Tradycje śląskiej kultury muzycznej – Traditions of Silesian Musical Culture

Wrocław/Breslau, 20.-21.03.2019

Von Gesine Schröder, Leipzig/Wien – 04.07.2019 | Es geschieht selten, dass man im musikalischen Beiprogramm einer Konferenz einen internationalen Star zu hören bekommt. An der Musikakademie „Karol Lipiński” in Breslau trat Agata Zubel auf, Sängerin, Komponistin und Performerin, Absolventin und jetzt Lehrerin an der Akademie. Zuletzt hatte ich sie im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins orchesterbegleitet eine Uraufführung von Hans-Joachim Hespos singen hören, und nun hier: Sie bestritt die gesamte zweite Hälfte des Konzerts, unter anderem mit einem eigenen Stück für Stimme und präpariertes Klavier, dessen Rattern und Tockern sie dem eigenen Gesang und Glucksen hinzugeschrieben hatte. Das Konzert gehörte zur 15. Edition einer Konferenzserie zu Traditionen schlesischer Musikkultur, 1980 von der früheren Breslauer Ordinaria Maria Zduniak ins Leben gerufen; ausgerichtet wird sie in unregelmäßigem, circa anderthalbjährigem Abstand im Wechsel mit Editionen einer Konferenzserie zur musikalischen Analyse. Die Organisatorin ist seit einigen Jahren Anna Granat-Janki, Inhaberin des Lehrstuhls für Musiktheorie und schlesische Musikkultur an der Breslauer Musikakademie. Im Studienjahr 1948/49 war hier der Lehrbetrieb aufgenommen worden, und so wurde mit der diesjährigen Edition, an welcher 22 Rednerinnen und Redner aus Polen, Österreich, Tschechien, der Slowakei, der Ukraine und Deutschland teilnahmen, auch das 70-jährige Bestehen der Musikakademie gefeiert. Dass das Beiprogramm so luxuriös ausfiel, hängt damit zusammen, dass die ausrichtende Fakultät neben Musiktheorie unter anderem das Fachgebiet Komposition umfasst und dass man allem Anschein nach zu einem glücklichen Miteinander der Gebiete gelangt ist. Aus der Kooperation von Lehrenden und Studierenden der Fächer Komposition und Musiktheorie resultiert, dass sich die Breslauer Musiktheorie intensiv der Auseinandersetzung mit Werken widmet, die aus der eigenen Schule hervorgingen. Damit bildet das Musikgeschehen der jüngsten Jahrzehnte einen Schwerpunkt ihrer Forschung. Beispiele dafür waren die Vorträge von Katarzyna Bartos (Kraków / Krakau und Breslau), die ein gleißend orchestriertes symphonisches Reisebild der Breslauer Komponistin Grażyna Pstrokońska-Nawratil (* 1947), ein Souvenir der Messiaen-Schülerin aus Mexiko, als ökologische Musik interpretierte; von Aleksandra Pijarowska (Breslau) über direkte, auf Uraufführungen reagierende Musikkritiken von Werken des Breslauer Komponisten Jan Anton Wichrowski (1942–2017), dessen Liederzyklus nach Gedichten der innovativen und mondänen Maria Pawlikowska-Jasnorzewska im Konzert zu hören war; sowie von Granat-Janki über die Mimesis Breslaus in Kompositionen neuerer in der Stadt ansässiger Komponisten wie in Cesary Duchnowskis (* 1971) 2016 uraufgeführter Symphonie über hundert Brücken mit dem Titel Echa. Der von Breslau herkommenden neueren Klangkunst wandte sich auch die Berichterstatterin zu. Anhand multimedialer Produkte der aus der Breslauer Schule stammenden Komponistinnen Jagoda Szmytka (*1982) und Katarzyna Głowicka (*1977) untersuchte sie, wann solche Produkte die Rede vom Tod des Autors aushebeln, wo das Leben, Fühlen und die Intentionen der Urheberinnen solcher Produkte zu deren Teil werden und daher mit ästhetischem Interesse befragt werden können. Nochmals der jüngeren (polnischen) Geschichte der schlesischen Musikkultur war ein Beitrag von Jolanta Szulakowska-Kulawik (Katowice / Kattowitz) gewidmet. In Kattowitz hatte der im Westen mit seinen Musiken zu Filmen unter anderem Krzysztof Zanussis, Francis Ford Coppolas und Roman Polańskis bekannt gewordene Wojciech Kilar (1932–2013) seit 1950 gelebt. Seine späten religiösen Werke deutete Szulakowska-Kulawik aus der Sicht von Theorien Mieczysław Tomaszewski, des zu Beginn dieses Jahres fast hundertjährig verstorbenen Doyens der neueren polnischen Musikologie, und Charlotte Bühlers, deren Vorstudien zu einer Gerontopsychologie in diesem Kontext fruchtbar gemacht werden konnten.

Inwieweit die schlesische Musikkultur nach dem Zweiten Weltkrieg indirekt durch die Grenzverschiebungen der Sowjetunion ins frühere Polen hinein bestimmt wurden, zeigte Luba Kyjanowska-Kamińska (L’viv / Lemberg). Nur wenige Monate vor seinem Tode verließ Adam Didur (1874–1946), der als Bassist schon in den 1890er-Jahren zum Weltstar geworden war und der nach seinem Bühnenrückzug ab den 1930er-Jahren am Konservatorium in Lemberg eine Generation von Schülern und Schülerinnen geprägt hatte, 1945 zusammen mit einer Gruppe von ihnen seine Heimatstadt und ließ sich im oberschlesischen Bytom / Beuthen nieder, wo er das vormalige Oberschlesische Landestheater als Opera Śląska / Schlesische Oper fortführte. Seine Schule der sängerischen Gestaltung wurde weit über die Schlesische Oper hinaus wirksam; sie setzte mehrere Jahrzehnte lang Trends für das neue polnische Musiktheater.

Der schlesischen Musikkultur der Zwischenkriegszeit waren die Vorträge von Bożena Muszkalska (Breslau und Poznań / Posen) und Joanna Subel (Breslau) gewidmet. Während Muszkalska die Breslauer Klanglandschaft aus Selbstzeugnissen jüdischer Bewohner der Stadt rekonstruierte und zu dem Schluss gelangte, dass die bedrückende Atmosphäre jener Jahre zum allmählichem Ausbleiben von klanglichen Zeugnissen jüdischer Kultur geführt habe, zeichnete Subel nach, wie innovativ der für die westdeutsche Rundfunk- und Schallplattenkultur der Nachkriegszeit wichtig gewordene Edmund Nick in Breslau gewirkt hatte, seit er ab 1924 für ein Jahrzehnt künstlerischer Leiter der Musikabteilung der Schlesischen Funkstunde geworden war. Auf seine Initiative hin wurde das Genre radiophoner Gebrauchsmusik entwickelt, auch die Gründung eines Ensembles für populäre Musik ging auf ihn zurück, und seine nach 1945 wieder aufgenommene Zusammenarbeit mit Erich Kästner hatte hier begonnen.

Den musikethnographischen Studien Paul Schmidts wandte sich Mariusz Pucia (Breslau) zu. 1913 hatte Schmidt in den Orten Polnisch-Rasselwitz, Sedschütz und Pechhütte Volksmusik aufgenommen, um eine eigenständige Kulturenmischung im damaligen deutsch-polnischen Grenzland nachzuweisen. Wie Pucia zeigen konnte, haben einige der vor mehr als hundert Jahren aufgenommenen Musiken in rudimentär ähnlichen Melodieverläufen bis in die Mitte der 1980er-Jahre überlebt. Stanislav Pecháček (Prag) nannte ein paar Daten zu einer 1901 entstandenen Kantate von Leoš Janáček, mit welcher dieser auf Gemälde geistlichen Sujets von Józef Krzesz-Męcina reagiert hatte. Ein Bezug zu Schlesien wurde nicht deutlich. Pecháček benötigte für die Daten circa fünf Minuten und nahm sich die restliche Vortragszeit, um eine Aufnahme der Kantate komplett abzuspielen.

Der schlesischen Musikkultur des 19. Jahrhunderts waren die Vorträge von Agnieszka Drożdżewska (Breslau), Michael Heinemann (Dresden), Grzegorz Joachimiak (Breslau), Stephan Lewandowski (Weimar), Helmut Loos (Leipzig), Janka Petőczová (Bratislava) und Remigiusz Pośpiech (Breslau) gewidmet. Pośpiech porträtierte Carl Julius Adolph Hoffmann (1801–1843), den Verfasser unter anderem eines 1830 erschienenen Lexikons schlesischer Tonkünstler, als zu Unrecht vergessenen Komponisten. Parallelen zwischen dem Gesangsvereinswesen Breslaus und des heute nordostslowakischen Ortes Levoča / Leutschau im mittleren 19. Jahrhundert zeigte Petőczová auf. Erhaltene Musikalien erlauben es, das Repertoire von Leutschauer Chören jener Zeit zu rekonstruieren. Während es Elemente gab, die diesem und Breslauer Chören gemeinsam waren (darunter Sätze mit Breslau verbundener Musiker wie Carl Friedrich Zelter, der sich um die institutionelle Musikpflege der Stadt verdient gemacht hatte, und am Ende des 19. Jahrhunderts als Leiter des städtischen Orchestervereins für ein knappes Jahrzehnt Max Bruch), verstärkten sich nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 in Leutschau magyaristische Züge. So übersetzte man beispielsweise ursprünglich deutsche Texte der Chorsätze ins Ungarische. Loos hatte Passagen aus brieflichen Reiseberichten Felix Mendelssohn Bartholdys über musikalische Erfahrungen in Schlesien zusammengetragen, darunter eine lehrreiche und vergnügliche Schilderung der Orgel-Improvisationen des Breslauers Friedrich Wilhelm Berner (1780–1827), die Mendelssohn in seinem Brief fast so genau „zergliederte“ wie der Breslauer Universitätsmusikdirektor Johann Theodor Mosewius (1788–1858) dessen Oratorium Paulus, eine Analyse, die Mendelssohn offenbar auf sich bezog statt auf das Werk, das längst ein Eigenleben führte. Von einer 1828/29 unternommenen sozusagen musiktheoretischen Bildungsreise des Breslauer Organisten und Komponisten Adolph Friedrich Hesse (1809–1863) gingen Überlegungen Lewandowskis aus. Früchte dieser Reise zeigte er anhand von Extrakten aus zwei Hesse’schen Präludien mit Bezug auf Johann Gottfried Vierlings 1794 erschienene und Hesse offenbar von dem Darmstädter vielseitigen Musiker Christian Heinrich Rinck anempfohlene Anleitung zum Präludieren. Die Geschichte und das Repertoire der Hofkapelle im oberschlesischen Pszczyna / Pless versuchte Joachimiak mithilfe eines erhaltenen Inventars von 1827 zu rekonstruieren. Erstaunlich ist, dass die Kapelle des vergleichsweise kleinen Hofes nicht nur drei Serpente, sondern sogar eine Klappentrompete besessen haben muss. Heinemann stellte Überlegungen dazu an, warum Robert Schumann den philosophisch (hegelianisch) versierten und pointiert schreibenden August Kahlert (1807–1864) dem als Musiker zwar professionellen, ausgewogen, aber auch langweilig schreibenden Mosewius als Berichterstatter über das Breslauer Musikleben für die Neue Zeitschrift für Musik vorzog. Die Rolle, welche das niederschlesische Familienschloss Cieszyca (Ruhberg) im Leben des bedeutenden polnischen Politikers Antoni Henryk Radziwiłł (1775–1833) spielte, vollzog Drożdżewska anhand von Briefwechseln, Memoiren und anderem Material nach. Von Radziwiłł, der auch komponierte und hervorragend Cello gespielt haben muss, wurden neo-griechisch durchflutete Porträts gezeigt, die erahnen lassen, warum sein politisches Verhandlungsgeschick vergleichsweise hoch gewesen sein muss.

Die Musik des 18. Jahrhunderts war Gegenstand von Vorträgen Ewa Hauptman-Fischers (Warschau) und Milosz Kulas (Breslau). Kula, hauptberuflich Dirigent, ist Spezialist für die etwa 130 Sinfonien Carl Ditters von Dittersdorfs (1739–1799), der während seines letzten Lebensjahrzehnts in verschiedenen Orten Schlesiens als Orchesterleiter tätig gewesen war, unter anderem im niederschlesischen Oleśnica / Oels. Anhand von Handschriften schlesischer Herkunft ermittelte Kula instrumentatorische Charakteristika von Dittersdorfs Sinfonien und grenzte sie insbesondere formal von Haydns Sinfonien ab. Über wiederentdeckte Figuralmusik sprach Hauptman-Fischer. Die Manuskripte stammen aus dem Zisterzienserkloster im niederschlesischen Kamieniec Ząbkowicki / Kamenz, sie sind vom Beginn des 18. Jahrhunderts und zeigen nicht nur ein Repertoire von beachtlicher Qualität, sondern auch, dass sich das klösterliche Repertoire Schlesiens über ein Netzwerk verbreitete. So wurden zwischen Kamenz und einem Breslauer Konvent offenbar Musikalien ausgetauscht.

Barbara Przybyszewska-Jarmińska (Warschau) präsentierte den aktuellen Stand ihrer Recherchen dazu, welche Musik die zu Beginn des 17. Jahrhunderts tätigen Breslauer Fürstbischöfe Karl von Österreich und Karl Ferdinand Wasa förderten; man wählte zwischen römischer und venezianisch geprägter Schreibart. Einer über Jahrhunderte hinweg und in rudimentärer Form bis heute präsenten Tradition von ritueller Anti-Musik ging der Musikethnologe Jerzy Przerembski (Breslau) nach. Er erläuterte, für welche Jahresfeste, etwa den Karneval, bestimmte uralte Lärminstrumente, die in schlesischen Museen aufbewahrt werden, in Schwingung versetzt wurden.

Eröffnet hatte die Breslauer Konferenz kunstspartenübergreifend Piotr Oszczanowski (Breslau) mit einem Vortrag über Eigenheiten der Architektur und des Kunsthandwerks Schlesiens unter dem Hause Habsburgs bis zur Teilung nach dem ersten schlesischen Krieg Mitte des 18. Jahrhunderts. Diskussionen und selbst Nachfragen nach den Vorträgen hielten sich in Grenzen, es wird eher wenig und nicht gern gestritten. Auf der Leinwand hinter den auf Polnisch Vortragenden waren nur manchmal englische Informationen zu sehen, und die auswärtigen Konferenzteilnehmer, nicht sämtlich des Polnischen mächtig, wurden für ihre Geduld entschädigt (bzw. ihr Lauschen auf Straßenlärm und Sprachmelodien wurde unterbrochen) durch angenehme Pausengespräche und großzügig bereit gestellte Mahlzeiten.