Trayectorias / Cultural Exchanges Music between Latin America and Europe 1945–1970
Berlin, 05.-07.04.2017
Von Franziska Streblow, Berlin – 26.07.2017 | Der betrachtete Zeitraum zwischen 1945 und 1970 fällt nicht nur mit der Ära des Kalten Krieges, sondern auch mit der Franco-Ära in Spanien und vielen Militärdiktaturen Lateinamerikas zusammen. Die dadurch ausgelösten Migrationsprozesse, die bereits im Spanischen Bürgerkrieg beginnen, führen einerseits nach Lateinamerika, aber auch von Lateinamerika zurück nach Europa. Musikalische Beziehungen infolge institutioneller Einflüsse, Musikfestivals, Konzertreisen, migrierte deutsche und spanische Musikwissenschaftler, Stereotypen von Musik aus und Avantgarde in Lateinamerika bildeten die Kernthemen. Rund dreißig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht Ländern und drei Kontinenten diskutierten angeregt im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin, das diese Konferenz gemeinsam mit der Universität der Künste Berlin und mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstaltete. Die Beiträge werden in der IAI-Reihe Ibero-Online veröffentlicht.
Dörte Schmidt (Berlin) eröffnete den ersten Themenblock Cultural politics – cultural exchange – musical institutions and programs 1945–1970 mit einem Vortrag über die Entwicklung des kulturellen Austauschs anhand von Institutionsgründungen in Lateinamerika, wie zum Beispiel des German Music Council (1949), des DAAD (1950) und des Goethe Instituts (1951). Ulrike Mühlschlegel (Berlin) stellte die Musikbestände des Ibero-Amerikanischen Institutes vor, zu denen neben zahlreichen Schallquellen, Musikalien und Fachliteratur insbesondere Zarzuela-Libretti zählen. Daniela Fugellie (Santiago de Chile) ging in ihrem Vortrag auf die chilenisch-europäische Institutionengeschichte im Bereich des musikalischen Austauschs nach 1945 ein. Consuelo Carredano (Mexico City) nahm das Herausgeberteam der ersten mexikanischen Musikzeitschrift Nuestra Música in den Blick, dessen spanische Mitglieder (Rodolfo Halffter, Jesús Bal y Gay, Adolfo Salazar) ihr Land wegen des Bürgerkrieges (1936-1939) verlassen hatten. Pablo Cuevas (Köln) analysierte frühe elekroakustische Kompositionen aus Lateinamerika, die er Kategorien wie ‚Erinnerungskultur‘, ‚regionaler Kultur‘ und ‚politischem Bezug‘ zuordnete. Marcela González Barroso (Oviedo) behandelte die Kompositionen des emigrierten Spaniers Eduardo Grau in Argentinien, wobei sie zwischen den spanischen Begriffen exiliado und transterrado unterschied, die unterschiedliche Auffassungen der Emigration widerspiegeln. Daniel Moro Vallina (Oviedo) erörterte die Bedeutung der chilenischen Komponisten Gustavo Becerra-Schmidt und Pablo Garrido, die durch ihre Vorträge in Spanien die theoretischen Grundlagen zur Zwölftonmusik in Spanien legten.
Carol Hess (Davis) sprach über avantgardistische Komponisten unter Franco. Sie hatten es schwer, ihr Können zur Geltung zu bringen und suchten stattdessen in den USA erfolgreich nach Anerkennung. Harm Langenkamp (Utrecht/Amsterdam) beleuchtete die Rezeption von Stravinskys Kompositionen auf einem brasilianischen Festival im Jahr 1963, das eigentlich volkstümliche brasilianische Klänge präsentierte. Friedemann Pestel schilderte die Konzertreisen europäischer Orchester in den 1950er und 60er Jahren. Tobias Rupprecht (Exeter) beschloss den ersten Kongresstag mit einem Vortrag über die begeisterte Mambo-Rezeption in der ehemaligen Sowjetunion vor dem Hintergrund der siegreichen Kubanischen Revolution.
Insgesamt konzentrierte sich der Kongress auf Neue Musik. Europäische Komponisten wie Stravinsky, Schönberg, Berg, aber auch der US-Amerikaner Cage beeinflussten in Lateinamerika die zeitgenössische Musik. Musikalische Stereotype über Lateinamerika wurden im Themenblock Music, history and cultural transfer: Stereotypes and narratives erörtert. Barbara Alge (Rostock) berichtete über den ausgewanderten Feldforscher Francisco Curt Lange, der in Brasilien Musikschulen gründete und in Argentinien mehrere Zeitschriften herausgab, wobei er mit der deutschen Musikwissenschaft um Friedrich Blume in Kontakt stand. Matthias Pasdzierny (Berlin) sprach ebenfalls über den Einfluss der deutschen Musikwissenschaft in Lateinamerika und wies darauf hin, dass dieser einer intensiveren Rezeption einheimischer Musik im Wege stand. Mit lateinamerikanischen Stereotypen im Rahmen des Eurovision Song Contest beschäftigte sich schließlich Dean Vuletic (Wien).
Um die Rezeption europäischer Musikschaffender ging es im dritten Vortragsblock Agents and processes of exchange I: From Europe to Latin America and vice versa. Über Hans-Joachim Koellreutter und seine Schüler sprach Ilza Nogueira (João Pessoa), wobei sie auf die Verschmelzung brasilianischer und europäischer Einflüsse in der Konzertmusik ihres Landes einging. Omar Corrado (Buenos Aires) behandelte die erfolgreichen Aufführungen der Berg-Oper Wozzeck und der Schönberg-Oper Moses und Aron in Buenos Aires zwischen 1950 und 1972. Christina Richter-Ibáñez (Tübingen) stellte Komponisten und Interpreten vor, die nach 1945 Deutschland aufgrund mangelnden Erfolgs verließen und in Lateinamerika ihre Karrieren begannen. Bevor Gesine Müller (Köln) mit ihrer Keynote über Kulturtransfer in der Literatur den zweiten Tag ausklingen ließ, waren drei Kurzpräsentationen über Argentinien, Spanien, Kuba und Frankreich zu hören. María Fouz Moreno (Oviedo) beschäftigte sich unter anderem mit dem spanischen Komponisten Julián Bautista, der in der argentinischen Filmindustrie sehr erfolgreich wurde. Über den kubanischen Dirigenten und Musiker Manuel Duchesne Cuzán berichtete Greta Perón Hernandez (Madrid). Belén Vega Pichaco (Oviedo) schließlich sprach über die folkloristischen Tänze kubanischen Ensembles Conjunto Folklórico Nacional in Paris.
Der letzte Themenbereich war Agents and processes of exchange II: From Europe to Latin America and vice versa betitelt. Zunächst gab Julio Ogas (Oviedo) weitere Informationen zu Julián Bautista in Argentinien, wobei er unter anderem dessen kompositorische Kritik an Franco ansprach. Victoria Eli Rodríguez (Madrid) erläuterte an den Beispielen Weimar und Berlin, wie Kubaner in Instrumentalfächern, Dirigieren und Musikwissenschaft in der DDR ausgebildet wurden. Über den brasilianischen Filmkomponisten Rogério Duprat und die Anregungen, die er aus Darmstadt, von John Cage und den Beatles bezog, sprach Maria Alice Volpe (Rio de Janeiro). Diego Alonso Tomás (La Rioja) hob die Bedeutung des vergessenen deutsch-spanischen Musikkritikers Otto Mayer-Serra hervor, der später in Mexiko im Exil lebte. Osvaldo Budón (Montevideo) sprach über den Einfluss von Edgard Varèse auf die argentinischen Komponisten Alcides Lanza und Graciela Paraskevaídis. Zum Abschluss spielte und kommentierte Cristina Capparelli Gerling (Rio de Janeiro) die 3. Klaviersonate (1955) des brasilianischen Komponisten Cláudio Santoro.
Insgesamt war der Kongress ein Anfang, um die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen der Nachkriegszeit aufzuarbeiten und zeigte, dass hier noch viel zu erforschen ist. Auch andere Bereiche wie die populäre Musik und die Folklore stellen ergiebige Gegenstände dar. Dabei ist Lateinamerika zwar als geographischer Begriff mit Sprachähnlichkeiten des Spanischen und Portugiesischen zu betrachten, aber auf keinen Fall als musikalische Einheit. Jedes Land des zentral- und südamerikanischen Kontinents hatte seine eigenen historischen und musikgeschichtlichen Bedingungen.