Tradycje śląskiej kultury muzycznej / Traditions of Silesian Musical Culture. Sonderausgabe „Na skrzyżowaniu szlaków Europy / At the crossroads of Europe’s routes“

von Izabela Jutrzenka-Trzebiatowska (Krakau), Sebastian Pstrokoński-Komar (Leipzig) und Gesine Schröder (Leipzig / Wien)

Das inhaltliche Konzept der vom 25. bis 27. März an der Musikakademie „Karol Lipiński“ Wrocław / Breslau abgehaltenen 17. Ausgabe der Konferenzserie zur schlesischen Musikkultur verantwortete Miłosz Kula, Assistenzprofessor der Akademie. Gewählt war das Thema der Ausgabe – Breslau als „Knotenpunkt europäischer Routen“ – vor dem Hintergrund, dass Polen in der ersten Jahreshälfte 2025 die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Zu hören waren 25 Vorträge von Referent:innen aus Polen (17), Deutschland (5), Tschechien (2) und der Ukraine (1). Die Keynote hielt Artur Błażejewski (Breslau). Er berichtete von musikarchäologischen Funden zur Klanglandschaft Schlesiens: Musikinstrumente, die in vorzeitlichen Gräbern aufgefunden wurden.

Im „Sacrum et profanum“ betitelten ersten Panel zeigte Thomas Ertelt (Berlin), inwiefern Alban Bergs Oper Lulu noch von Entwürfen zu einer Oper nach Gerhart Hauptmanns in Schlesien spielendem Drama Und Pippa tanzt! geprägt ist. Um für Pippa ein schlesisches Kolorit zu erreichen, erwarb Berg mehrere Sammlungen schlesischer Volkslieder, besprochen wurde auch der Lokalcharakter bestimmter Instrumente. Sodann sprach Remigiusz Pośpiech (Breslau) über den als „schlesischer Mozart“ geltenden Melchior Wiesner (ca. 1751–1825). Ob dieser mehr als ein geschickter Stilimitator gewesen sei, sollen noch künftige stilkritische Studien erweisen. Auch ist die Identität Wiesners bis heute nicht zweifelsfrei geklärt.

Im zweiten Panel über das Musikschaffen neuerer oberschlesischer Komponisten stellte Magdalena Stochniol (Katowice / Kattowitz) drehbuchartig auf bestimmte oberschlesische (Erinnerungs-)Orte zugeschnittene Entwürfe Aleksander Glinkowskis (1941–1991) vor. Anhand des Oratoriums Canticum puerorum von Eugeniusz Knapik (* 1951) zeigte Bartłomiej Barwinek (Kattowitz), wie mit musikalischen Zitaten langanhaltende Wiederholungsprozesse in Gang gesetzt werden, um die während des Zweiten Weltkriegs geschehene Verschleppung polnischer Kinder durch die sowjetischen Machthaber nach Sibirien musikalisch zu verarbeiten. Anna Stachura-Bogusławska (Kattowitz) porträtierte das nahezu unbekannte Œuvre Władysław Skwiruts (1946–2020). Typisch für dessen ab den späten 1960er Jahren bis etwa 1980 entstandene Stücke, denen nach über dreißigjährigem Verstummen kurz vor Skwiruts Tod einige wenige folgten, ist die Durchdringung von mathematischen Gestaltungshilfen bei gleichzeitigen, wohl von Witold Szalonek (1927–2001) angeregten Klangexperimenten.

In einem „Post bellum“ betitelten Panel erläuterte Sebastian Pstrokoński-Komar (Leipzig) exemplarisch am Werdegang des Komponisten Hermann Buchal (1884–1961), des Pianisten Bronisław von Poźniak (1887–1953) und des Musikwissenschaftlers Fritz Feldmann (1905–1984) die Schwierigkeiten aus Schlesien geflohener Musiker und Musikwissenschaftler, an ihren neuen Lebensorten Fuß zu fassen. Erstmals wurden damit auch die Auswirkungen auf die beruflichen Karrieren von Musikern untersucht, die sich in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands niederließen. Florian Schuck (Weimar) widmete sich dem Musiker Gerhard Strecke (1890–1968), dem es nach 1945 mit Mitte 50 nur schwer gelang, in Westdeutschland einen neuen Wirkungskreis aufzubauen. Der Referent hob Streckes Einsatz für das Weiterleben schlesischer Musikkultur hervor, so durch eine von ihm 1953 herausgegebene Sammlung von Lieder[n] der Schlesier sowie sein Engagement für Thomas Stoltzer (1475–1526) und Johannes Nucius (1556–1620).

Zwei Panels zum älteren schlesischen Musikleben und Repertoire eröffneten den zweiten Konferenztag. Über Matthäus Apelles von Löwensterns (1594–1648) Früelings=Mayen (1644), eine Sammlung späthumanistischer geistlicher Oden, sprach Gesine Schröder (Leipzig / Wien). Aus Experimenten mit der Realisierung antiker Versmaße in deutscher Sprache entstanden metrisch flexible Miniaturen, die die deutsche Villanellen-Rezeption aufgreifen. Zofia Chankowska (Breslau) informierte über eine in der Staatsbibliothek Berlin verwahrte Manuskriptensammlung mit Breslauer Orgeltabulaturen aus der Zeit um 1600. Zumeist in neuer deutscher Tabulatur notiert, enthält sie Übertragungen von Musik für Melodieinstrumente oder Gesangsstimmen. Sie weisen das damalige Breslau als Ort aus, an dem sich Fäden des Musiktransfers über fast ganz Europa hinweg kreuzten. Über die Stilistik der Arien von Augustin Volckmer (1755– ca. 1820) aus Trzebinia sprach Elżbieta Cabała (Breslau). Sie machte Einflüsse der neapolitanischen Schreibart in der formalen Gestaltung sowie in der Menge und Art von Koloraturen namhaft.

Im Zentrum von Tomasz Jeżs (Warschau) Vortrag stand das Stammbuch von Christoph Bremer (1621–1696), Kantor der Breslauer Christophorikirche. Die Einträge in dieses Album Amicorum erlauben die Rekonstruktion eines Netzwerks von Personen, denen er auf seinen Reisen bis nach Siebenbürgen begegnete. In dem von Jeż verlesenen Vortrag von Ewa Hauptmann-Fischer (Warschau) ging es um eine „Aria del Signor Annibali“ als Beispiel für Kastratenarien im stark von kontrafaszierten Opernarien geprägten Repertoire der Zisterzienser im niederschlesischen Lubiąż / Leubus. Seine Untersuchungen des Musikbestandes im Kloster Grüssau (Krzeszów) stellte Grzegorz Joachimiak (Breslau) vor. Bald nach der mongolischen Invasion Schlesiens im 13. Jahrhundert wurde in Grüssau ein Zisterzienserkloster gegründet, das bis 1810 in Betrieb war. Dessen reiches Musikleben erschloss der Referent anhand eines „Katalog[s] für die Musikalien (instrumental u. vokal) der Abtei Grüssau – Schles“.

In einem Panel über Carl Ditters von Dittersdorf (1739–1799), der lange in Schlesien gewirkt hatte, berichtete Jana Burdová (Olomouc / Olmütz) über neuentdeckte schlesische Gratulationskantaten. Dank ihrer Recherchen in Kłodzko / Glatz und Jeseník / Freiwaldau konnte sie zwei vollständig erhaltene Kantaten als Ditters’ Werke identifizieren: Clori e Nice und Federico il Re della Prusia, gewidmet dem preußischen König. Tomasz Fatalski (Warschau) sprach über Ditters’ in Breslauer Archiven erhaltene Kirchenmusik. Bei den Arien handelt es sich oftmals um geistliche Kontrafakturen; auch darum existiert von Ditters’ Musik bis heute kein zuverlässiges Werkverzeichnis. Über ihre Funde zu Ditters’ 1771 am Hof ​​des Breslauer Bischofs Philipp Gotthard von Schaffgotsch uraufgeführter Oper Il viaggiatore americano in Joannesberg berichtete Kristýna Krejčová (Olmütz). Nach einer Vorstellung der Aufführungsumstände des Werks legte sie Bezüge zur Burg Jánský Vrch / Schloss Johannesberg offen und las aus der Arie „Quanti sparser mai sudori“ Informationen über den Umbau des ovalen Schlosssaals zu einem Theatersaal heraus.

Miłosz Kula eröffnete das Panel zu schlesischem Musikleben im 20. und 21. Jahrhundert. Er schilderte anhand zahlreicher Dokumente, welche Anstrengungen nach dem Zweiten Weltkrieg nötig waren, um im Jelenia Góra / Hirschberg ein professionelles Orchester zu gründen. Als für das Programm der Niederschlesischen Philharmonie verantwortlichem stellvertretendem Direktor knüpft Kula heute an die Wurzeln des Orchesters an. Anna Granat-Janki (Breslau) gab einen Überblick über das Schaffen des an der Breslauer Akademie lehrenden Adam Porębski (* 1990). Sie erwähnte besonders dessen Umgang mit neuen Medien, einschließlich seiner Schaffung von Klanglandschaften für therapeutische und medizinische Zwecke. Martyna Krymska-Renk (Breslau) porträtierte das Symphonie-Ballett Żywe rzeźby Mistrza Andrzeja (Lebende Skulpturen des Meisters Andrzej) (1962/63) von Leszek Wisłocki (* 1931). Auf Ausführungen zu den Inspirationen, aus denen das Werk hervorging, folgten Nachfragen an den anwesenden Komponisten.

Den letzten Konferenztag eröffnete Bernward Speer (Bergisch-Gladbach) mit einer Vorstellung der Arbeit der Vereine „Institut für deutsche Musik im Osten e.V.“ und „Arbeitskreis Schlesische Musik e.V.“ seit der Nachkriegszeit bis heute. Beide Institutionen setzten sich für die Pflege und Erforschung des musikalischen Erbes Schlesiens ein und organisierten bis in die 1990er Jahre regelmäßig Tagungen und Musikwochen. Schon recht früh interpretierten sie Musik als Brückenschlag und stärkten so die Beziehungen zu polnischen Kolleg:innen. Von Tomasz Grochalski (Breslau) war eine Studie zu einem Ende der 1880er Jahre auf Grundlage von Ideen des Breslauer Musikforschers und Komponisten Hermann Eichborn (1847–1918) in einer Breslauer Blechblasinstrumentenfirma gefertigten Oktavwaldhorn in F zu hören. Wie es funktionierte, führte Grochalski an originalen Instrumenten vom Ende des 19. Jahrhunderts vor und zeigte dessen Möglichkeiten an Kompositionen Eichborns für Horn und Klavier auf. Aleksandra Pijarowska (Breslau) stellte die bisher zehn Musiktheaterproduktionen von Katarzyna Dziewiątkowska (*1984) vor, darunter ein von Techno und Pop inspiriertes Tanztheaterstück und eine Produktion für Puppentheater. Dziewiątkowskas Musik trete oft hinter theatrale Elemente wie das Licht und die Bewegung der Akteure auf der Bühne zurück. In einer Befragung der Komponistin war zu erfahren, dass sie um eines intensiveren Ausdrucks willen auf avancierte digitale Techniken und erweiterte Spieltechniken verzichtet.

Im abschließenden Panel zu Phänomenen der schlesischen Peripherie sprach Dziewiątkowska (Breslau) selbst über jene Filmmusiken des durch Produktionen in den USA international bekannt gewordenen Jan A. P. Kaczmarek (1953–2024), deren formale Gestaltung und Sentiment entscheidend von der Kollaboration mit dem Jazzpianisten Leszek Możdżer (* 1971) geprägt wurden. Ausgehend von Untersuchungen zur Geschichte musikwissenschaftlicher Studiengänge in L’viv / Lemberg und Breslau charakterisierte Oksana Hysa (Ternopil’) die heutige Ausbildung in beiden Städten. Die Fortführung der basalen und sekundären musikalisch-praktischen Ausbildung an einer musikwissenschaftlichen Abteilung der Universität sieht Hysa in westlicheren Ländern Europas durch das Fehlen von Einrichtungen wie Musikspezialschulen gefährdet.

Der Konferenz waren zwei Konzerte beigegeben, deren Programme einen lebendigen Eindruck vom früheren und heutigen Musikleben Schlesiens vermittelten. Am ersten Konferenzabend spielte die Leipziger Pianistin Charlotte Steppes Stücke schlesischer Komponisten vom späteren 19. Jahrhundert bis zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: ein die Bachkantaten-Rezeption fortschreibendes Präludium (1882) von Eduard Franck (1817–1893), eine Moderne Suite (1918) von Arnold Mendelssohn (1855–1933), ein neo-renaissancistisch karges Thema mit Variationen über ein polnisches Volkslied (1929) von Günter Bialas (1907–1995) und Sechs Klavierstücke von Hermann Buchal. Das Konzert am zweiten Konferenzabend mit elektroakustischer Musik unter Einbezug von Videos war eine Gemeinschaftsproduktion der Abteilung für Neue Medien u. a. mit dem Computerkompositionsstudio der Musikakademie und der Spielzeugklaviergalerie von Paweł Romańczuk. Matching component von Cezary Duchnowski (* 1971) und Marcin Rupociński (* 1971) setzte mit einer interaktiven Videoebene von Maja Wolińska (* 1972) ein Spiel in Gang, bei dem auditive und visuelle Elemente aufeinander reagierten. Vielschichtige Umwandlungsprozesse erbrachten in Karolina Kułagas EMT für Live-Elektronik subtile Klangqualitäten. Die Improvisation Immersion-Emersion von Maciej Michaluk (* 1997) und Marcin Rupociński basierte auf Leap-Motion-Bewegungssteuerungen. Alina Dzięcioł (* 1998) verwendete für ihr Stück kanałowe Topophonie und Tonkollisionen. Ein starker Abschluss des Abends war das Werk [[[~]]], ein von Clubmusik inspiriertes Klangbild Bartosz Radzikowskis.

Die Sonderausgabe zu Traditionen schlesischer Musikkultur schloss mit Miłosz Kulas Danksagung an Anna Granat-Janki, die die Verantwortung für die Konferenzserie nach langjähriger Leitung nunmehr an ihn als ihren Nachfolger übergeben hat.

Tagungsbericht

Tradycje śląskiej kultury muzycznej / Traditions of Silesian Musical Culture. Sonderausgabe „Na skrzyżowaniu szlaków Europy / At the crossroads of Europe’s routes“

veranstaltet durch:
Miłosz Kula, Musikakademie „Karol Lipiński“ Wrocław / Breslau

Musikakademie „Karol Lipiński“ Wrocław / Breslau

25.03.2025

bis 27.03.2025