Richard Wagner und seine Nachfolger in der zentraleuropäischen Dirigiertradition

Bern, 02.-03.11.2018

Von Christoph Moor, Bern – 19.03.2019 | Richard Wagner veröffentlichte die Schrift Über das Dirigieren, die erste bedeutende Abhandlung über das Dirigieren und Interpretieren, 1869 in der Neuen Zeitschrift für Musik in Leipzig. Seine Ansätze, wie das klassische und frühromantische Orchesterrepertoire zu interpretieren sei, avancierten zum Maßstab für die nachfolgenden Generationen von Dirigierenden. Wie aus einer unsystematischen und politisch problematischen Schrift eine Dirigiertradition erwachsen konnte, die bis in unsere Gegenwart einflussreich blieb, war Gegenstand des Symposiums der Hochschule der Künste Bern in Kooperation mit der Royal Academy of Music.

Chris Walton (Bern) beleuchtete die Umstände der Entstehung dieser Schrift, die geprägt ist von einer antisemitisch gefärbten und intellektualisierten Sprache, die indes die Willkür, die Planlosigkeit und die Unsicherheit ihres Verfassers nicht zu kaschieren vermag. Dennoch zählt das Traktat zum Einflussreichsten, was je über das Dirigieren geschrieben wurde, und kein Autor, der sich mit diesem Thema befasst, kommt darum herum, sich auf Wagner zu beziehen. Die Gedanken und Erkenntnisse Wagners gehen nicht zuletzt auf seine praktische Arbeit mit dem Orchester der Allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich ab 1850 zurück. In der dortigen Zentralbibliothek finden sich noch heute die Orchesterstimmen, die Wagner für seine Aufführung von Wolfgang Amadé Mozarts Jupiter-Sinfonie (KV 551) annotieren ließ. Christoph Moor (Bern) zeigte auf, welche Rückschlüsse auf interpretatorische und pädagogische Ansätze sich aus den Eintragungen des Stimmenmaterials ziehen lassen und wo die Interpretationsforschung mit Blick auf diese Quelle an ihre Grenzen stößt.

Wie Wagners Vermächtnis sich in den nachfolgenden Generationen manifestierte, illustrierten im Folgenden Schlaglichter auf namhafte Dirigentenpersönlichkeiten. Wie für ihr Vorbild hatte auch für Wilhelm Mengelberg und Felix Weingartner das Werk Ludwig van Beethovens einen bedeutenden Stellenwert. Frits Zwart (Den Haag) zeigte auf, wie Mengelberg sich zeitlebens für Beethovens und Gustav Mahlers Musik stark machte und was seine Interpretationen charakterisierte. Aus zwei unterschiedlichen Perspektiven explizierte Lena-Lisa Wüstendörfer (Basel) Weingartners Beethoven-Ästhetik, die Jahrzehnte lang als hohe Autorität für die Interpretation von Beethovens Sinfonik galt. Die Untersuchung seiner Orchestrierung der Hammerklaviersonate (Op. 106) sowie die Analyse von Weingartners Retuschen-Praxis erhellten dessen Interpretationsverständnis und seine Nähe zu den Wagnerʼschen Maximen. Dass Weingartners Schrift über das Dirigieren denselben Titel trägt wie jene von Wagner, zeigt die Verbundenheit. Weingartner verstand seine Schrift als Weiterführung seiner Ansätze in einer Zeit, als Kampf zwischen sachlicher und expressiver Interpretation die Musikwelt polarisierte.

Anton Weberns annotierte Partituren sind nicht in großer Zahl erhalten. Dennoch enthüllte der Einblick in die „Selbstvorbereitungen“ Weberns durch Regina Busch (Wien) eine Interpretations-Ästhetik, die immer wieder auf Wagnerʼsche Prinzipien rekurriert. Insbesondere die Fragen nach der Modifikation des Tempos und der klanglichen Transparenz scheinen zentral für die in der Neuen Wiener Schule verankerten Interpretationsansätze Weberns gewesen zu sein. Christopher Fifield (London) bezeichnete Hans Richter als Wagners Faktotum. Tatsächlich ist Richters Lebenslauf geprägt von der Person und der Musik Wagners sowie dessen interpretatorischen Vorstellungen. Diese erschließen sich zwar nicht direkt aus Annotationen in Partituren, doch hatte Richter als Wagner-Dirigent und Kopist der Meistersinger-Partitur Wagners Ideen tief verinnerlicht. Seine Meistersinger-Reinschrift birgt übrigens das amüsante Geheimnis, dass Wagner den allerletzten Ton, das C der Kontrabässe, selbst notiert hat.

Die Antwort Heinrich Schenkers auf Wagners Schriften Über das Dirigieren und Zum Vortrage der neunten Symphonie Beethovens von 1873 war eine Kritik mit dem Titel Beethovens Neunte Sinfonie. Eine Darstellung des musikalischen Inhalts unter fortlaufender Berücksichtigung auch des Vortrages und der Literatur (1912). Darin schreibt Schenker ausführlich über aufführungspraktische Aspekte. Er unterstellt Wagner, dass sein theatralischer Zugang zu dieser Sinfonie die Natur des Werks zerstöre. Roger Allen (Oxford) referierte über die unterschiedlichen Lesarten der Beethoven-Partitur und zeigte anhand der Interpretation Wilhelm Furtwänglers die praktische Umsetzung der Schenkerʼschen Idee. Diese beruht auf der Annahme, eine Aufführung lebe von einem rekreierenden Prozess der Improvisation, die zu einem organischen Ganzen verschmolzen werde.

Raymond Holden (London) thematisierte Richard Strauss als Mozart-Dirigent. Nebst Aufnahmen und Texten kam dabei den annotierten Partituren des Bülow-Schülers eine wichtige Rolle zu. Eindrücklich zeigte sich, dass die Interpretationsforschung mit Annotationen kritisch umzugehen hat. Der Vergleich zwischen Straussʼ Aufnahmen und seinen Eintragungen in den Partituren ergab nicht immer Kongruenz. Die Analyse der Annotationen kann also bestenfalls eine Momentaufnahme abbilden und lediglich eine Anregung zum eigenen kreativen Umgang mit dem Werk sein. Wie sich eine solche Kreativität, die aus den unterschiedlichsten Interpretations-Ansätzen gespeist ist, in der Praxis manifestieren kann, demonstrierte Holden in einem öffentlichen Workshop. Das eigens für das Symposium aus Studierenden der Musikhochschulen Bern, Luzern und der Royal Academy London zusammengestellten Orchester spielte Mozarts Sinfonien Nr. 29 (KV 201) und die sogenannte Jupiter-Sinfonie (KV 551) in unterschiedlichen, den Annotationen verschiedener Dirigenten entnommenen Interpretationen. Im Praxistest wurde plastisch erlebbar, wie Wagners Grundideen von Transparenz und Tempo-Modifikation, obschon in unterschiedlicher Umsetzung, zentrale Parameter einer lebendigen und expressiven Interpretation darstellen.

Das Konzert bildete den fulminanten Schlusspunkt des anregenden Symposiums, das zugleich das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Berner Projekt Annotierte Dirigierpartituren als Primärquellen für die Erforschung der Interpretationsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert: Richard Wagner und seine Nachfolger in der zentraleuropäischen Dirigiertradition beschloss.