von Susanne Heiter (Nürnberg)
Wie kann es sein, dass nach Jahrzehnten institutionalisierter musikwissenschaftlicher Genderforschung in Deutschland Komponistinnen und andere musikalisch handelnde Frauen in breit rezipierten Publikationen bisweilen oberflächlich und stereotypisierend dargestellt werden, dass bei einem nicht zu übersehenden öffentlichen Interesse an deren Geschichten ebendiese Forschung übergangen wird, fragte kürzlich eine der Gastgeberinnen der themenoffenen Arbeitstagung der Fachgruppe Frauen- und Genderstudien der Gesellschaft für Musikforschung. Dabei zeigte die von Cornelia Bartsch, Rebecca Grotjahn, Anna Ricke und Antje Tumat ausgerichtete Tagung am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn wie lebendig und vielfältig musikwissenschaftliche Genderforschung in der Fachgruppe über dreißig Jahre nach ihrer Gründung ist, wie sie sich mit mehr oder weniger bekannten Komponistinnen (Clara Schumann oder Aleida Montijn), mit queerer Musik und kulturellen Netzwerken auseinandersetzt und dabei neben akribischer Quellenforschung und Korpusanalysen auch eine ihrer besonderen Stärken für die Musikwissenschaft zeigt: wie nämlich die Auseinandersetzung mit den Gegenständen abseits des Mainstreams stets innovative methodische Ideen hervorbringt.
Zweijährlich bietet die Fachgruppe im geschützten Raum einer Präsenztagung ein geschlechter- und generationenübergreifendes Forum. Der Diskussion unter den in verschiedensten musikwissenschaftlichen Positionen verankerten Beitragenden sowie den zahlreichen auch ohne eigenen Beitrag angereisten Tagungsteilnehmenden wurde angenehm Raum gegeben, sodass auch genau diese Frage nach der öffentlichen Vermittlung der hier betriebenen Forschung nicht zuletzt anhand eines aktuellen Buchprojekts wieder aufgegriffen wurde.
Die ersten zwei von sechs Sektionen widmeten sich anhand einzelner Personen sowohl historiografischen Fragen nach Strategien der Fremd- und Selbstdarstellung, der Quellenauswertung und -bewertung, als auch Handlungsstrategien vielseitiger Musikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert. So untersuchte Luisa Mersch (Detmold/Paderborn) die Darstellung der Sängerinnen Nellie Melba und Luisa Tetrazzini in Biografien und Autobiografien, die im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Auffällig ist dabei, dass der Topos der Rivalität in jeder der Publikationen behauptet, einzelne Anekdoten dabei bisweilen offensichtlich sekundär perpetuiert, aber nie mit validen Quellen belegt werden. Es stellt sich daher die Frage, welche Erzählstrategien dieser Topos bedient und welche Wertungen damit in Biografien von Musikern bzw. Musikerinnen verbunden sind.
Frances Falling (Graz) stellte erste Versuche einer (teils qualitativen, teils quantitativen) Inhaltsanalyse von Egodokumenten Clara Schumanns vor und beeindruckte mit einer Darstellung von deren Aufenthalt in Dresden 1844 bis 1850: Trotz mehrerer Schwangerschaften unternahm sie zahlreiche Konzertreisen, während sich die Sorgearbeit für Robert Schumann zusehends intensivierte. Die Schilderung, Gewichtung und Bewertung dieser Erlebnisse in Tagebüchern und Briefen bringt die Analyse von Falling zutage. Die bekanntermaßen sehr umfangreiche Verfügbarkeit von Egodokumenten Clara Schumanns wird kontrastiert durch die sehr dünne Quellenlage zur Biografie der Komponistin Emilie Mayer. Dennoch fällt ihre Selbstdarstellung als „Componistin“, die Lena Frömmel (Detmold/Paderborn) als „Doing Komponistin“ bezeichnet, etwa in öffentlichen Adressbüchern auf. Die Bedeutung von Kontextrecherchen zu zeitgenössischen Berichten zeigte Frömmel am Beispiel von Stadtplänen, die für das mutmaßliche Verhältnis zwischen der Komponistin und einer zeitgenössischen Berichterstatterin aufschlussreich sein können, und die daran erinnern, dass die Beziehungen zwischen Autor:innen und beschriebenen Personen stets zu reflektieren sind.
Die Untersuchung persönlicher Beziehungen interessiert in größerem Maßstab Anna-Magdalena Bredenbach (Erfurt) die im Umfeld Josephine Langs als publizierender Komponistin Verbindungen zu Verlagen, Zeitschriften und wichtigen Mittelspersonen (Unterstützer:innen etc.) sucht. Dafür entwickelt sie sinntragende Visualisierungen (qualitative Netzwerke), die zeigen, wie sich Langs Kontaktnetz über den deutschsprachigen Raum und in verschiedene Handlungsbereiche erstreckte. Anhand der Netzwerkrekonstruktionen und der autografen Quellen lassen sich Publikationsstrategien nachvollziehen.
Mit Aleida Montijn lenkte Leonie F. Koch (Hannover) den Blick auf eine vielseitige „Berufsmusikerin“ in den Nachkriegsjahren des 20. Jahrhunderts und stellte zur Diskussion, inwieweit diese Vielseitigkeit gerade aufgrund ihres gesellschaftlichen Geschlechts notwendig war: Montijn zeigte sich nicht nur als Komponistin – viele Jahre war sie als „Hauskomponistin“ an den Städtischen Bühnen Frankfurts angestellt, dessen Struwwelpeter-Kabarett sie mitgegründet und geleitet hat –, sondern auch als Pianistin, als Organisatorin und Musikpädagogin.
„Grundsätzliches“ vermittelte eine Sektion mit Vorträgen von L.J. Müller und Ruirui Ye. Ausgehend vom französischen Poststrukturalismus stellte L.J. Müller (Detmold/Paderborn) philosophische Positionen zur „Stimme“ und deren Verschwinden aus diesem Diskurs vor. Indem mit der Stimme ein Subjekt gesetzt wird und mit dem Blick auf Stimme daher der Blick auf Subjekte gelenkt wird, eröffnen sich Parallelen zu feministischen und machtkritischen Perspektiven. Ruirui Ye (Berlin) beschäftigte sich mit Ausdrucksformen und Erkundungen von Gender in der chinesischen Gesellschaft und Kultur und fragte anhand traditioneller Instrumente wie der Qin und deren Einsatz in der zeitgenössischen chinesischen Musik sowie deren Inszenierung in Konzert und Film nach anhaltenden patriarchalen Prinzipien.
Die folgende Sektion vereinte zum Thema Queerness sehr unterschiedliche Fragestellungen und methodische Ansätze. Am Beispiel von Ethel Smyths The Boatswain’s Mate und Franz Lehárs Die lustige Witwe zeigte Beeke Hölzer (Dortmund) Witwen-Figuren der Oper bzw. Operette um 1900 als queere Figuren, deren interessante Position zwischen Polen wie Genderrollen, Abhängigkeit und Eigenständigkeit, Leben und Tod, Ehe und Nicht-(mehr-)Ehe eine Liminalität und Ambiguität eröffnet, die in den Bühnenwerken bisweilen genutzt wird, um ihnen „Agency“ sowohl innerhalb der Bühnenhandlung als auch in Bezug auf die Dramaturgie zu verleihen. Diego Alonso (Barcelona) fragte nach spezifischen Zeitgestaltungen in Werken spanischer homosexueller Komponisten des beginnenden 20. Jahrhunderts und verortete eine spezifische „queer temporality“ besonders im orientalistischen Kontext. Zur Diskussion stehen damit alternative Zeitlichkeitskonzepte zu linearen, teleologischen Prinzipien und die Frage, inwieweit „Queerness“ auch spezifisch hörbar gemacht werden könnte. Aus einer anderen Richtung näherte sich Miguel Machulla (Dortmund) der Frage nach hörbaren Charakteristika einer als „queer“ bezeichneten Musik. Machulla präsentierte Ergebnisse einer empirischen Untersuchung (gemeinsam mit Felix Christian Thiesen und Ann-Kristin Herget) des Labels „Queere Musik“ in musikjournalistischen Hitlisten, Playlists bei Musikstreamingdiensten und sozialen Netzwerken. Das Forschungsmaterial wurde ebenso wie das von Diego Alonso zum Nachhören als Playlist bereitgestellt.
Die berechtigte Frage, wie „Frauen um …“ berühmte Männer der Musikgeschichte auch ohne diesen Bezugspunkt diskutiert werden können, warfen zwei Vorträge auf, die John Cage bzw. Hans Werner Henze als Ausgangspunkt nahmen. Christina Richter-Ibáñez (Frankfurt) zeigte beginnend bei dessen Mutter eine große Zahl an Frauen auf, die zwar in den Fokus geraten, weil sie Werke Cages inspiriert, beauftragt und finanziert oder aufgeführt bzw. mitbearbeitet haben. Dass viele von ihnen selbst Künstlerinnen waren (wenn auch nicht immer Musikerinnen), wird bisweilen aber auch in aktuellen Programmtexten verschwiegen, wie etwa die entscheidenden Impulse der Dichterin und Töpferin Mary Caroline Richards für das als „erstes Happening“ berühmte Blackmountain Piece. Antje Tumat (Detmold/Paderborn) hingegen untersuchte gerade die komplexen persönlichen Beziehungen zwischen Hans Werner Henze und Grete Weil bzw. Ingeborg Bachmann, insbesondere im Verhältnis zur jeweiligen künstlerischen Zusammenarbeit. Beide zeigten damit, wie die „berühmte männliche Person“ durchaus wichtige Impulse für die Quellenrecherche geben kann, die dabei aufkommenden Fragen sich dann aber über Netzwerke oder institutionelle Bezüge womöglich adäquater diskutieren lassen als über die männliche Bezugsperson.
Kulturelles Handeln im Netzwerk stand in der letzten Sektion explizit im Vordergrund. Marleen Hoffmann (Berlin) stellte ein Projekt vor, in dem sie gemeinsam mit Christina Richter-Ibáñez und Helena Gerl das deutsch-englische Künstler:innen-Netzwerk um Else Headlam-Morley anhand ihres Nachlasses in Durham untersucht. Ausgehend von ersten Presserecherchen wurden die kulturellen Handlungsräume, die sich im deutsch-britischen Austausch um die Wende zum 20. Jh. eröffneten, diskutiert, wobei insbesondere der Vergleich zur ebenfalls in diesem übergreifenden Raum und womöglich in ähnlichen Netzwerken agierenden Ethel Smyth gesucht wurde. Das Personennetzwerk um den wenig bekannten Augsburger Klavierbauer Christian Then stellte Susanne Wosnitzka (Frankfurt) vor. Vielleicht kam er als Mann im Umfeld einer berühmten Frau, Clara Schumanns, in den Blick, die auf einem seiner Flügel in Augsburg konzertierte, organisiert von der Tochter des Klavierbauers, ihrer Augsburger Schülerin Käthchen Then. Ganz nebenbei eröffnete der Vortrag faszinierende Details zu den Orten Augsburger Musikausübung und dem Umfeld des Gasthofs Goldene Traube.
Wie aber können diese vielfältigen, hochspezialisierten Diskurse einem nicht-akademischen Publikum vermittelt werden? Wie lässt sich dem Ausschluss von Frauen aus der Musik und ihrer Geschichte breitenwirksam und doch fundiert entgegentreten? Ein aktuelles Buchprojekt von Cornelia Bartsch (Hamburg) regte die Diskussion dieser Herausforderung an – einer Diskussion, die angesichts des aktuellen öffentlichen Interesses an Komponistinnen besonders dringlich erscheint, um die Forschungen über Musik, Frauen und Gender zu vermitteln.
https://www.muwi-detmold-paderborn.de/forschung/tagung-musik-und-gender
