(Re-)Constructing Renaissance Music – Perspectives from the Digital Humanities and Music Theory (troja 2018)

Mainz, 26.-30.04.2018

Von Simone Studinger, Mainz – 31.08.2018 | Mit der Frage, welche neuen Möglichkeiten und Erkenntnisse sich mit Hilfe computergestützter Forschung erzielen lassen, befasste sich in Bezug auf die Renaissance-Musik die diesjährige troja-Tagung (http://www.troja-online.eu), die ausnahmsweise zweiteilig vom Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität und der Mainzer Hochschule für Musik in Kooperation mit dem Max-Plank-Institut für empirische Ästhetik durchgeführt wurde.

Nach der Begrüßung und Einführung durch die Tagungsorganisatoren Klaus Pietschmann und Laurent Pugin hielt Richard Freedman (Haverford) am Donnerstagabend den Eröffnungsvortrag, der verdeutlichte, dass die Verwendung digitaler Methoden einen enormen Erkenntnisgewinn bedeuten kann, allerdings auch, dass die Maschine nicht ohne den Menschen dazu im Stande ist. Unter den drei Schwerpunkten Notation, Lesarten und Zitation umriss Freedman gängige Techniken, ihren Nutzen und etliche konkrete Projekte. Einige von diesen wurden am folgenden Tag genauer vorgestellt.

Den Anfang machte Julie Cumming (Quebec), die ihren Vortrag unter die zunächst ganz allgemeine Frage stellte, warum man sich in der Musikwissenschaft auf das Gebiet der Digital Humanities begeben sollte. Durch die Beschreibung ihres persönlichen Weges zu dieser Arbeitsmethode kristallisierten sich drei Gründe dafür heraus: Arbeiten lassen sich effizienter erledigen, viel mehr Daten können in der Forschung verwendet werden und es werden so neue Sichtweisen auf den Untersuchungsgegenstand möglich.

Ähnliche Feststellungen durchzogen auch die nachfolgenden Vorträge. Anhand von drei Fallstudien stellte Jesse Rodin (Stanford) das 2010 gegründete Josquin Research Project vor. Er zeigte, wie sich mithilfe der erschlossenen und für den Nutzer zur Verfügung gestellten kodierten Noten, Analysen und Klangbeispielen nicht nur einzelne Stücke, sondern das gesamte Schaffen Josquins vergleichend untersuchen lässt und wie damit neue, zum Teil auch unerwartete Erkenntnisse gewonnen werden können. Aber Rodin wies auch darauf hin, dass die digitale Methodik sicherlich kein Allheilmittel und ihr Gewinn immer von der konkreten Fragestellung abhängig sei.

Andrea Lindmayr-Brandl (Salzburg) stellte das Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke vor und schilderte die Erfahrungen bei der Erstellung einer vielschichtigen Datenbank, die sich auch als Rechercheinstrument verwenden lässt. Dabei verwies sie auch auf diverse Probleme wie den Umgang mit verschiedenartigen Druckarten ähnlichen Inhalts, der sich auf den ursprünglichen Zweck der Erzeugnisse zurückführen lässt, und die in vieler Hinsicht offene Zukunft des Projekts.

Mit dem interdisziplinär ausgerichteten Ricercar Programme in Tours versammelte Camilla Cavicchi eine ganze Reihe von Projekten verschiedener Ausrichtung. Dazu gehörte – neben weiteren online zur Verfügung gestellten Repertoires – das Cubiculum Musicae, das durch die Präsentation von Musik und Hintergrundwissen in einer dunklen, akustisch isolierten Box die Arbeit der Musikwissenschaft der Öffentlichkeit näherbringt. Gerade dieses wichtige Ziel scheint durch solche digitalen Projekte einfacher erreichbar zu sein, denn sie können der Musikwissenschaft ein breiteres Publikum eröffnen.

2005 startete das Marenzio Project, präsentiert von Laurent Pugin (Bern), der auch die hier verwendete Software Aruspix vorstellte. Das Projekt widmet sich Luca Marenzios weltlicher Musik und biete eine neue kritische Edition unter Berücksichtigung aller bekannten Kopien der Werke, die online einsehbar sind. Die digitale Form ermöglicht es, die Herausgeberentscheidungen transparenter zu gestalten, indem eine Verlinkung zu den Quellen angeboten wird. Außerdem erklärte Pugin die technische Entwicklung des Projektes anhand dreier in Laufe der Zeit eingeführter Softwareerweiterungen: MEI (Music Encoding Initiative), Verovio und Git.

Den Abschluss des ersten Tagungsteils bildete das Referat von Peter Ackermann (Frankfurt am Main), der mit dem digitalen Palestrina-Werkverzeichnis ein etwas anders gelagertes Projekt vorstellte. Es erschließt nicht nur die Werküberlieferung, sondern bietet zusätzlich unter Zuhilfenahme der Software Lilypond diplomatische Transkriptionen aller Werke Palestrinas gemäß den Lesarten in sämtlichen Einzelquellen. Damit sind entscheidende Vorarbeiten zu weiteren Forschungsprojekten auf diesem Gebiet geleistet.

Der zweite Teil der Tagung, der von Wolfgang Fuhrmann und Immanuel Ott organisiert wurde, stand dann ganz im Zeichen der Rekonstruktion fragmentarisch überlieferter Renaissancemusik. Philip Weller (Nottingham) begann mit einem methodischen Aufriss und diskutierte, woran bei solchen Rekonstruktionsversuchen zu denken sei und welche Probleme sich auftun können. Vor allem stellte er klar, dass es niemals eine einzige korrekte Lösung geben kann, was auch im weiteren Verlauf immer wieder zur Sprache kam.

Das erste konkrete Beispiel lieferte David J. Burn (Leuven). Er befasste sich mit den Unica aus dem Leuven Chansonnier, einem kleinen Liederbuch, das erst vor wenigen Jahren entdeckt und von der Leuvener Alamire Foundation erworben wurde. Obwohl es sich in einem weitgehend guten Zustand befindet, bieten gerade die Einzelüberlieferungen aufgrund von Lacunae, Fehlern oder einem falschen beziehungsweise nicht vorhandenen Text einige Hürden. Hieran zeigt sich sehr deutlich, dass Rekonstruktionen zwar oft nur vermeintliche Details betreffen, trotzdem aber von großer Wichtigkeit sind.

Das folgende Referat befasste sich mit der Frage nach dem kompositorischen Prozess und seiner Nachvollziehbarkeit aus heutiger Perspektive. Immanuel Ott (Mainz) erklärte dies daran, wie sich diverse Arten von Kanonkompositionen immer wieder auf ein und dieselbe Stretto fuga zurückführen lassen. Damit bot sich den Komponisten der Zeit ein konkretes Modell, mit dessen Kenntnis sich heute einige Notentexte wiederherstellen lassen können.

Die Nachmittagsvorträge wurden mit musikalischen Darbietungen des Ensembles BarockVokal von der Hochschule Mainz veranschaulicht. Den Anfang machte dabei erneut Philip Weller, der mit seinem Kollegen Fabrice Fitch (Manchester) eine Rekonstruktion von Obrechts Missa Scaramella aus den Berlin-Krakau-Stimmbüchern vorstellte. Anschaulich erklärten sie die Wiederherstellung des Tenors und zeigten wiederum grundsätzliche Probleme auf, zum Beispiel, wie schwierig es sein kann, gerade den Beginn einer Stimme zu ermitteln.

Mit ähnlicher Problematik war Oliver Korte (Lübeck) bei der Rekonstruktion der Motette Phillippe, qui videt me von Antoine Brumel konfrontiert. Um den verlorenen Altus-Part zu rekonstruieren, zählte er zunächst von Hand die verschiedenen Stimmambitus und das Verhältnis von Pausen zu Noten auch im Vergleich mit anderen Stücken des Komponisten, um sich ein Bild davon zu machen, was für den Altus dieser Motette wahrscheinlich ist. Seine Erkenntnis dabei war, dass Brumel sich sehr häufig bestimmter Muster bedient, die wohl auch in der nicht überlieferten Stimme Anwendung gefunden haben dürften.

Vor allem mit der Textierung der Josquin zugeschriebenen Kontrafaktur Au bois, au bois ma dame beziehungsweise Petite Camusette, einem im 16. Jahrhundert bekannten Lied, beschäftigte sich im einzigen auf Deutsch gehaltenen Vortrag Jaap van Benthem (Utrecht).

Bevor am Abend noch ein kleines Konzert mit BarockVokal stattfand, in dem neben den am Tag vorgestellten Rekonstruktionen unter anderem auch das Kyrie aus Dufays Missa L’homme armé dargeboten wurde, beschloss das Referat von Paul Kolb (Leuven) den Nachmittag. Durch Vergleiche verschiedener Rekonstruktionen auch anwesender Wissenschaftler (Weller, Korte, Benthem) und seiner eigenen befasste er sich mit der Frage, wie nahe man sich der „Stimme des Komponisten“ annähern kann. Als Beispiel hierzu dienten ihm zwei Stücke von Gaspar van Weerbeke, Bon temps / Adieu mes amours und Que fait le cocu, wobei sich vor allem beim ersten ein Problem der Textierung zeigt, da es sich um ein Quodlibet handelt. Es wurde deutlich, dass sich verschiedene durchaus gleichberechtigte Lösungen finden lassen. Folglich soll innerhalb der Weerbeke-Gesamtausgabe keine verbindliche Edition entstehen, sondern einer gedruckten Variante mehrere online verfügbare an die Seite gestellt werden, sodass es den Aufführenden überlassen bleiben kann, welche ihnen am sinnvollsten erscheint.

Am folgenden Tag befasste sich Philippe Canguilhem (Toulouse) mit dem Phänomen cantare super librum von Tinctoris bis Zacconi. Besonders hob er dabei hervor, dass die Übergänge schriftlich fixierbarer Arten des Musizierens im Kontrapunkt und dem auf Improvisation beruhenden cantare super librum fließend waren. Einen wichtigen Anhaltspunkt bei der Ermittlung dieser Praxis bot Tinctorisʼ De Arte Contrapuncti.

Im letzten Vortrag dieser Tagung wandte sich Wolfgang Fuhrmann (Mainz) noch einmal Obrecht zu, dieses Mal seiner Motette Mater patris. Es handelte sich hierbei um einen Vergleich seiner eigenen Rekonstruktion des zweiten Tenors des Stückes mit derjenigen von Marc Bosnel.

Die darauffolgende Abschlussdiskussion resümierte die vergangenen Tage vor allem unter Berücksichtigung des Zusammenhangs von digitalen Methoden und den Rekonstruktionstechniken. Dabei kam auch die Idee einer Online-Plattform zum Austausch über Rekonstruktionsversuche auf. Zwar gibt es schon Ansätze in diese Richtung, doch wird man in diese Idee noch viel Zeit investieren müssen, um sie auf das gewünschte Niveau digitaler Forschungskommunikation heben. Eine Publikation der Beiträge innerhalb des Online-Journals troja ist vorgesehen.