Rund um Beethoven. Interpretationsforschung heute
Bern, 13.-16.09.2017
Von Valeria Lucentini, Bern – 31.08.2018 | Der Begriff der Interpretation ist eine charakteristische Kategorie unserer Zeit, mit der wir Musik aus allen Epochen ästhetisch und hermeneutisch verbinden. Hermann Danuser unterscheidet drei Modi der musikalischen Interpretation, nämlich den historisch-rekonstruktiven, den traditionellen und den aktualisierenden. Alle drei Modi und weitere Aspekte der heutigen Interpretationsforschung rund um das Werk Beethovens standen im Fokus des viertägigen interdisziplinären Symposiums an der Hochschule der Künste Bern (HKB), das auf drei exemplarisch für diese Modi stehenden aktuellen SNF-Projekten basierte: In dem von Thomas Gartmann geleiteten Projekt „Vom Vortrag zur Interpretation“ wurden die Veränderungen und Weiterentwicklungen der interpretatorischen Praktiken , mit denen sich die Interpretation von Beethovens Musik gewandelt hat, aufgrund von Ausgaben durch Moscheles respektive mithilfe von Klavierrollen untersucht, während bei „Annotated Scores“ (Leitung: Chris Walton) eine detaillierte Geschichte der Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert anhand annotierter Dirigierpartituren als Primärquellen erforscht wird. Schließlich greift „Verkörperte Traditionen romantischer Musikpraxis“ (Leitung: Kai Köpp) zu „Embodiment“ als einer Methode, Wissen durch das körperliche Verstehen historischer Informationen über die Musik des 19. Jahrhunderts zu generieren.
Alle drei Projekte beschäftigen sich mit methodologischen und begrifflichen Fragen, die im Zentrum aller fünfundvierzig Beiträge standen. Die Notwendigkeit, über den traditionellen Ansatz hinauszugehen, thematisierte der Beitrag von John Rink (Cambridge), der die Kreativität des Musikers gegen die Grenzen verficht, die mit „interpretative acts“ assoziiert sind. Carolina Estrada Bascunana (Tokyo) und Manuel Bärtsch (Bern) nahmen beide kritisch zu „sakrosankten“ Interpretationen Stellung und zeigten, inwieweit andere Elemente und Quellen wie pädagogische Instruktionsanweisungen oder Welte-Klavierrollen nötig sind, um die Spielweise eines Musikers besser zu rekonstruieren. Solcherart von der Welte-Mignon-Einspielung von Claude Debussys „Danseuses de Delphes“ ausgehend, leitete Olivier Senn (Luzern) eine Tempokurve her, die systematische und unsystematische „timing variation“ trennen kann, eine neue Methode, um Agogik präziser zu messen und darzustellen. Mit seiner exegetischen und zugleich hermeneutischen Analyse stellte Georges Starobinski (Basel) die Wechselwirkung zwischen dem Terminus „semplice“ in den Klaviersonaten Beethovens und der Komplexität seiner Formgestaltung vor.
Kai Köpp (Bern) präsentierte die angewandte Interpretationsforschung als eine Disziplin, die sich zwischen der historischen und systematischen Musikwissenschaft verortet, da sie sich über besondere Quellengattungen wie annotiertes Aufführungsmaterial oder instruktive Ausgaben definiert.
Zwei Beiträge leiteten zur Moderne über: László Stachó (Budapest) definierte einige Kriterien, die den „shift“ von einer „rhetorical“ zu einer „structuralist thinking performance“ ausmachen; illustriert durch Aufnahmen von Pianisten der Liszt-Schule wie Eugen d’Albert, Ernő Dohnányi und Béla Bartók im Vergleich zu Interpretationen von Igor Stravinskij. Burkhard Kinzler, Hans Christian Maier und Lukas Näf (Zürich) untersuchten Musik Anton Weberns aus der Sicht intonatorischer Experimente und Tempomodifikationen. Der Pianist und Musikwissenschaftler Robert Levin (Boston) inszenierte schließlich die Wende zur Moderne mit seiner Concert Lecture über „Beethoven als Vollstrecker C. P. E. Bachs“, dessen Werke eben einen Wendepunkt für die Musik bildeten. Mit der Aufführung von Klavier-Fantasien des Berliner beziehungsweise Hamburger Bachs demonstrierte er dessen großen Einfluss auf Haydn, Mozart und Beethoven und die Wendung der Musik bei Beethoven von Porträts anderer zu Darstellungen der eigenen Empfindungen.
Am zweiten Tag lag der Fokus wieder auf Methoden der Interpretationsforschung. Die Klavierrollen-Forschung an der HKB wurde von Sebastian Bausch (Bern) präsentiert, der anhand der Veränderungen von historischen Regulierungen bei Reproduktionsklavieren den Quellenstatus von Klavierrollen vorstellte. Clive Brown (Leeds) sprach das Verhältnis zwischen Notation und Aufführung im 18. und 19. Jahrhundert an und wies auf die Notwendigkeit hin, die Kluft zwischen „Practice-Led Research“ und dem professionellen Musizieren durch historisch informierte Editionen und Spieltechniken zu überwinden. Diese Lücke, die den Pianisten viel interpretative Freiheit lässt, könnte auch mittels der Emulation von „Early Sound Recording“ geschlossen werden, wie Neal Peres Da Costa (Sydney) vorschlug.
Notation und Aufführung, Partitur und kreative Spielweise wurden erschöpfend zusammengefasst in der Concert Lecture von Tomasz Herbut, der Alexander Goldenweisers Verständnis von Beethovens Musik als kreativ, aber gleichzeitig stilsicher und respektvoll im Umgang mit dem Notentext charakterisierte. Dass auch Bearbeitungen eines Werkes für die Interpretationsforschung relevant sein können, zeigte Thomas Gartmann in seinem Vortrag. Die Analyse von Beethovens einziger Bearbeitung einer Klaviersonate (op. 14/1) für Streichquartett zeigt, dass die Quartettfassung als Interpretations-Anleitung der Klaviersonate gelesen werden kann. Auch durch Partiturspielen lassen sich Techniken aufspüren, die auf die orchestrale Realisierung rückverweisen, wie Michael Lehner (Bern) an Beispielen von Gustav Mahler und Richard Strauss demonstrierte. Ein weiteres Beispiel sind von Johannes Brahms selbst angefertigte vierhändige Bearbeitungen seiner Orchesterwerke. So kontextualisierten Ivo Haag und Adrienne Soós (Luzern) mit ihrer Concert Lecture die künstlerischen Freiheiten des Komponisten, die einen bedeutenden Einblick in die Aufführungspraxis der Zeit geben. Ein Nachwuchsforum von Studenten der HKB und eine filmische Dokumentation der Arbeit mit dem Welte-Mignon-Reproduktionsklavier schlossen den zweiten Tag ab.
Impulse für die Interpretation der Musik oder der Rezeption Beethovens kommen auch aus Inszenierungen. So stellte Leo Dick (Bern) durch die Analyse von Matthias Rebstocks Büro für postidentisches Leben die Rolle von Beethovens Klaviersonate op. 111 beim Prozess der theatralen Liminalisierung des postindividuellen Ichs dar, während Elizabeth Waterhouse die Verwendung der Aufnahme des Alban-Berg-Quartetts von Beethovens Streichquartett Nr. 15 op. 132 im Stück TRIO des Choreografen William Forsythe analysierte, der den „type of listening“ des Ballettpublikums absichtlich stören wollte. Kritische Deutungen von Claus Guths Salzburger Inszenierung des Fidelio 2015 und von Rolf Liebermanns und Heinrich Strobels Leonore 40/45 betonten die Wichtigkeit von Ideologie und Kontext jeder Opernproduktion.
Im Kontext der historischen Aufführungspraxis wurde der Einfluss der englischen und französischen Schule auf das Wiener Pianoforte von Giovanni Paolo di Stefano (Amsterdam) mit Blick auf das Eder-Piano von Beethoven demonstriert. Stefano Molardi (Lugano) zeigte, dass Beethovens musikalische Denken zum Teil auf der Wirkung der Orgel basierte, während Martin Skamletz (Bern) die Erweiterung des Tonraumes mit der Veränderung der formalen und tonalen Disposition der Werke in Verbindung setzte.
Stärker analytische Perspektiven kamen von Carlotta Marturano (Montréal), die französische Konvergenzen in Beethovens Klaviermusik – zum Beispiel Schnittpunkte zu Boïeldieus Werken – festgestellt hat, und von Stephan Zirwes (Bern), der neue Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Analyse mit Blick auf Adolph Bernhard Marx’ Betrachtungen zu Beethovens Kompositionen für das Klavier diskutierte. Patrick Jüdt (Bern) schloss die Diskussion mit einem Vortrag ab, in dem er einen experimentellen Zugang zu Beethovens Scherzo aus dem Streichquartett op.18/6 erprobte. In Zusammenarbeit mit dem Quatuor Ernest demonstrierte er, wie das Studium musiktheoretischer Werke des 18. und 19. Jahrhunderts eine flexible Analyse erlaubt, welche die Interpretation wesentlich beeinflussen kann – insbesondere die musikalische Rhetorik, die in der Zeit stark mit Deklamationsakzenten verbunden und konzipiert wurde. Am Abend fanden noch das Konzert „Paris-Wien 1801–1811“ und „Gespräche am Kamin“ mit den Dirigenten Lennart Dohms und Graziella Contratto (Bern) statt.
Der letzte Tag begann mit der Sektion „Edition als Interpretation“, einem zentralen Aspekt für die Aufführungspraxis, der mit dem Schreibprozess und dem Begriff von Werktreue verbunden ist. Federica Rovelli (Bonn) betrachtete Beethoven-Ausgaben im ideengeschichtlichen Kontext und in der Tradition von Skizzenforschung, die einen Lesarten-Wechsel von „instruktiv“ zu „archäologisch“ zeigen. Nach dem Vortrag von Michael Ladenburger (Bonn) zu relevanten Notationsspezifika in Beethovens Originalhandschriften unterstrich Johannes Gebauer (Bern) die Wichtigkeit der philologischen Editionen. Wiederum auf ein „Beyond the Score“ wies Leonardo Miucci (Bern) hin, indem er überzeugend die Veränderungen in der Pedal-Notation Beethovens mit der Entwicklung des Instrumentes illustrierte.
Die letzte Sektion widmete sich dem Wandel von Werkauffassungen. Hier stellte Chris Walton (Bern) neue Quellen vor, die für das Verständnis von Richard Wagners Dirigat von Beethovens Neunter Sinfonie bedeutend sind. Ein ähnliches Phänomen präsentierte auch Lena-Lisa Wüstendörfer (Basel): Die Produktion Felix Weingartners von Beethovens Fidelio 1908 zog die Missgunst des Wiener Publikums und der Presse auf sich, die Mahlers Version 1904 als die „wahre“ gesehen hatten. Nach einem von Christoph Moor präsentierten Überblick zur Rezeptionsgeschichte der Jupiter-Sinfonie in Beethovens Wien wies schließlich Roger Allen (Oxford) nach, wie Wagners Interpretation des ersten Satzes der Klaviersonate op. 101 einen Einfluss auf seine eigene Kompositionsweise hatte, insbesondere in der Oper Tristan und Isolde (1859). Ein Konzert-Rezital mit David Eggert (Bern) und Gili Loftus (Montréal) beschloss die Tagung, deren Beiträge in der Edition Argus veröffentlicht werden sollen.