Edvard Grieg und seine skandinavischen Kollegen in ihren Beziehungen zu Leipzig

Leipzig, 15.-17.10.2020

Von Anna Fortunova, Leipzig – 02.03.2021 | Edvard Grieg gehört zu den bekanntesten nicht-deutschen Komponisten, die in enger Verbindung mit Leipzig standen. Während beispielsweise Petr Čajkovskij nur einige Tage in der Musikstadt Leipzig weilte, war Griegs Verhältnis zu ihr über fünf Jahrzehnte hinweg durch große Vertrautheit, aber auch durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet, die in seinen negativen Kommentaren vor allem über das Konservatorium ihren Ausdruck fand. Dass ein skandinavischer Komponist in Leipzig in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts studierte, Werke publizierte und aufführte, stellte freilich keine Ausnahme dar. Das Konzept der Tagung bestand daher darin, Griegs biographische und künstlerische Bezüge zu Leipzig in einen breiteren geografischen (Skandinavien) und historischen (1840 bis 1914) Kontext zu stellen, das heißt mit anderen Künstlern wie Niels W. Gade, Johan Svendsen oder Christian Sinding zu vergleichen. Die Organisatoren der Tagung, Patrick Dinslage (Edvard-Grieg- Forschungsstelle) und Stefan Keym (Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig), thematisierten in ihrer Einführung die Voraussetzungen für das komplexe Verhältnis zwischen Grieg und Leipzig, welche sowohl in der Persönlichkeit des Komponisten als auch in der kulturellen und politischen Situation seiner Zeit wurzelten. Insbesondere verwiesen sie auf die Vorstellungen von Leipziger Publizisten und Gelehrten wie Robert Schumann oder Hugo Riemann von „nationaler“ (bzw. „nordischer“) und „universeller“ sowie von „progressiver“ und „konservativer“ Musik.

Das Symposium bestand aus vier Panels, die das Thema aus immer breiteren Perspektiven umkreisten (Grieg, norwegische, skandinavische Komponisten, Rezeption). Helmut Loos (Leipzig) nahm Griegs Verhältnis zu Beethoven unter die Lupe. Dessen Musik war einer der wichtigsten Bestandteile der Ausbildung am Leipziger Konservatorium im 19. Jahrhundert und wurde folglich von Grieg und allen anderen Studierenden bereits in jungen Jahren intensiv rezipiert. Loos hob hervor, dass Griegs Distanzierung von einer Heroisierung des Künstlers eine für seine Zeit untypische Position darstellte. Joachim Reisaus (Leipzig) beschäftigte sich mit den komplexen persönlichen und ästhetischen Beziehungen zwischen Grieg und seinem Kompositionslehrer Carl Reinecke. Als Wendepunkt in ihrer Beziehung machte er Reineckes Kritik an Griegs Klavierkonzert aus, auf die der schwer gekränkte Komponist seinerseits mit zunehmend kritischen Aussagen über das Leipziger Konservatorium reagiert habe.

Wojciech Stepien (Katowice) analysierte die Bedeutung der Vier Stücke op. 1 (1861) für Griegs Schaffen. Er stellte die Komposition in den Kontext späterer Werke wie der Lyrischen Stücke op. 47 oder des Quartetts op. 27 und kam zu dem Schluss, op. 1 sei trotz gegenteiliger Äußerungen des Komponisten sowie deutlicher Bezüge zu Werken Schumanns nicht nur eine Schulübung, sondern eine wichtige Station seiner kompositorischen Laufbahn gewesen. Benedikt Taylor (Edinburgh) konzentrierte sich auf die Sonatenform in Griegs frühen Werken und ihren Leipziger Vorbildern. Er zeigte, dass Grieg zunächst – entgegen der Leipziger Tradition – ein Formkonzept mit Aneinanderreihung in sich geschlossener Abschnitte bevorzugte. Birgit Heise (Leipzig) unternahm eine quantitative Auswertung von Musiknotenrollen mit Werken von Grieg und anderen skandinavischen Komponisten, die von der Leipziger Firma Hupfeld aufgenommen wurden. Insgesamt wurden zwischen 1905 und 1930 ca. 4000 Künstlerrollen eingespielt, darunter fünf mit Werken von dänischen, sechs von finnischen, 16 von schwedischen und 134 von norwegischen Komponisten. Die 102 Rollen mit Stücken Griegs gehörten wohl zu den meist verkauften, weshalb er für die sechs von ihm selbst eingespielten Rollen deutlich höhere Honorare als seine Kollegen bekam.

Siegfried Oechsle (Kiel) reflektierte in seinem Vortrag „Niels W. Gade: Epochengründer, kanonischer Epigone und Gegenwartsmusiker“ die Beziehungen zwischen Gade und der sogenannten Leipziger Schule, leitende (musik)historiographische Kategorien des 19. Jahrhunderts, etwa die des Fortschritts, sowie daraus abgeleitete Werturteile der Musikgeschichtsschreibung. Im Vortrag von Yvonne Wasserloos ging es um Griegs und Christian Hornemans Beziehungen zu Leipzig. Die beiden Künstler haben sich in Leipzig kennen- und schätzen gelernt. Konsequenter als Grieg versuchte der Däne Horneman nach seinem Studium einige Organisationsprinzipien des Leipziger Musiklebens wie etwa einen Konzertverein und ein Ausbildungsinstitut in seine Heimat zu transferieren. Martin Knust (Växjö) gab einen Überblick über vier Generationen schwedischer Komponisten in Leipzig. Kontakte mit Leipzig entstanden durch persönliche Bekanntschaften, Ausbildung (auch privat), Teilnahme am Konzertleben, Aufführungen schwedischer Musik und Veröffentlichungen in Leipziger Verlagen. Allerdings waren diese Kontakte weniger zahlreich als im Fall der Norweger, weil das schwedische Musikleben stark auf Vokalmusik fokussiert war.

Ove Ander (Stockholm) sprach über „romantische Landschaften“ in symphonischen Werken Ludvig Normans als Ausdruck der Fortsetzung von „Leipziger Traditionen“ und zeigte anhand mehrerer Musikbeispiele Gemeinsamkeiten zwischen Symphonien, die in Schweden und in Deutschland im 19. Jahrhundert komponiert wurden. Tomi Mäkelä (Halle-Wittenberg) konzentrierte sich auf finnische Musiker und Musikausbildung „auf den Spuren von Grieg und der Leipziger Praxis“. Als Mediatoren fungierten hier einige deutsche, in Finnland tätige Musiker, wie beispielsweise der aus Danzig stammende Richard Faltin. Wie auch der spätere Leipziger Thomaskantor Gustav Schreck lehrte Faltin zeitweilig am Behmschen Erziehungsinstitut in Wyborg, wo einige Leipziger Unterriсhtsmodelle angewendet wurden.

Das Panel der norwegischen Komponisten neben Grieg eröffnete ein Vortrag von Harald Herresthal (Oslo) über Ole Bulls Konzerte und Aufenthalt in Leipzig im Dezember 1840. Dabei ging es besonders um Bulls Leipziger Netzwerke (u. a. die Beziehungen des Ehepaars Bull zu Cécile und Felix Mendelssohn) sowie die Rezeption des „Paganini des Nordens“ in der Leipziger Presse. Christoph Siems (Halle-Wittenberg) diskutierte die pädagogische Tätigkeit Otto Winter-Hjelms, der 1857–1858 am Leipziger Konservatorium studierte und einige der dortigen Ausbildungstraditionen in der von ihm 1864 in Oslo zusammen mit Grieg gegründeten kurzlebigen Musikschule fortsetzte (beispielsweise dergestalt, dass ein Schüler Hauptfachunterricht von mehreren Lehrern parallel erhielt). Stefan Keym erörterte das Verhältnis Johan Svendsens zu den Leipziger symphonischen Traditionen. Im Gegensatz zu seinem Landsmann Grieg feierte Svendsen sehr früh Erfolge in Leipzig und dies sogar auf dem besonders heiklen Gebiet der Symphonik, wurde er doch schon während seines Studiums am Konservatorium und auch in den folgenden Jahren vergleichsweise häufig gespielt. Keym zeigte, wie Svendsen mit der überdeutlichen Profilierung des Themenkontrasts und einer sehr umfangreichen Durchführung den damaligen nachklassischen Vorstellungen von der Sonatenform entsprach. Längerfristig sollte sich freilich Griegs Spezialisierung auf andere instrumentale Gattungen als erfolgreicher erweisen.

Patrick Dinslage richtete die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis Christian Sindings zu Leipzig. Sinding war einer von 146 norwegischen Studierenden des Konservatoriums bis 1893 und der erste, der zum Studium zweimal nach Leipzig kam. Dinslage analysierte Unterschiede in den Biographien, der musikalischen Sprache und der Rezeption Griegs und Sindings (letzterer wurde von der Leipziger Presse bei Erstaufführungen oft positiver beurteilt). Trotz aller Differenzen könne der Titel „Halbleipziger“, den die Zeitgenossen Grieg gaben, auch auf Sinding passen. Der letzte Protagonist des Panels war der Violinist und Komponist Johan Halvorsen, dessen Studienjahre in Leipzig (1886 bis 1888) Øyvin Dybsand (Oslo) in den Mittelpunkt seines Referats stellte. Halvorsen ging von Bergen nach Leipzig, um bei Adolph Brodsky – einem der wichtigsten Akteure der internationalen Musikkulturtransferprozesse seiner Zeit – zu studieren. Das Verhältnis zwischen den Geigern war von gegenseitiger Wertschätzung geprägt, wovon etwa Brodskys Empfehlungen für Halvorsen zeugen, dank derer der norwegische Künstler in Aberdeen und Helsinki als Violinist und Violinlehrer berufen wurde.

Bjørnar Utne-Reitan (Oslo) beschäftigte sich in seinem Vortrag „Grieg and Music Theory“ mit den musiktheoretischen Büchern, welche Grieg besaß, seinen Aussagen zu musiktheoretischen Fragen und mit Äußerungen von Musiktheoretikern wie Ebenezer Prout, Hugo Riemann und Georg Capellen über Griegs Musik. Ariane Jeßulat (Berlin) definierte in ihrem Beitrag über Grieg und den musikalischen Impressionismus zunächst diesen Begriff, ging dann auf musiktheoretische Grundlagen ein, mit denen Grieg sich während seiner Studienjahre in Leipzig auseinandersetzte und zeigte anhand von mehreren Musikbeispielen Parallelen zwischen Griegs Musik und der Maurice Ravels. Arnulf C. Mattes (Bergen) setzte sich mit dem Konzept „nordischer Musik“ bei Walter Niemann auseinander, der zahlreiche Publikationen zu Grieg und anderen skandinavischen Komponisten verfasst hat. Anhand von Zitaten aus Niemanns Publikationen analysierte Mattes Niemanns Verwendung der Kategorien „nordisch“, „volkstümlich“, „national“ und „international“, welche als ein Ausdruck seiner persönlichen Vorliebe für die Musik Griegs und des ‚Nordens‘, aber auch von typischen Tendenzen seiner Zeit gesehen werden kann.

Insgesamt hat der Vergleich von Griegs Beziehungen zu Leipzig mit denen seiner skandinavischen Kollegen viele neue Schlaglichter auf diesen Themenkomplex geworfen, die helfen, das Besondere dieser Beziehung von allgemeinen Trends zu unterscheiden und besser zu verstehen. Angesichts der Materialfülle der oft kaum oder gar nicht bekannten Quellen, die in den Vorträgen skizziert wurden, ist zu hoffen, dass der Tagungsband wie geplant im Jahr 2021 erscheinen wird.