„Bläsermusik der Renaissance: Instrumente, Kontexte, Repertoire"
Berlin, 28.-29.09.2012
Von Nicole Schwindt, Trossingen – 03.10.2012 | Die von Christoph Flamm an der Universität der Künste Berlin im angenehmen Refugium der Alten Bibliothek veranstaltete kleine, gleichwohl internationale Konferenz stand in Zusammenhang mit einem vom Organisator seit einiger Zeit betriebenen Forschungsprojekt. Dessen Skizze bildete den Problemaufriss und die Aufgabenstellung für die Tagung: Die Bedeutung von Bläsern für die Soundscapes des 15. und 16. Jahrhunderts gehört zu den Selbstverständlichkeiten unseres historischen Wissens. Doch nicht nur, dass dies kaum hinterfragt wird – die Schwierigkeiten beginnen, wenn der Sachverhalt im Detail befragt wird, und sie potenzieren sich, wenn versucht wird, die isolierten Kenntnisse zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Dass man von Letzterem noch weit entfernt ist, ja, dass man womöglich einer Chimäre nachjagt, wenn man von der Bläsermusik als einem homogenen Repertoirebereich ausgeht, machten die Referate gerade in ihren punktuellen Ansätzen deutlich. Klugerweise war der Radius auf Holzblasinstrumente beschränkt, die allenfalls in Kombination mit Trompeten und Posaunen auftreten, denn mit dem kompletten Einbezug der Blechblasinstrumente geriete man vollends in organologisch und sozialgeschichtlich unüberschaubare Gefilde.
Frank Bär vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg eröffnete unter dem Titel „Zu praktischen Aspekten der Forschung an Blasinstrumenten des 16. Jahrhunderts" den instrumentenkundlichen Teil, indem er die Hürden darstellte, die der an der Untersuchung von erhaltenen Objekten Interessierte im Forschungsalltag zu nehmen hat. Dass die Institution des Museums als Hort der einschlägigen Quellen eine mit Bibliotheken und selbst Archiven nicht zu vergleichende komplizierte Organisation aufweist, macht die Arbeit von der Erfassung und Dokumentation bis zur physischen Analyse immer wieder zum Abenteuer. Auch auf diesem Sektor erscheinen Erleichterungen durch Digitalisierung und globale Vernetzung am Horizont, aber auch nur dort.
Aus der Sicht des Restaurators nahm Tom Lerch vom Musikinstrumenten-Museum des SIM Berlin in einer Fallstudie „Die Krummhörner aus der St. Wenzelskirche Naumburg" in den Blick. Diese wohlbekannten und dennoch immer wieder neu zu prüfenden Instrumentensätze des 17. Jahrhunderts sind Glücksfall und Fallstrick in einem. Ihren genauen technologischen Ort, insbesondere hinsichtlich der Holzbiegetechnik, verraten sie trotz neuerer Untersuchungsmethoden und punktueller Rekonstruktion nur stückweise. Dennoch ergeben sich Kenntnissplitter, die vielleicht irgendwann einmal bei der Einschätzung helfen werden, ob es sich bei diesem und dem dazugehörigen Pommern-Set um einen späten, aber repräsentativen Fundus oder um überschätzte Amateurprodukte handelt. Dass das Krummhorn nicht nur ein sehr spezieller und rätselhafter, sondern auch ein exquisiter Klangkörper war – ganz im Gegensatz zu seinem Negativimage seit dem 20. Jahrhundert –, wurde erkennbar.
Der englische Praktiker in Sachen Doppelrohrblattinstrumentenbau Eric Moulder schilderte „Problems associated with creating modern reproductions of Renaissance woodwind instruments" auf sehr anschauliche Weise. Eindrücklich waren die gravierenden Unterschiede, die auch kleinere bautechnische Varianten etwa bei Schalmeien zeitigen. Und fast erschreckend war zu vernehmen, wie stark die heutige musikalische Praxis davon unangefochten sich noch immer auf jahrzehntealte prototypische Mainstream-Instrumente stützt.
Ihre über Dekaden vor allem auf dem Feld barocker Ikonographie und Organologie gesammelten Erfahrungen als Konservatorin des Musée instrumental du Conservatoire national supérieur de musique de Paris überführte Florence Gétreau in ein leidenschaftliches Plädoyer „Methodological aspects of woodwind iconography" im Transfer auf Blasinstrumente in Bildzeugnissen der Renaissance. Gerne glaubte man ihr die letztlich dürftig zu nennende bisherige Forschungsbilanz, schritt mit ihr das Panorama der investigativen Möglichkeiten ab und rieb sich an ihren Warnungen vor zu großem Vertrauen in die ikonographische Faktizität, die so manchen liebgewonnenen zentralen (weil seltenen) Bildbeleg abschwächen wollten. Die Gratwanderung zwischen Ernstnehmen und kontextualisierender Relativierung visueller Quellen bleibt eine nie endende Herausforderung.
Als am zweiten Tag die Musik selbst zum Betrachtungsgegenstand wurde, informierte der Kosmopolit Pedro Memelsdorff in seiner Eigenschaft als Musikwissenschaftler über neue Erkenntnisse aus einem Bereich, den man Tenores- und Modell-Archäologie nennen könnte („ ‚Soventt mes pas'. A note on Faenza's ‚dances' "). Über die Relationierung des Stückes im Codex Faenza insbesondere mit der Version in Cotton Titus A.26 erfuhr man Vieles zum fraktionierenden, interpolierenden und iterierenden Umgang mit musikalischem Ausgangsmaterial, das – auch wenn es im Referat nicht explizit ausgesprochen wurde – ein (auch) bläserspezifischer Denkansatz sein könnte. Während hier am Beginn der Renaissance zu nennenden Epoche Fragen der Idiomatik kein Thema sind, rücken genau diese am Ende des Zeitalters in den Fokus. Unter der Überschrift „Perspektiven übergreifender Forschung am Beispiel des Pommers" wandte sich Barbara Neumeier, Saarbrücken, dem Regensburger handschriftlichen Stimmbuchsatz 775–777 aus dem Umfeld der Hofkapelle Erzherzog Karls in Graz mit seinen singulären Besetzungsangaben zu, die mit zeitgenössischen Instrumenteninventaren korreliert wurden. So wie sich im Manuskript eine bewusste, an Zinken, Pommern und Posaunen orientierte Motettenauswahl abbildet, stellt es eine weitere Negativquelle für die sich abzeichnende Illusion eines reinen Pommernensembles dar.
Mit einem erneuten Blick auf „Silvestro Ganassis Diminutionskunst aus der Sicht ihrer praktischen Umsetzung: ‚Vom durchgängig komplizierten Diminuieren' " betrat der Blockflötist Michael Form von der Berner Hochschule der Künste das gut kartierte Terrain der Kolorationspraxis, wo das in La Fontegara angebotene Material dennoch wenig genutzt wird. Die Systematisierung der Formeln zeigte aufs Neue, wie die Instrumentalmusik den Anschluss an die Vokalmusik suchte und dabei das rhythmisch-irrationale sowie motorische Moment des Spielens in die Sphäre von Theorie und Schriftlichkeit zu überführen suchte.
Als Ausklang präsentierte Bernhard Stilz von Dr. Hochs Konservatorium in Frankfurt unter der Fragestellung „Unwichtige Nebeninstrumente oder außergewöhnliche Klangfarben?" ein Panoptikum an „einigen ‚unkonventionellen' Doppelrohrblatt-Instrumenten" des 16. Jahrhunderts wie Kortholt, Dulzaine, Cornamuse, Krummhorn, Rauschpfeife und Rankett, deren organologische Erforschung und damit funktionale Einordnung noch längst nicht alle Fragezeichen abgeschüttelt hat, obwohl sie optisch und terminologisch als Phänomene durchaus nicht wegdiskutiert werden können. Die akustische Demonstration eines Reenactments von Mielichs notorischem Bild der bayerischen Hofkapelle schlug den Bogen zurück zu Gétreaus Vortrag mit ihren Admonita.
Die Begegnung von Wissenschaftlern unterschiedlicher Spezialisierung und Praktikern verschiedener Couleur auf dem Podium und im Plenum (nicht selten in Personalunion) zeigte, dass der Gegenstand der Konferenz, auch die Probleme, die sich dabei auftun, auf beträchtliche Resonanz stoßen und in zahlreichen Winkeln des Interesses als Desiderat empfunden werden. Er zeigte aber auch, dass diese Probleme oft nicht nur deshalb (weiter-)existieren, weil die kritische Masse von Betroffenen und an Lösungen Interessierten fehlt, sondern weil es so schwer ist, eine gemeinsame Sprache zu sprechen, und das wiederum liegt am Mangel einer beide Seiten befriedigenden Methodologie. Die Fülle der notwendigerweise einzunehmenden Perspektiven wurde erfahrbar, und das war zweifellos der Benefit der Veranstaltung; der Weg, diese divergierenden Ansätze fruchtbar zusammenzuführen, liegt indes noch im Nebel und kann womöglich nur in kleineren zeitlichen, regionalen, sozialen und repertorialen Segmenten aussichtsreich beschritten werden.