kaum die selbe Konferenz besuchen. Die in der Abschlussdiskussion geäußerte Kritik, Bereiche wie z.B. die Popmusik seien zu kurz gekommen, war zwar plausibel, allerdings kam es der Konferenz letztlich zugute, innerhalb von drei Tagen nicht alle Bereiche gleichermaßen abdecken zu müssen. Der Schwerpunkt der Konferenz lag zweifellos auf der bürgerlichen Musikkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und folgte damit einer eher traditionell musikwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung. Motiviert scheint diese Konzentration auch von der eingeschränkten und leichter zu überblickenden Quellenlage zu sein. Interessanterweise wurde die Verbindung von Hörforschung mit detaillierter Partituranalyse in nur wenigen Fällen unternommen.

Trotz der großen Anzahl und thematischen Bandbreite der Vorträge entwickelte sich eine kontinuierliche Diskussion, die sich durch ein hohes Maß gegenseitiger Bezugnahme auszeichnete. Als ein wichtiges Ergebnis dieser Diskussionen ergab sich die Notwendigkeit einer verstärkten Auseinandersetzung mit methodologischen Fragen, die bisher kaum explizit diskutiert worden sind. So forderte zum Beispiel Hansjakob Ziemer eine Problematisierung der Quellen sowie der häufigen Verwendung von Gemälden als Argumente im Sinne einer Ikonographie des Hörens. Grundsätzlich sei es außerdem notwendig, nicht nur von idealtypischen Hörerkonstruktionen auszugehen, sondern verstärkt zu untersuchen, wo diese Hörtypologien nicht greifen. Schließlich wurde wiederholt deutlich, wie viel die Hörforschung in Hinblick auf die Entwicklungen und Veränderungen des Musikhörens im 20. und 21. Jahrhundert noch zu leisten hat. So viel die Hörforschung seit Mitte der 1990er Jahre geleistet hat, so viel liegt zweifellos noch vor ihr.