Rezeption und Kulturtransfer. Deutsche und französische Musiktheorie nach Rameau

Mainz, 28.09.2013

Von Anne-Sophie Lahrmann, Mainz – 15.12.2013 | Am 28.September 2013 versammelten sich Musikwissenschaftler und Musiktheoretiker internationaler Provenienz unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Birger Petersen in der Hochschule für Musik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, um sich über das Thema ‚Rezeption und Kulturtransfer. Deutsche und französische Musiktheorie nach Rameau‘ auszutauschen. Die Geschichte der Rameau-Rezeption in Deutschland ist eine Geschichte der Missverständnisse. Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Kontext die Aneignung von Terminologie, aber auch die deutsch-französische Sprachbarriere, die trotz der Gültigkeit des Französischen als lingua franca des 18. Jahrhunderts im Bereich des fachlichen Austauschs deutlich wird. Der deutsch-französische Kulturtransfer des 18. Jahrhunderts scheint dabei im Bereich der Musiktheorie ein einseitiger zu sein: Deutschsprachige Texte wurden in Frankreich nicht oder kaum zu Kenntnis genommen. Im Rahmen des Symposiums, das Teil eines Forschungsprojekts der Hochschule für Musik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist, wurde dieses Problemfeld interdisziplinär aufgearbeitet.

Die erste Sektion „Rameau und die deutsche Musiktheorie des 18. Jahrhunderts“ eröffnete Théodora Psychoyou (Paris) mit ihrem Vortrag zum Thema Quelle réception de la théorie allemande en France? Brossard, Rameau et les chemins d’influence au début du XVIIIe siècle, in dem sie der Frage nach einer nationalen Musiktheorie und der Bedeutung der Sprache als Barriere des deutsch-französischen Austauschs nachging.Daraufhin befasste sich Nathan Martin (Leuven) mit dem Thema Die phrase harmonique bei Rameau. Hierbei zeigte er zum Einen harmonische Prinzipien in Rameaus Traité de l’harmonie auf, räumte aber zum Anderen auch mit dem Missverständnis um Rameau auf, dieser befasse sich nur mit einzelnen Akkorden, nicht aber mit der harmonischen Organisation ausgedehnter musikalischer Phrasen, wozu er nicht dessen spekulative Schriften, sondern seine praktisch orientierten Traktate zu Rate zog.Daran anschließend sprach Thomas Christensen (Chicago) über weitere Missverständnisse in der Rezeptionsgeschichte unter dem Titel Mis-Reading Rameau: The German Reception of Rameau’s Music Theory in the 18th Century. So stellte er heraus, dass selbst bedeutende deutsche Theoretiker Mitte des 18. Jahrhunderts wie Sorge, Hartung, Schröter, Daube und sogar Marpurg das für die gegenwärtige Rezeption bedeutungsvollste Element Rameauscher Theoriebildung – die basse fondamentale – in ihrer Diskussion ausließen und sich nur auf Fragen der Akkordbildung und deren Grundtonzuordnung konzentrierten. Dies fand Christensen in der Divergenz von phänomenologischer (und damit weniger rationaler) und bisher vorherrschender spekulativer Sichtweise in der Theoriebildung dieser Generation begründet.Inwieweit kannte aber einer der bedeutendsten deutschen Musiktheoretiker, Johann Mattheson, die Schriften Rameaus überhaupt? Wo hörte bei ihm kritische Auseinandersetzung auf und fing reine, im Laufe der Zeit immer häufiger zu findende Polemik an? Liegt mit dem Dualismus von „Melodie versus Harmonie“ ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den musiktheoretischen Grundlagen zweier bedeutender Theoretiker vor, der mit dem historischen Fundament dieser Denker erklärt werden kann? Diese Fragen stellte und beantwortete Birger Petersen (Mainz) in seinem Vortrag «Zwo Untzen gesunder Urtheils-Krafft». Johann Matthesons Auseinandersetzung mit französischer Musiktheorie in den zwanziger und dreißiger Jahren.

Den Abschluss dieser Sektion bildete der Vortrag von Moritz Heffter (Freiburg) zum Thema Reflexion der theoretischen Schriften Rameaus in Deutschland – Grauns Briefwechsel mit Telemann. In diesen Briefen tauschten sich die beiden über unterschiedliche musikalische Vorstellungen im Bereich des Rezitativs anhand von Beispielen aus Rameaus Oper Castor et Pollux aus und diskutierten Fragen der Satztechnik in Verbindung mit Rameaus Traité.

Die zweite Sektion zum Thema Rameau, Frankreich und das 19. Jahrhundert eröffnete Fabian Kolb (Mainz) mit seinem Vortrag Rezeption als intralinguale Translation? Denkkulturen, Diskursformen, Präsentationsmodi und Funktionszusammenhänge der Rameau-Rezeption im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in dem er die Rezeption der ramistischen Theorie in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und vor allem Umbrüchen Frankreichs im späten 18. Jahrhundert brachte und unter neueren Gesichtspunkten der Kommunikations- und Translationswissenschaften betrachtete. Diesem folgte der Vortrag Nathalie Meidhofs (Freiburg) zu »un système vicieux« – A. E. Chorons Musiktheorie »des Écoles d’Italie« als Beispiel für französischsprachige Rameau- Rezeption Anfang des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel von Chorons Definition des ‚accord fondamental‘ stellte sie das produktive Spannungsverhältnis zwischen Reminiszenz an den Erfinder des systême de la Basse fondamental einerseits und dem Selbstbewusstsein andererseits, das sich aus der Kenntnis fremdsprachiger Akkordkonzepte ergab, dar. Daraufhin sprach Jonathan Gammert (Mainz) über Die Rolle Jean-Philippe Rameaus bei Hugo Riemann. Dabei stellte er die ständig wechselnden Rameau-Bilder Riemanns vor, auf die einige Beobachtungen folgten, wie Riemanns Rameau-Rekurse, das produktive Missverstehen und die teleologische Einbindung sich auf die spätere Musiktheoriegeschichtsschreibung auswirkten. Den letzten Vortrag hielt Jan Philipp Sprick (Rostock) zum Thema Rameau-Rezeption in der deutschen Harmonielehre des 19. Jahrhunderts, der an den vorherigen Vortrag mit einigen Aspekten zu Riemanns Rameau-Rezeption anschloss und diese weiterführte in die Frage nach Zusammenhängen mit der institutionellen Situation der Musiktheorie an den neugegründeten deutschen Konservatorien.

Der Tag wurde mit einer regen Diskussion am Roundtable mit dem Thema Rezeption und Kulturtransfer: Musiktheorie als geisteswissenschaftliche Disziplin im 18. Jahrhundert beendet.