Kontakt und Transfer in der Musikkultur des 5.-12. Jahrhunderts n.Chr. zwischen Byzanz und dem lateinischen Westen

Wirkung und Rezeption musikalischer Traditionen

Mainz, 06.-08.12.2018

Von Yehuda Epafroditus, Rodney Fuchs, Katrin Gessinger, Jonas Isufaj, Anna Lahusen und Johanna Thöne, Mainz – 10.04.2019 | Die Tagung fand in Kooperation der Abteilung Musikwissenschaft der JGU Mainz und des Leibniz-WissenschaftsCampus Mainz „Byzanz zwischen Orient und Okzident“ (verortet am Römisch-Germanischen Zentralmuseum) statt, der eine Plattform für interdisziplinäre Byzanzforschung bieten möchte. Klaus Pietschmann (Musikwissenschaft Mainz) und Susanne Rühling (Leibniz-WissenschaftsCampus) gaben am Donnerstagabend eine Einführung in das zweitägige Programm. Die Tagung bildete den Abschluss des Projektes Die Musizierpraxis zwischen profanem und sakralem Gebrauch im westlichen Europa und Byzanz statt, das über vier Jahre lief und Feldforschung mit Publikationen und Veranstaltungen vereinte. Ziel war es, kulturelle Transferprozesse und Verbindungen zwischen Byzanz und dem Abendland anhand der Musikkultur zu zeigen, wobei der Fokus auf Musikinstrumenten lag.

Nina-Maria Wanek (Wien) eröffnete am ersten Tagungstag die Sektion „Musiktheorie“ mit ihrem Referat Notkers Ellinici Fratres re-visited: The Fascination of Greek in the West at the End of the 9th Century und lieferte eine neue Hypothese zu der viel diskutierten Frage, welche Personengruppe sich hinter der im Codex CH-SGs 381 singulären Bezeichnung ellinici fratres verbirgt. Dabei betrachtete Wanek den die litterae significativae behandelnden Brief des Mönches Notker Balbulus, sowohl unter etymologischen Gesichtspunkten als auch im Kontext der in St. Gallen regen Praxis der Missa Graeca (vollständig griechisch textiert). Im Ergebnis stellte sie zur Debatte, dass es sich bei den ellinici fratres um Mönche gehandelt haben könnte, die sich intensiv mit der altgriechischen Sprache und Literatur auseinandergesetzt haben.

In seinem Vortrag On Modulation in Early Medieval Chant: the φθοραί in Byzantium and the vitia in the West nahm Charles Atkinson (Ohio State University) eine Gegenüberstellung von Korrumpierungen des byzantinischen und lateinischen liturgischen Gesangs vor, die in der byzantinischen Traktatliteratur als solche beschrieben werden. Die nachweislich in der Praxis zur Modulation verwendeten φθοραί finden laut Atkinson einige Parallelen in den theoretisch behandelten vitia. Auch wenn die Praxis sich unterschiedlich in den erhaltenen Quellen manifestiere, so könne doch eine gegenseitige Beeinflussung der beiden Traditionen nicht ausgeschlossen werden. In der folgenden Diskussion wurde ein Auftreten des Phänomens bereits vor dem 9. Jahrhundert für plausibel gehalten.

Die Sektion beschloss Efstathios Makris (Ionian University, Korfu) mit einem Referat zum Thema Diastematie und Rhythmus im Osten und Westen: Musiktheorie und Notationstechnik, in dem er Aufzeichnungsformen zur Präzisierung von Intervallen (Diastematie) sowie zur Notation von Rhythmus vergleichend betrachtete. Das Vorherrschen der adiastematischen Notation in Byzanz bis zum 12. Jahrhundert setzte er dabei in engen Zusammenhang mit der Terminologie der Grammatiker, wohingegen im Westen zunächst Neumen mit einer festen Disposition im Raum und später das Liniensystem Guido von Arezzos eine präzisere Angabe der Tonhöhen ermöglichten. Die relativ freie Rhythmik der westlichen Notation habe dabei der rhythmisch fixierten östlichen Tradition mit ihren μεγάλαι ἀργίαι („großen Ruhepausen“) diametral gegenüber standen.

Franz Körndle (Universität Augsburg), der zur Sektion „Rekonstruktion“ überleitete, machte in seinem Beitrag Rekonstruiertes Mittelalter. Orgel und Liturgie im hohen Mittelalter auf die für das 11. bis 13. Jahrhundert äußerst spärliche Überlieferungslage der liturgischen Orgelpraxis im deutschsprachigen Raum aufmerksam. Er veranschaulichte dies durch eine Liste der „Orgeldatenbank Bayern“. Dort werden insgesamt zwölf Orgeln für die Zeit zwischen 900 und 1300 nachgewiesen, davon seien jedoch fünf anders zu datieren. Seine Ergebnisse bezog er dabei aus einschlägigen Traktaten, wie demjenigen des Johannes Presbyter, und aus zeitgenössischen Aufzeichnungen, wie Kirchenurkunden und Rechnungsbelegen.

Der als Orgel- und Harmoniumbauer tätige Michael Zierenberg (Schwielowsee) gab mit seinem Vortrag Aus der Sicht eines Praktikers: Problembehandlung bei der Fundrekonstruktion aus handwerklicher Sicht einen Einblick in die Herausforderungen, die bei dem Versuch einer Vereinbarung von historischen Belegen und modernen handwerklichen Möglichkeiten zu Tage treten. Dabei nahm er Bezug auf seine Mitarbeit in den RGZM-Projekten zur Rekonstruktion von Orgelnachbauten nach dem antiken Orgelfund von Aquincum (im heutigen Ungarn) und einer byzantinischen Doppelorgel nach dem Traktat Diversarum Artium Schedula des Theophilus Presbyter. Er erläuterte, dass die Zusammenarbeit von Musikarchäologie und Orgelbau sich als sehr fruchtbringend erwiesen habe. So sei beispielsweise die Aquincum-Orgel erstmals unter Verwendung möglichst originalgetreuer Metalllegierungen rekonstruiert worden. In der anschließenden Diskussion stand das Verständnis der römischen Maßeinheiten im Hinblick auf Pfeifenmensuren im Fokus.

Den Beginn der Sektion „Saiteninstrumente“ übernahm Graeme Lawson (Cambridge) mit seinem Vortrag Poets and Populations: Lyre Graves and the Demographics of Poetic Tradition in the Barbarian West. Lawson referierte über den ungewöhnlichen Fund einer Flöte aus dem Fußknochen eines Hirsches in Schottland. Er erklärte, dass es sich dabei um ein Material handele, das für die Knochenflötenherstellung selten verwendet wurde. Dabei verwies er auf einen Fund von 1936, bei dem man im weit entfernten Ungarn auf eine ähnliche Flöte aus dem gleichen Material gestoßen sei. Zudem zeigte Lawson Aufnahmen einer Ausgrabung eines Schiffes. Als Besonderheit stellte er dabei den fossilen Abdruck einer kompletten Leier, die sich auf dem Schiff befand, in den Fokus.

Maria Alexandru (University of Thessaloniki) ging in ihrem Beitrag auf Das Psalterion und die byzantinische Musiktheorie im Wandel der Zeiten aus der Familie der Zithern ein. Sie stellte das Instrument vor und erklärte dessen Eigenheiten, von seiner arbeitsaufwändigen, mikrointervallischen Stimmung bis hin zu seinen drei unterschiedlichen Formen und verschiedenen Bezeichnungen. Ein rechteckig-trapezförmiges Instrument präsentierte Alexandru in Form eines mitgebrachten Nachbaus. Um das Instrument zur Vermittlung der byzantinischen Musiktheorie als Lehrmittel einzuordnen, wurden zusammen mit dem Publikum einige Übungen zur Stimmbildung mit Begleitung des Psalterions gesungen. Darauf aufbauend erläuterte sie, wie das Instrument damals und heute verwendet wurde; heutzutage diene es vor allem als Hilfe zur Erlernung des byzantinischen Gesangs.

Das Referat Byzantinische (Koptische) Lauten – Chronologie und Organologie von Ricardo Eichmann wurde verlesen. Dabei standen die „Koptischen Lauten“ im Mittelpunkt, deren Funde aus dem 6. bis 9. Jahrhundert stammen. In Ägypten beispielweise seien im 20. Jahrhundert drei verschiedene Lauten dieser Art gefunden worden, die jeweils drei Saiten besaßen. Weitere Instrumente dieser Art stammen zudem aus dem Kunsthandel. Zum Schluss wurden zwei Nachbauten unterschiedlicher Funde dieses Instruments präsentiert.

Nikos Maliaras (National and Kapodistrian University of Athens) beschäftigte sich in seinem Vortrag Europäische Streichinstrumente und ihre byzantinische Herkunft mit der Frage, wo mittelalterliche Streichinstrumente wie Rebec und Vielle ihren Ursprung haben. Dabei stellte Maliaras die „Byzantinische Lyra“ und den „Arabischen Rabab“ vor. Mehrere Abbildungen aus dem 11. Jahrhundert zeigen flaschenförmige und birnenförmige Streichinstrumente, die zudem auf zwei unterschiedliche Weisen, „da braccio“ und „da gamba“, gespielt wurden. Die mittelalterliche Rebec besaß ebenfalls, wie die Lyra, einen birnenförmigen Korpus. Maliaras schloss daraus, dass sich die Rebec an dieser orientiere und folglich nicht arabischer Herkunft sei, wie bisher vermutet wurde, sondern wahrscheinlich in Byzanz entwickelt wurde.

Die Sektion „Blas- und Perkussionsinstrumente“ begann Beate Maria Pomberger (Wien) mit ihrem Vortrag Schellen und Glocken im awarischen Kaghanat, wobei sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Schellen und Glocken in Bezug auf ihre Herkunft, Gebrauch und ihre Akustik darstellte. Bei der Untersuchung von insgesamt 53 Gräbern lasse sich vor allem beobachten, dass sich die Schellen meist in Gräbern von Kindern, Jugendlichen und Frauen befunden haben. Zudem lägen bei deren Auffindung die Schellen häufig im Hüft- und Halsbereich, teilweise scheinen sie Teil der Gürtelgarnitur gewesen zu sein. Im Gegensatz dazu finde man in Kindergräbern die Glocken fast ausschließlich im Becken- und Oberschenkelbereich. Schellen und Glocken wurden im Hinblick auf ihr Klangspektrum und ihre Lautstärke bei Verwendung untersucht, was laut Pomberger keine einfache Aufgabe darstelle, da bei diesen neben dem Grundton immer viele verschiedene Teiltöne mitschwängen.

Den Abschluss der Sektion bildete Ulrich Morgenstern (Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien) mit seinem Vortrag Bordunlose Sackpfeifen mit Mehrfachspielpfeife als Herausforderung für die musikalische Mediävistik: Zur Tripelsackpfeife aus Staraja Russa. Der Fund einer monoxylen Tripelspielpfeife aus dem 14. Jahrhundert stelle laut Morgenstern den Bestandteil einer ursprünglichen Sackpfeife dar. Er sprach ferner die Problematik der Spieltechnik an und bemerkte, dass das Instrument mit großer Wahrscheinlichkeit eine Anfertigung für einen Linkshänder sein könne. Zudem diskutierte er die Herkunft der Sackpfeife und erwähnte die Möglichkeit, dass es sich um einen Import aus der Normandie gehandelt haben könne. Unter ethnomusikologischen Gesichtspunkten passe das Instrument dennoch in die Musikkultur des mittelalterlichen Nowgorod, da man mit ihm beispielsweise lokaltypische Harmonikastücke wiedergeben könne.

Mit der Sektion „Bildquellen“ begann der zweite Tag. In seinem Vortrag Gefährlich populär? Musikkultur auf Münzen von der Archaik bis zur Renaissance verwies Johannes Eberhardt (Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz) auf verschiedene Kontexte, in denen sich Musik und Münzen nahekommen. Dabei fokussierte Eberhardt die Frage nach dem plötzlichen Verschwinden der musikalischen Münzmotive im 4. Jahrhundert n. Chr. und zeigte spätere Beispiele mit möglichen Lyra-Darstellungen als Formgeber mittelalterlicher Throne, beispielsweise in Byzanz. In der folgenden Diskussion wurde die eventuell gemeinte Lyraform des oberen Teiles eines Thrones von Susanne Rühling als Armstütze gedeutet.

Ralf Gehler (Zentrum für Traditionelle Musik am Freilichtmuseum Schwerin-Mueß), der auch als Musiker und Erbauer von Musikinstrumenten nach historischen Vorbildern tätig ist, behandelte in seiner Seriellen Betrachtung historischer Abbildungen von Musikinstrumenten anhand von Saiteninstrumenten besonders die sogenannte Kithara der Antike. Schwierigkeiten sah er darin, lediglich anhand von Bildquellen Nachbauten zu erstellen. Bilder seien oft schwer zu deuten und das Material der Instrumente sei meist gar nicht nicht ersichtlich. Er verwies weiterhin darauf, dass es wichtig sei, die Funktion der Instrumente zu beachten, um die Form derselben nachvollziehen zu können.

Der Vortrag Veränderungen im Instrumenteninventar vom Alten Ägypten bis ins 1. Jahrtausend n. Chr – Pharaonisches Erbe oder Neubeginn? (Heidi Köpp-Junk, Universität Trier), der in der Sektion „Musikkulturen und Kulturtransfer“ den Anfang bilden sollte, musste krankheitsbedingt leider ausfallen.

Den Unterschied zwischen byzantinischen und „orientalischen“ Musikinstrumenten behandelte Zeynep Helvacı (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) in ihrem Vortrag Byzantinische und „orientalische“ Musikinstrumente: Ein Vergleich im Kontext des musikalischen Kulturtransfers. Im Vergleich ließen sich Unterschiede in der Verwendung, beispielweise der Spielart und Bedeutung, des jeweiligen Musikinstruments erkennen. Helvacı  zeigte dies exemplarisch und bot einen weiten Überblick über die verschiedenen Instrumentengruppen, in dem insbesondere die Entwicklung der byzantischen und arabischen Instrumentarien im Kontext der gesamten Musikkultur bis zum 12. Jahrhundert in den Mittelpunkt gerückt wurden. Sie äußerte die These, dass es durch diese Betrachtung gelinge, den musikalischen Kulturtransfer und seine Bedeutung näher zu analysieren.

Anschließend ging Zeynep Helvacı zu Beginn der Sektion „Kurzvorträge“ der Frage Wie byzantinisch ist die „orientalische“ Musik? nach. Hierbei baute sie auf der vorhergehenden Betrachtung auf und ließ auch den Wandel der Musikpraxis in den Kulturen der Araber, Byzantiner und Griechen deutlich werden. Dabei verwies sie auch auf die politische Bedeutung der „nationalen“ Musik, die in der Türkei bis heute spürbar sei. Insbesondere die Problematik der griechisch-byzantinischen Wurzeln in der osmanischen Musik präge die aktuelle Diskussion sehr stark.

Tagungsorganisatorin Susanne Rühling referierte in ihrem Vortrag Sensationelles aus dem Depot – drei antike Orgelpfeifenfüße und 251 mittelalterliche Orgelpfeifen erneut betrachtet über einen neuen Orgelfund auf der Saalburg. Durch den Fund der Orgelpfeifen und Pfeifenfüße lasse sich über mögliche Gladiatorenspiele an der Saalburg spekulieren. Rühling erläuterte ihre Vorgehensweise und zeigte die vielen Parallelen zum Fund der Orgel von Aquincum aus Ungarn aus.

Abschließend machte Ralf Gehler in einem Kurzvortrag Vom Dudelsackspieler zum Wasserverkäufer: Die Karriere einer ägyptischen Terrakottafigur auf ein Missverständnis aufmerksam, indem er exemplarisch darstellte, dass es sich bei antiken Terrakotten von vermeintlichen Dudelsackspielern stattdessen um Wasserverkäufer gehandelt haben dürfte. Weiterhin stellte er eine Gemme vor, die ebenfalls u.a. einen Dudelsack mit Bordunpfeife zeigen und aus der Antike stammen soll. Dabei verwies er auf das Auftauchen  der Bordunpfeife erst seit dem 13. Jahrhundert. Eine Diskussion über Musikinstrumente und deren Funktion als Signalgeber beschloss die Vorträge des letzten Tages.

Im nachmittäglichen Workshop gaben Susanne Rühling und Andreas Minack eine Einführung in die Grundlagen von Schallpegelmessungen. Stellvertretend wurden die Ergebnisse mehrerer Schallpegelmessungen an den Orgelnchbauten des RGZM aufgezeigt. Am Ende der Tagung stand ein gemeinsamer Besuch des Museums für Antike Schiffahrt, wo auch die vor Ort befindlichen Orgelnachbauten besichtigt werden konnten.

Die Tagung gab einen Einblick in die aktuelle musikarchäologische Forschung zum Musiktransfer zwischen Byzanz und dem Westen, wobei nicht nur theoretische, sondern auch praktische Aspekte wie die Rekonstruktion verschiedener Instrumente miteinbezogen wurden, die für die Forschung von großer Bedeutung sind. Durch die angeregten Diskussionen wurden die Vorträge bereichert und zeigten die Wichtigkeit der interdisziplinären Forschung am Beispiel der erfolgreichen Zusammenarbeit von Archäologie und Musikwissenschaft.