Die Familie Stamitz und die europäische Musikermigration im 18. Jahrhundert

Schwetzingen, 17.-18.06.2017

Von Hanna Knötzele, Heidelberg – 31.07.2017 | Anlässlich des 300. Geburtstags von Johann Stamitz veranstalteten die Forschungsstelle „Geschichte der südwestdeutschen Hofmusik“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim und das Kurpfälzische Kammerorchester e.V. am 17. und 18. Juni 2017 ein Symposium mit anschließendem Festvortrag und Festkonzert. Die in Schwetzingen stattfindende Tagung unter der Leitung von Silke Leopold (Forschungsstelle Südwestdeutsche Hofmusik der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Schwetzingen) und Panja Mücke (Fachgruppe Musikwissenschaft/ Musikpädagogik, Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim) verstand sich als Impulsgeber und Forum für einen insbesondere an Nachwuchswissenschaftler gerichteten Diskurs über die Bedeutung von internationaler Mobilität im 18. Jahrhundert im Umfeld der „Mannheimer Schule“.

Migration und kultureller Austausch stellen nicht nur heutzutage hochaktuelle Themen dar, sondern prägten die Menschheits- wie Kulturgeschichte seit ihrem Beginn. Weit zurückverfolgen lässt sich eine damit einhergehende Problematik in der Wahrnehmung wie etwa im Beispiel des italienischen Terminus für Völkerwanderung „invasione dei barbari“ (wörtlich: Invasion der Barbaren) greifbar wird. Der unter dem Begriff „Mannheimer Schule“ gefasste, auf ganz Europa ausstrahlende, unverwechselbare Lokalstil entstand aus dem fruchtbaren Zusammenwirken von originellen Ideen vor einem facettenreichen Horizont von Musikern unterschiedlicher Herkunft. Die entscheidende Rolle, die Migration für das Musikleben am Kurpfälzischen Hof spielte, ist jedoch aus dem Rahmen unseres heutigen Bildes der „Mannheimer Schule“ gefallen – insofern kann Migration auch in diesem Kontext als ein Problem der Wahrnehmung gesehen werden. Dass sich ein derartig blühendes Musikschaffen am Hof Mannheim/Schwetzingen entfalten konnte, das Musiker aus ganz Europa anzuziehen vermochte, dafür legte der Kurpfälzer Kurfürst Carl Theodor mit seinem regen kulturellen und musikalischen Interesse den Grundstein. Kulturtransfer und Migration vor dem Hintergrund der politischen und soziologischen Bedingungen des 18. Jahrhunderts in den Blick zu rücken und ihre Bedeutung im Kontext des kurfürstlichen Hofes zu eruieren, dafür stellte dieser in den einführenden Worten Leopolds und Mückes eröffnete Horizont den Auftakt dar.

Die ersten drei Referatsbeiträge widmeten sich dem aus Böhmen gebürtigen Jubilar und fokussierten dabei jeweils einen der Aspekte Biographie, Werk und Rezeption. Gwendolyn Döring (Mainz) regte in ihrem Referat eine Neuperspektivierung für die Rolle des Jesuiten-Ordens für Johann Stamitz‘ biographischen Wandel an. Seine Schülerschaft am Iglauer Jesuiten-Gymnasium könnte als Kontakt zu einem internationalen Netzwerk, das die Glaubensgemeinschaft unterhielt, im Hinblick auf die spätere Migration von Bedeutung gewesen sein –  möglicherweise als Verbindung zu westlichen Einrichtungen der Bruderschaft im Allgemeinen oder Konkreten, hatte der Orden doch in der Person Pater Seedorfs als wichtiger Bezugsperson für Carl Theodor einen Vertreter am kurfürstlichen Hof. Bildete die jesuitische Glaubensgemeinschaft in ihrer Landesgrenzen übergreifenden Qualität einen wichtigen Bezugspunkt für Stamitz, würde diese Verbindung als Konstante einen ausschließlich auf den geographischen Parameter beschränkten Heimatbegriff infrage stellen. Andreas Troibitus (Marburg) Beitrag galt Johann Stamitz‘ in Paris aufgeführter Missa Solemnis in D unter den Gesichtspunkten Entstehungskontext, Stil und Rezeption. Gerade die Werkteile mit neuen kompositorischen Errungenschaften hinsichtlich formaler und motivischer Gestaltung sowie Instrumentierungsweise, wie sie im Umfeld der „Mannheimer Schule“ verzeichnet werden können, haben nicht nur Richters und Gossecs Messkompositionen geprägt, sondern wurden zu einem kompositorischen Modell mit einer Strahlkraft jenseits von Mannheim und Paris. Mit Johann Stamitz‘ Rezeption seitens der tschechischen Musikwissenschaft beschäftigte sich David Vondráček (München) und veranschaulichte, wie der in Böhmen geborene Komponist ins Fadenkreuz von Strategien der nationalen Vereinnahmung geriet – ein im Zusammenhang von Musikermigration des Öfteren zu beobachtendes Phänomen.

Yevgine Dilanyan (Schwetzingen) betrachtete in ihrem Beitrag die im Umfeld des Mannheimer Hofs entstandenen Flötenquartetten Carl Joseph Toeschis, Carl Stamitz und Ernst Eichners aus der Perspektive der Musikermigration.

Wie sich der kulturelle Austausch zwischen Mannheim und Paris gestaltete, legte Mechthild Fischer (Mannheim) in ihrem Referat dar und regte dabei eine Diskussion an über die Rolle, welche die Außenwahrnehmung für die „Identitätsbildung“ der maßgeblich auf Kulturtransfer und Migration gründenden „Mannheimer Schule“ spielte.

Die anschließenden beiden Beiträge befassten sich mit Migration, Stellung und Werdegang von Musikern an Blasinstrumenten, vor allem Hornisten, deren Instrumente sich gewissermaßen in der Etablierungsphase im Orchesterapparat befanden. Insbesondere Deutsche und Böhmen genossen als Blasinstrumentalisten – vor allem als Hornisten – einen ausgezeichneten Ruf. Wie stark vertreten deutsche Hornisten in den Besetzungslisten der Pariser Theater waren und oft sogar in mehreren Ensembles parallel spielten, zeigte Sarah Schulmeister (Wien) auf. Kann somit auf die Attraktivität Frankreichs für deutsche Bläser geschlossen werden, lassen sich an südwestdeutschen Höfen mehrfach böhmische bzw. aus Böhmen stammende Hornisten nachweisen, was Rüdiger Thomsen-Fürst (Schwetzingen) am Beispiel der Hornistenfamilie Ziwny veranschaulichte. Hatten sich die vier Söhne des in Prag geborenen Jan Ziwny strategisch klug an den Höfen Mannheim, Rastatt und Zweibrücken positioniert, lässt sich ihr Beispiel mit jenem der ebenfalls böhmischstämmigen Brüder Holluba, die als Leibeigene des Fürsten von Löwenstein an verschiedenen süddeutschen Höfen herumgereicht wurden, kontrastieren.

Thomas Betzwieser (Frankfurt) erweiterte mit seinem Beitrag die Perspektive auf Kulturtransfer nicht nur in geographischer, sondern auch gattungsspezifischer Hinsicht, indem er sich Franz Ignaz Beck als Beispiel für den Einfluss eines „Mannheimer“ Komponisten auf das Musiktheaterleben in Bordeaux widmete.

Beleuchteten Redebeiträge und Diskussionen somit unter verschiedenen Aspekten die Bedeutung des Musiklebens am kurfürstlichen Hof Mannheim/Schwetzingen als Zentrum für Kulturtransfer und Migration auf der Ost-West-Achse, so rückten die Referate von Sarah-Denise Fabian (Schwetzingen) und Norbert Dubowy (Salzburg) den Austausch mit Italien in den Fokus. Am Beispiel des Württembergischen Hofes zeigte Fabian auf, wie das Interesse an italienischen Musikern derart ausgeprägt war, dass auch eine andere Konfessionszugehörigkeit dafür in Kauf genommen wurde. Dass der Stand der katholischen Italiener im protestantischen Stuttgart jedoch nicht unproblematisch war, darauf lassen verschiedene Quellen sowie die Auslagerung der Aufträge für sakrale Kompositionen schließen. Dubowys Beitrag galt einer detaillierten Betrachtung der Faktoren wie stilgerechter Aufführung sowie Exzellenz im Solospiel und in der Ensembleleitung, auf denen sich die Beliebtheit italienischer Instrumentalisten an deutschen Höfen gründete.

Die um neue Impulse und Perspektiven bereichernde Tagung fand im Festvortrag von Michael Werner (Paris) zum Thema „Musiker im Spannungsfeld von Migration und lokaler Verankerung. Zum Wandel der Konzepte und Praktiken von Mobilität (18.- 21. Jahrhundert)“ einen markanten Abschluss. Einen stimmungsvollen zweiten Teil des Festaktes, der im „Original-Ambiente“ des Rittersaals des Mannheimer Schlosses stattfand, bildete das Werken des Jubilars Johann Stamitz gewidmete Konzert des Kurpfälzischen Kammerorchesters mit Bläsern der Mannheimer Musikhochschule.

Die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge ist vorgesehen.