2017 International Forum on the Construction of Music Theory

Shanghai, 08.-11.11.2017

Von Gesine Schröder, Leipzig / Wien – 20.02.2018 | Anlässlich seines 90-jährigen Bestehens richtete das von dem Riemann-Schüler Xiao Youmei mitbegründete Konservatorium Shanghai im November 2017 ein Forum aus, zu welchem 23 Rednerinnen und Redner – nicht aus der ganzen Welt, aber aus China, Deutschland, England, Frankreich, Österreich und den Vereinigten Staaten – geladen waren. Das Generalthema des Forums lautete „China and the World: The Thinking and Ideology of Music Theory and Graduate Education“. Die drei Unterthemen waren „Trend and development of culture and ideology-based music theory“, „New thinking, new methods, and new technologies of music theory research in the 20th century“ und „Graduate education and graduate programme development for music theory-related disciplines“. Aus allen Landesteilen Chinas waren Musiktheoretikerinnen und Musiktheoretiker angereist, um an dem Forum teilzunehmen. Das für musiktheoretische Veranstaltungen ungewöhnlich große Publikum nutzten ehemalige Absolventinnen und Absolventen der wichtigsten chinesischen Konservatorien offenbar flugs für Klassentreffen. Der Optimismus, den das General- und die Unterthemen verbreiteten, war für die Geladenen ein Signal, sich mit Reflexionen über vergangene Theorien nicht lange aufzuhalten. Profitieren will man am Konservatorium Shanghai von jüngst erfundenen musiktheoretischen Forschungsmethoden, allerneuesten Analysetechniken und von zukunftsträchtigen Studienprogrammen. Betont wird Ideologie – verstanden als geistige Haltung oder Weltanschauung, nicht als falsches Bewusstsein –, ein vorauseilender Tribut an die städtische Erziehungskommission Shanghais, welche Rückbesinnungen marxistischen Anstrichs offensichtlich neuerdings begrüßt und dem Konservatorium bei deren Ausbleiben die großzügige finanzielle Unterstützung womöglich entzogen hätte. So aber fühlten sich die Gäste des Konservatoriums Shanghai als Kaiserinnen und Kaiser von China: Reisekosten wurden übernommen, ein Luxushotel gleich neben dem Konferenzraum war da, man hatte immerwährende studentische Unterstützung und wurde über Kopfhörer durchgehend mit Simultan-Übersetzungen der chinesischen Vorträge und Diskussionsbeiträge versorgt. Was will man mehr?

Das Konservatorium Shanghai versteht sich als beste Musikhochschule Chinas. Offiziell ist das Zentralkonservatorium die Nummer Eins, was sich darin niederschlägt, dass es von der Zentralregierung und nicht von der Stadt oder der Provinz unterhalten wird. Die Themen des Forums waren einigermaßen diffus und erlaubten so ziemlich über alles zu sprechen, solange man sich nicht melancholisch in die Vergangenheit versenkte. Dabei war die Auswahl der Rednerinnen und Redner sowie die Reihenfolge, in der sie auftraten, aber von tausenderlei Rücksichten bestimmt. Der hauptverantwortliche Organisator des Forums, Zhang Wei, Vizechef der Graduiertenschule des Konservatoriums, lieferte hier ein Meisterstück an Diplomatie. Mitglieder des Pekinger Zentralkonservatoriums wurden selbstverständlich nicht übergangen. Jia Guoping, Xiang Min, Yao Heng-lu und Liu Kanghua sprachen: Der erste, ein bemerkenswerter Komponist, der bei Lachenmann studierte und zugleich in einer Kombination, welche hierzulande kaum an einer größeren Lehranstalt anzutreffen ist, Direktor des musikologischen Instituts ist, forderte traditionsbewusste und gleichwohl flexible Analysemethoden ein. Der zweite,  heute Direktor der Lehr- und Forschungsabteilung für musikalische Analyse, mit Auslandserfahrungen als Gastforscher in Japan und durch ein Aufbaustudium in Komposition an der Eisler-Hochschule, gab einen Überblick über die Entwicklung und die Ziele, die am Zentralkonservatorium im Hochschulfach musikalische Analyse verfolgt werden. Der eigene Charakter des dortigen Bildungsweges bestehe in einer engen Verbindung zur künstlerischen Praxis und in einer Verfeinerung der ästhetischen Erziehung. Yao und Liu, beide als Autoren von Lehrbüchern im Lande bekannt, sind Emeriti des Zentralkonservatoriums. Während Yao, der in England promovierte, multiperspektivische Analysen vorschlug, die stets von der Hörerfahrung auszugehen hätten und die, exemplifiziert an neuer chinesischer Musik, den kulturellen Hintergrund von Kompositionen fokussieren sollten, skizzierte Liu, der von einem Studium am Moskauer Konservatorium herkommt und auf eine noch längere Lehrerfahrung am Zentralkonservatorium zurückblicken kann, wie die Betreuung der Doktorandinnen und Doktoranden effektiver zu gestalten sei. Um Fragen des Curriculums und insbesondere eines Kanons ging es auch in dem Vortrag von Natasha Loges (London). Sie machte plausibel, dass die in musiktheoretischen und musikologischen Fächern behandelten Gegenstände heute nicht mehr unabhängig von dem Bedarf bzw. Interesse der Studierenden von einem abstrakt bestimmten Bildungsideal her auszuwählen seien. In Folge habe sich das gesamte Konzept dessen zu ändern, was landläufig in musikalischen Studiengängen Theorie heißt. Mit curricularen Fragen befasste sich auch Martin Eybl (Wien). Er forderte, dass sich Musiktheorie erstens unter Bedacht multipler Perspektiven in eine essenziell historische Disziplin verwandeln solle, zweitens sollten sich musiktheoretische Untersuchungen der elektronischen Mittel und Software bedienen, mit denen Komponisten und Interpreten längst vertraut seien – wie auch in dem Vortrag von Mikhail Malt (Paris), eines am IRCAM und am IReMus der Sorbonne tätigen elektroakustischen künstlerischen Forschers, deutlich wurde –, und drittens solle sich Analyse primär als Praxis begreifen und damit den Prozess statt des Ergebnisses des Analysierens betonen. Stephen Jones (Provo, Utah) entwarf ein Bild künftiger musiktheoretischer Curricula im Netz. Dieses böte unschätzbare Möglichkeiten von Spieltechnologien und virtuellen musiktheoretischen Realitäten. Was Spiele trainieren, lief in den Beispielen, die man zu sehen bekam, auf mehrheitssichere theoretische Ansätze hinaus, der die Berichterstatterin ein Hebel’sches Kannitverstan vorzöge. Ähnlich optimistisch klang Dmitri Tymoczkos (Princeton) lange Einführung in die Geometrie der Musik. Tymoczko präsentierte neue Graphiken mit Tonortspiralen, deren spielerische bildliche Erscheinung von irritierenden klanglichen Ereignissen ablenkt. Musik ist demnach schön, wenn sie sich geometrisch aufzeichnen lässt. Eine kluge Shanghaier Dozentin für elektroakustische Komposition stellte im Anschluss an die Einführung dezent, aber unüberhörbar kritisch entscheidende Fragen.

Vom Konservatorium Shanghai sprachen Jia Daqun, Zhang Wei, Qian Renping, Chen Hongduo und Xu Mengdong. Letzterer berichtete über den Stand der neueren Forschung im Lehrgebiet Kontrapunkt und Fuge, das seit einigen Jahrzehnten in China eine Blüte erlebe. Chen, ein Musikologe und Leiter der Lehr- und Forschungsgruppe zur Analyse an der musikologischen Abteilung, mit Studien- und Forschungserfahrung in Wien (bei Diether de la Motte) und in Berlin (an der Humboldt-Universität), ist ein ausgewiesener Ligeti-Forscher. Beim Forum sprach er über das in Ligetis Konzept einer konsonanten Atonalität gelegene Potenzial für „unsere chinesischen Komponisten“. Qian, ein Spezialist fürs neueste Kompositionstechniken und Leiter der Forschungsabteilung des Konservatoriums Shanghai, führte anhand des Stücks Echos des Windes (2001) von Liu Jian ein Analyseverfahren für timbrale Funktionen vor. Der auch außerhalb Chinas viel beachtete Komponist und Autor mehrerer musiktheoretischer Monographien Jia präsentierte eine von ihm entworfene Typologie des strukturellen Kontrapunkts. Einen Einblick in seine Rhythmusforschungen zur Musik des 20. Jahrhunderts gab Zhang. Ebenfalls Zeitfragen, nun aber metaphorischen, galt der Vortrag der Berichterstatterin über temporale Konflikte in jüngster europäischer Musik. An Beispielen von Georg Friedrich Haas, Johannes Schöllhorn und Marko Nikodijević erörterte sie die Bedeutung von Stockhausens und Lachenmanns Konzepten der Eigenzeit für posttonale Stücke der letzten Jahre, die nicht mehr von dem Optimismus getragen sind, man könne vergangene Zeiten abschütteln.

Mit Einladungen an Repräsentanten anderer chinesischer Hochschulen hält man sich in Beachtung der Rangordnung in China tunlichst zurück, doch wurde die Reihe der Rednerinnen und Redner eröffnet mit einem Vortrag des hochgeehrten, gerade 80 Jahre gewordenen Komponisten Gao Weijie, der auf eine 57-jährige Lehrtätigkeit zurückblicken kann, hauptsächlich am China Conservatory in Peking. Anhand seines Stücks Leben im Berg (2016) demonstrierte er ein komplexes Verfahren der numerischen Kontrolle für heterophon verwendete pentatonische Zellen. Dass Mischungen von Ethnisch-Traditionellem und technisch Fortgeschrittenem auch bei europäischen Komponisten üblich sind, zeigte die Musiktheoretikerin Cheong Wai-Ling (Hongkong) an Messiaens experimentellen Versuchen mit pentatonisierten Zwölftonräumen. Die junge Musikologieprofessorin Wang Xuqing lehrt an der Hangzhou Normal University, mit Forschungserfahrung in Yale. Sie betrat mit ihren Untersuchungen zur musikalischen Rhetorik von der Renaissance bis in die Gegenwart ein in China eher unbekanntes Gebiet. Angewendet wurde eine rhetorische (und hier auch narrative) Untersuchung auf die Klavierperformance 14 Stations des neuseeländischen Komponisten Jack Body. Zu dieser Thematik passte die narratologische Deutung bestimmter Passagen bei Beethoven durch Martina Sichardt (Leipzig). Reinhard Bahr (Hamburg) brach eine Lanze für die vernachlässigte musiktheoretische Disziplin Melodielehre, welche er im Anschluss an Konzepte Christoph Hohlfelds an popularmusikalischen Beispielen erprobte. Zwischen der Hamburger Musikhochschule und dem Konservatorium Shanghai besteht seit Längerem ein Kooperationsvertrag, der Studierende wie Lehrende einbezieht, und wie Bahr lehrt auch der Komponist Chen Xiaoyong in Hamburg, wo er noch als Schüler Ligetis studiert hatte. Beim Forum stellte er seine Sicht auf die neuere chinesische Kompositionsgeschichte dar. Vor 40 Jahren, nach der Niederschlagung der Viererbande, habe die neue Musik wie ein Wassereinbruch über Nacht Chinas Tausende Jahre alte Zivilisation geflutet. Damals hätten sich viele Komponisten auf die Suche nach Kulturkreuzungen, -parallelen und –konvergenzen begeben. Ein anderer aus China ausgewanderter Komponist ist Lei Liang. Er lehrt in San Diego, unter anderem bei Harrison Birtwistle und Chaya Czernowin hat er studiert. An die Stelle des Leitspruchs „sowohl chinesisch als auch westlich“ sei nun der Versuch zu setzen, „weder chinesisch noch westlich“ zu sein, denn nur jenseits der binären Opposition von Ost und West lasse sich künstlerische Unabhängigkeit erreichen, ohne die es nicht gelingen könne, Raum für nicht utilitaristisches kompositorisches Schaffen wie für nicht utilitaristische Forschung zu schaffen. Ermutigen solle man junge Komponistinnen und Komponisten auch zur Fachgrenzen überschreitenden Kooperation mit Dichtern, Architekten, Tänzern und Forschern.

Den Beschluss machte der grandios improvisierende Nicholas Cook (ehemals Hongkong, Sydney, Southhampton, London, Cambridge) mit einem Vortrag über „Mashed-up classics“. Cook machte auf Aspekte der Wiener Klassik aufmerksam, für die uns das Paradigma des „Heroen Beethoven“ taub gemacht habe. Die zusammengemixten multimedialen Praktiken der letzten Jahre wären solchen verlorenen Praktiken der Klassik nahe. Dabei zog Cook die zeitgenössische Literatur zu Rate und trieb dem heroischen Paradigma mit Pop-Beispielen die anachronistische Historiographie aus.