Musique mystique. Zum Schaffen von Charles Tournemire

Essen, 28.-30.04.2022

Von Jimmy Fauth, Essen - 20.09.2022 | Das dreitägige Symposion an der Folkwang Universität der Künste fand in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig statt, geleitet von Philip Feldhordt und Matthias Geuting in Zusammenarbeit mit Stefan Keym. Es war dem Schaffen des französischen Komponisten und Improvisators Charles Tournemire (1870–1939) gewidmet, der zu den originellsten Musikerpersönlichkeiten seiner Epoche gerechnet werden darf, und umfasste sowohl wissenschaftliche Beiträge als auch drei Konzerte.

Zum Auftakt trug Rektor Andreas Jacob seine Überlegungen zu Tournemires Douze Préludes-poèmes op. 58 vor. Mittels einer Analyse des musikalischen Materials, unter anderem bezogen auf die Nutzung von exotischen Skalen und den Umgang mit ‚Farben‘, erörterte er die ästhetische Position des Werkes zwischen Debussy und Messiaen. Jean-Marc Leblanc (Tours) gab anschließend Einblicke in seine philologische Forschungsarbeit zu den Memoiren Tournemires. Er zeigte, wie der Komponist wichtige Namen aus seinen Memoiren und Widmungen tilgte – offenbar als Reaktion auf mangelnde Wertschätzung.

Das Orgelschaffen des Komponisten nahm Matthias Geuting (Essen) in den Blick. In seiner Analyse der Symphonie-Choral d’Orgue op. 69 legte er den Fokus auf die Aspekte Form und Themenbehandlung. Dabei stellte er besonders heraus, wie in diesem Stück Spontanes und Kalkuliertes zur Synthese gebracht sind. Geutings Referat bereitete zugleich auf ein sich anschließendes Konzert vor, in dem neben der vom Referenten selbst gespielten Symphonie-Choral die Trois Lieder op. 46 (Bariton: Gregor Finke, Klavier: Tatjana Dravenau) und das Streichquartett Musique orante op. 61 (Velvet Quartet) vorgetragen wurden.

Dem Orgelschaffen Tournemires galten auch die ersten Beiträge am zweiten Tag des Symposions. Sowohl Birger Petersen (Mainz) als auch Stefan Klöckner (Essen) konzentrierten sich dabei auf den Zyklus L’Orgue mystique opp. 55–57. Petersen befasste sich insbesondere mit der Beziehung des Werkes zur katholischen Liturgie und mit dem Einsatz von Satzmodellen (auch aus dem Bereich des protestantischen Choralvorspiels). Anschließend gab er einen Überblick zur Rezeption des Zyklus. Klöckner stellte in einem musikästhetischen Ansatz den Zyklus in den Kontext der Restauration des Gregorianischen Chorals in Frankreich. Exemplarisch untersuchte er Tournemires Umgang mit zitierten beziehungsweise verarbeiteten gregorianischen Melodien.

Einen weiter gefassten Begriff von „Choral“ – angelehnt sowohl an den Gregorianischen als auch den Lutherischen Choral – legte Stefan Keym (Leipzig) seinem Beitrag zugrunde, in dem er den Choraltypus als gattungsübergreifenden „Schlüssel“ zum Œuvre des Komponisten untersuchte. Anhand von Beispielen aus Orgelwerken und Symphonien zeigte er sowohl ästhetische Implikationen als auch satztechnische Konkretionen auf.

Robert Sholl (London) befasste sich in einem ebenfalls gattungsübergreifenden Zugang mit Zusammenhängen zwischen dem literarischen Werk Josephin Péladans und der Musik Tournemires. Er postulierte eine Verbindung zwischen der Nutzung von exotistischen oder kirchentonalen Skalen bei Messiaen und Tournemire und einem mystischen „prisme déformant“. Dem symphonischen Œuvre Tournemires wandte sich Julian Caskel (Essen) zu. Er analysierte besonders den ersten Satz der siebten Symphonie (Untertitel: Les Danses de la Vie) unter Einbeziehung zeitgenössischer ethnologischer Vorstellungen. Überdies nutzte er rhythmustheoretische Überlegungen für eine Analyse des Satzes. Aus dezidiert tanzwissenschaftlicher Perspektive warf Anja Arend (Essen) einen Blick auf eine Choreographie zu Tournemires Oper Les Dieux sont morts op. 42 vor dem Hintergrund der Tanzästhetik der Zeit, insbesondere bei Émile Jaques-Dalcroze und Adolphe Appia. Sie analysierte Bilder der Inszenierung und Choreografie von Clara Brooke und wertete Rezensionen aus. Matthias Brzoska (Denton, Texas) stellte Le sang de la sirène op. 27 vor. Er umriss die Entstehungsgeschichte des Werkes und analysierte dessen Text und Musik, um schließlich auf die Rezeption einzugehen. Die Variæ preces op. 21 und die Petites Fleurs musicales op. 66 stellte Kurt Lueders (Paris) in den Mittelpunkt seines Vortrags. Damit lenkte er die Aufmerksamkeit auf Tournemires Nutzung des Harmoniums als (neben der Orgel weiteres) „mystisches Instrument“ im Œuvre des Komponisten. In aufführungspraktischen Überlegungen verglich er die Interpretationsmöglichkeiten an der Orgel und am Harmonium und stellte dabei insbesondere dynamische Aspekte in den Vordergrund.

In einem anschließenden Orgelkonzert spielten Studierende der Klasse von Prof. Roland Maria Stangier unter Anderem Auszüge aus den von Maurice Duruflé transkribierten Cinq improvisations und aus der Petite Methode d’Orgue.

Elisabeth Schmierer (Essen) eröffnete den dritten Tag des Symposions mit einem Beitrag zum Opernschaffen Tournemires und schloss an die tanzwissenschaftlichen Ausführungen von Arend zu Les Dieux sont morts an. Sie führte Elemente der Oper auf Topoi der Tragédie lyrique und der italienischen Oper zurück. Ferner diskutierte sie religiöse und mythologische Aspekte der Handlung und erörterte aufführungspraktische Schwierigkeiten, die der Rezeption des Werkes entgegengestanden haben könnten. Hanna Fink (Essen) analysierte die nach Gedichten von Albert Samain komponierten Trois Lieder op. 46. Hierbei konzentrierte sie sich auf die Aspekte Form und Struktur von Akkorden, Skalen und Satzmodellen. Sie stellte Verbindungen her zwischen dem Lied Poème inachevé und einem Prélude von Debussy. Zudem zeigte sie auf, inwiefern mit Blick auf die Lieder von einer ‚Einheitlichkeit in der Uneinheitlichkeit‘ gesprochen werden kann. Zum Abschluss befasste sich Philip Feldhordt (Essen) mit dem „principe religieux“ und der „beauté de la mort“ im Poème pour orgue et orchestre op. 38 und in der 8. Symphonie op. 51. Er stellte Verbindungen her zwischen dem vom Komponisten verfassten programmatischen Text zur 8. Symphonie und musikalischen Ideen des Werkes und analysierte Passagen beider Werke.

In der Abschlussrunde der Tagung lenkte Stefan Keym den Blick auf verschiedene mögliche Forschungsperspektiven zu Tournemire. Diskussionsbeiträge betrafen etwa die unterschiedliche Rezeption in Frankreich und Deutschland sowie die musikwissenschaftliche und aufführungspraktische Rezeption seines Werks. Auch wurde weiterer kulturwissenschaftlicher Forschungsbedarf im Kontext seines Schaffens gesehen. Die Tagung endete mit einem Rezital der Pianistin Mirela Zhulali, die Auszüge aus den Douze Préludes-poèmes op. 58 spielte.