Interdisziplinäre Tagung „Unter dem Strich. Tilgung und Variantenbildung als Kategorien transformativer Schaffensprozesse“

von Gesa Winkler (Weimar) und Francy Häring (Weimar)

Wie entstehen Kunstwerke? Wie verändern sie sich und welche Gründe lassen sich für Verwerfungen und Neuerfindungen künstlerischer Ideen finden?

Mit diesen Fragen setzten sich die 13 Referierenden der Tagung Unter dem Strich an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar auseinander. Das Organisationsteam Esther Dubke (Heidelberg) und Michael Klaper (Weimar-Jena) richtete mit der inhaltlichen Schwerpunktsetzung den Fokus auf Prozesse der Tilgung und Variantenbildung innerhalb der verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Dabei sollte im interdisziplinären Austausch ein möglichst vielseitiger Einblick in die Thematik gegeben werden, um ein Bewusstsein für die Allgegenwärtigkeit von Entwicklungs- und Umarbeitungsprozessen bei der Konzeption von Kunstwerken zu vermitteln.

Nach den Begrüßungsworten von Vertretern der Hochschule und einer kurzen thematischen Einführung durch die Tagungsleitung eröffnete Christine Siegert (Bonn) die Veranstaltung mit einer Keynote, in welcher sie Streichungen und Erweiterungen am Beispiel von musikalischen Werken Beethovens und anderer Komponisten darlegte. Die vorgenommenen Tilgungen sind sowohl als Verlust (beispielsweise die Reduktion der musikalischen Gestaltungsfreiheit durch strengere Vorgaben) wie auch als Verbesserung (etwa durch eine bessere Spielbarkeit aufgrund von Vereinfachung) zu bewerten. Jede Veränderung ist ein Prozess, dessen Potenzial verstärkt gesehen werden soll, so Siegert. Esther Dubke (Heidelberg) setzte sich mit Tilgung und Variantenbildung in den Messvertonungen des ausgehenden 14. Jahrhunderts auseinander. Neben möglichen Ursachen für die Entstehung neuer Überlieferungsvarianten stellte Dubke Akteure vor, die an Umarbeitungen in Handschriften beteiligt waren. Roman Lüttin (Heidelberg) nannte ebenso wie Dubke Mitwirkende an Modifikationsprozessen und ermittelte zudem Gründe für Streichungen und Umarbeitungen in Offizien des 16. Jahrhunderts.

Der zweite Tag begann mit dem Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Sophie Marshall (Jena). Sie zeigte anhand von drei Fassungen eines Liedes des deutschen Dichters Muskatblut, dass die Tilgung von Worten bzw. die Bearbeitung von unreinen Versen zur ästhetischen Abrundung eines Textes führen kann. Matthew Gardner (Tübingen) veranschaulichte am Beispiel von Georg Friedrich Händels Londoner Opern und Oratorien die verschiedenen Möglichkeiten bei der Umarbeitung (wie etwa Kürzungen im Libretto oder Streichungen von Arien). Ein Werk sei als Gemeinschaftsprojekt zu betrachten, an dessen Entstehungs- und Umbildungsprozessen mehrere Akteure beteiligt waren, so Gardner. Maria Behrendt (Hannover) erörterte, dass Leerstellen entstehen, indem ein Gedichts- bzw. Liederzyklus aufgebrochen wird. Die Liederzyklen Thränen und Frauenliebe und Leben von Adelbert von Chamisso nahm Behrendt als Beispiel und stellte deren musikalische Vertonungen (exemplarisch an Robert Schumann und anderen) vor. Marcel Klinke (Heidelberg) fokussierte in seinem Beitrag die beiden Fassungen von Richard Straussʼ früher Klaviersonate h-Moll op. 5. Anhand struktureller Eingriffe (beispielsweise die Vereinfachung kompositorischer Extreme in Akkordstrukturen) verdeutlichte er, dass Straussʼ Umarbeitungen nicht nur ästhetisch, sondern auch spieltechnisch motiviert waren. Der Diskurs am Nachmittag startete mit dem Vortrag von Fabian Czolbe (Hamburg), welcher das Phänomen des Streichens im ‚langen‘ 19. Jahrhundert am Beispiel des Komponisten Max Reger untersuchte. Die unterschiedlichen Ausprägungen der Streichungen (wie etwa in skizzierender, korrigierender und eliminierender Form) sind Ausdruck künstlerischer Reflexion und lassen die Etappen im Schaffensprozess eines Werkes erkennen. Steffen Höhne (Weimar) stellte die Herausforderungen des Kulturtransfers am Beispiel der textlichen Bearbeitungen von Leoš Janáčeks Oper Jenůfa durch Max Brod vor. Dabei betonte Höhne den Konflikt zwischen kultureller Vermittlung und Werkintegrität. Der Abend wurde mit einem kammermusikalischen Konzert abgerundet, welches sich ebenso wie das Tagungsprogramm aus vielfältigen Klängen zusammensetzte.

Der Prozess der Varianten- bzw. Tilgungsbildung ist in den verschiedenen Entstehungsphasen eines Werkes (Idee – Konzeption – Druck – Aufführung) zu beobachten, deren Charakteristika Nastasia Heckendorff (Wien) am Beispiel der Symphonischen Stücke aus Alban Bergs Oper Lulu analysierte und damit in den dritten Tag einführte. Andrea Gottdang (Augsburg) bereicherte die Tagung mit ihrer kunsthistorischen Perspektive und thematisierte die Rekonstruktion der historischen Fassadenmalerei in Augsburg um 1910. Die natürlichen Prozesse der Verwitterung, das bewusste Verbergen von Wandmalereien und den Abriss von Gebäuden ordnete Gottdang in die Kategorie der Tilgung ein. Michael Klaper (Weimar-Jena) widmete sich der Rezeption von Francesco Cavallis Requiem im 19. Jahrhundert. Klaper demonstrierte anhand mehrerer vermeintlich getreuen Reproduktionen der Originalhandschrift des Requiems, dass Umarbeitungsprozesse nicht nur an materiellen Spuren (beispielsweise durch verschiedene Schreibgeräte und deren typisches Schriftbild) ablesbar sind. Diese Veränderungen können ebenso absurde Dimensionen annehmen, wenn Sachverhalte aus Vorlagen übernommen werden, die in Abschriften nicht mehr von Nöten sind (wie etwa der Verweis „umblättern“ an Stellen, wo dies in der Abschrift nicht notwendig erscheint). Im letzten Beitrag der Tagung führte Constanze Zacharias (Weimar) in ihre Überlegungen zur Tilgung und Variantenbildung im Jazz ein. Ausgehend vom Realbook als „Skizzenkanon“ veranschaulichte sie, dass das musikalische Geschehen dieses Genres durch Modifikationen, Auslassungen und Performativität ohne Werkfixierung bestimmt wird. Zacharias betonte, dass der Jazz eine überwiegend praxisbezogene Musikgattung darstellt, die insbesondere durch Streichungen und Variantenbildung gekennzeichnet sei.

Die Tagung Unter dem Strich belegt, dass der interdisziplinäre Austausch in den Geisteswissenschaften als Chance gesehen werden kann, um sich mit komplexen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Variantenbildung und Tilgung sind universelle Prinzipien kulturellen Schaffens, die anhand überlieferter Dokumente (wie etwa Musikdrucke oder Gedichtzyklen) auch heute untersucht werden. Unter dem Strich war es eine facettenreiche und impulsgebende Veranstaltung. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist vorgesehen.

Tagungsbericht

Interdisziplinäre Tagung „Unter dem Strich. Tilgung und Variantenbildung als Kategorien transformativer Schaffensprozesse“

veranstaltet durch:
Esther Dubke (Heidelberg) und Michael Klaper (Weimar-Jena)

Weimar, Hochschule für Musik FRANZ LISZT

12.03.2025

bis 14.03.2025