„Polnische Musikwissenschaft an der Schwelle zum neuen Jahrhundert – Bereiche, Ziele und Methoden/Muzykologia polska u progu nowego stulecia – zakres, cel i metody"
Radziejowice, 17.-19.10.2012
Von Anja Krupa, Köln – 03.11.2012 | In diesem Jahr fand zum 41. Mal die Musikwissenschaftliche Konferenz des Verbandes polnischer Komponisten ZKP (Związek Kompozytorów Polskich) statt. Zum ersten Mal wurde diese gemeinsam mit der diesjährigen 10. Konferenz des Nationalen Frédéric Chopin Instituts NIFC (Narodowy Instytut Fryderyka Chopina) organisiert und an einen Ort etwas außerhalb von Warschau, das Schloss in Radziejowice, verlegt. Das Thema der Konferenz bezog sich auf das im letzten Jahr gefeierte 100-jährige Bestehen der polnischen Musikwissenschaft und sollte Einblicke in die aktuelle musikwissenschaftliche Forschung in Polen geben. Vom 17. bis 19. Oktober 2012 fanden die wichtigsten polnischen Musikwissenschaftler zusammen, um in sieben Sektionen und vier Sitzungen die Bereiche, Ziele und Methoden der polnischen Musikwissenschaft darzulegen und zur Diskussion zu stellen.
Nach den Begrüßungsworten von Paweł Gancarczyk, dem Leiter der musikwissenschaftlichen Abteilung ZKP und Artur Szklener, dem Direktor des NIFC, begann die Konferenz mit der ersten Sektion, die der gegenwärtigen Chopinforschung gewidmet war. Piotr Dahlig (Warschau) sprach über die Verbindung Chopins zur polnischen Volksmusik und die Sammlung polnischer Volkslieder, die durch den bedeutenden Ethnographen Oskar Kolberg im 19. Jahrhundert erstellt wurde. Der Innenarchitekt und Ahnenforscher Piotr Mysłakowski (Warschau) betonte die Wichtigkeit, welche die Genealogie Chopins habe und wies darauf hin, dass bis vor kurzem noch keine Forschung zur Familie der Mutter Chopins vorgenommen wurde. Zofia Chechlińska (Warschau) widmete sich in ihrem Vortrag den musikalischen Gattungen im Schaffen Chopins und legte nahe, die vor einigen Jahren durch J. Kallberg und J. Samson in Amerika begonnene Gattungsforschung auch in Polen weiterzuführen. Artur Szklener (Warschau) sprach über das Werk Chopins, Ewa Sławińska-Dahlig (Warschau) berichtete über die Probleme, welche aufgrund der verschiedenen Versionen eines Werkes bestehen und Wojciech Bońkowski (Warschau) widmete sich der seit ca. 1960 bestehenden Forschungsrichtung der Chopininterpretation.
Die zweite Sektion beinhaltete Selbstporträts der zweiten und dritten Generation polnischer Musikwissenschaftler der lembergischen Schule um Adolf Chybiński (1880-1952). Im ersten Teil erinnerten sich seine Schüler Zygmunt M. Szweykowski (Krakau), Jan Stęszewski (Posen/Warschau), Anna Czekanowska (Warschau) und Mirosław Perz (Warschau), im zweiten Teil die Schüler der Schüler Chybińskis Ludwik Bielawski (Warschau), Michał Bristiger (Warschau), Zofia Helman (Warschau) und Irena Poniatowska (Warschau) auf charmante Weise an ihre Studienzeit und gaben ihre Erinnerungen in spannenden Anekdoten preis.
Neben den sieben Sektionen gab es noch zweimal zwei parallel stattfindende Sitzungen. Die hier gehaltenen Einzelreferate waren auf ein Oberthema abgestimmt, untereinander aber sehr unterschiedlich. Die erste Sitzung beinhaltete Referate zur Problematik der Alte Musik Forschung, die parallel dazu stattgefundene zweite Sitzung zum Thema Musik – Bild – Raum. Besonders hervorzuheben sind zwei Referate der dritten Sitzung, die sich mit der Suche nach neuen Forschungsbereichen beschäftigte: Zum einen der Aufruf von Rafał Ciesielski (Zielona Góra) in der polnischen Musikwissenschaft vermehrt Forschungen zum Thema Jazz durchzuführen und zum anderen der humorvolle, wenn auch anzuzweifelnde Vortrag von Krzysztof Bilica (Warszawa), der anhand von verschiedenen Analysen ausführte, dass sich Chopin im Finalsatz der Sonate b-Moll der Dodekaphonie und des Serialismus bediente. Die Themen der vierten Sitzung kreisten um den polnischen musikalischen Schaffenskreis des 19. und 20. Jahrhunderts.
Die dritte Sektion widmete sich der zeitgenössischen polnischen Musik, ihren Problemen und Herausforderungen. Im Gespräch mit Musikwissenschaftlern, Musikkritikern und Komponisten entbrannte die Diskussion, ob die Musikkritik oder doch eher die Musikwissenschaft dafür sorgen könne, dass zeitgenössische Musik weiter verbreitet werde. Fest stehe, dass die zeitgenössische polnische Musik einen weißen Fleck in der polnischen Musikwissenschaft und auch im Lehrplan der Universitäten darstelle.
Mit dem Problem der Musikgeschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert befasste sich die vierte Sektion. Irena Poniatowska (Warschau) referierte über die verschiedenen Periodisierungen in der Musikgeschichte, Alicja Jarzębska (Krakau) spezialisierte sich auf die Musikgeschichte in der Auffassung Karol Bergers, Zbigniew Skowron (Warschau) auf die Gedanken über systematische Geschichte von Carl Dalhaus. Zofia Helman (Warschau) zeigte die Perspektiven nationaler Musikgeschichte auf, indem sie die polnische Musik als einen Teil der europäischen Musik und nicht als eine separate Richtung darstellte. Iwona Lindstedt (Warschau) veranschaulichte die Problematik der Kategorie des Neuen in der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Im Deutschen wäre die Begrifflichkeit des „Neuen" problematisch, da es bezüglich der Musik verschiedene Synonyme gäbe: Neue Musik, Moderne Musik, Avantgarde, Zeitgenössische Musik.
Die fünfte Sektion widmete sich der Identität der Musikethnologie und warf die Frage auf, ob sich der Gegenstand der Forschung nicht geändert habe und die Musikethnologie nicht durch die Soziologie dominiert werde. Wichtig wäre hier, neue Wege der Forschung zu finden und nicht im Paradigma Oskar Kolbergs zu verweilen. Des Weiteren müsse in die Ausbildung junger Musikethnologen investiert werden, um die musikethnologische Forschung voranzutreiben.
Aus gesundheitlichen Gründen konnte Mieczysław Tomaszewski (Krakau) nicht zur Konferenz erscheinen, stattdessen präsentierte Irena Poniatowska Tomaszewskis Text, der die Entschlüsselung eines Musikwerkes auf verschiedenen Ebenen zum Thema hatte. Darüber hinaus wurde zusätzlich die Internetversion der polnischen Zeitschrift Musicology Today von Łukasz Kozak (Warschau) und Sławomira Żerańska-Kominek (Warschau) vorgestellt, die es ermöglicht alle bisher auf Englisch erschienenen Texte online kostenfrei zu lesen und zu speichern.
In der sechsten Sektion wurde die Aufmerksamkeit auf die Herausforderungen gelenkt, vor denen die gegenwärtige Systematische Musikwissenschaft steht. Andrzej Miśkiewicz (Warschau) widmete sich interdisziplinären Problemen der Klangwahrnehmungsforschung, Piotr Podlipniak (Posen) behandelte das Thema Musik und Sprache, Justyna Humięcka-Jakubowska (Posen) berichtete über automatisierte Musikforschung, Joanna Kantor-Martynuska (Warschau) widmete sich der emotionalen Wahrnehmung von Musik und Sylwia Makomaska (Warschau) beendete die Sektion mit ihrem Vortrag zur Musik in der Marketingkommunikation.
Die Frage nach der Identität der Musikwissenschaft und ob diese eher zu den Humanwissenschaften oder zu den Naturwissenschaften gehört, entbrannte im Laufe der letzten Sektion und blieb, vor allem vor dem Hintergrund der neuen Forschungsfelder der Systematischen Musikwissenschaft, ungeklärt als Abschluss der Konferenz stehen. Die meist rege Diskussion sorgte hier weniger für zusätzliche Erkenntnis, dafür umso mehr für einen intensiven Meinungsaustausch.
Die sehr gut organisierte und strukturierte Konferenz, die in einem schönen und stimmungsvollen Ambiente stattfand, wurde durch ein Recital des Pianisten Paweł Wakarecy ergänzt. Eine Veröffentlichung der Beiträge in der Reihe Forum Muzykologiczne ist in Vorbereitung (weitere Informationen unter www. zkp.org.pl).