Einbürgerung der Klänge: Wie Instrumentalmusik national (gemacht) wird / Naturalising Sounds: How Instrumental Music Is (Made) National

Regensburg, 22.-24.01.2021

Von Janosch Umbreit und Franziska Weigert, Regensburg – 19.06.2021 | Die ursprünglich in Regensburg geplante Tagung (Organisation: Michael Braun) war aufgrund der Pandemie in den digitalen Raum verlegt worden. Dies ermöglichte den Vortragenden und dem Publikum die synchrone Teilnahme aus mehreren Zeitzonen. Die Internationalität der Teilnehmenden spiegelte sich auch in der Vielfalt der Themen wider: Diese erstreckte sich von US-Amerikanismus im Symphonischen über die paraguayische Harfe und das moderne chinesische Orchester bis hin zu populärer alpenländischer Blasmusik. Dieser thematische Facettenreichtum wurde zusammengehalten von der Frage, was Instrumentalmusik zu nationaler Musik macht und wie sich dabei die Spannung zwischen Globalisierung und Nationalismus ausdrückt. Insbesondere wurde hier auch die Beziehung zwischen rein musikalischem Ausdruck und das Werk umgebenden Paratexten in Form von beschreibenden Titeln, Rezensionen und anderen Texten beleuchtet, die der Musik eine nationale Dimension verleihen.

In seiner Keynote Speech zeigte Stefan Keym (Leipzig) anhand eines historischen Überblicks, wie sich Selbst- und Fremddarstellung in der Instrumentalmusik wechselseitig dynamisch bedingen. Ausgehend vom französischen Ballet de Court im 17. Jahrhundert beschäftigte er sich im Besonderen mit der osteuropäischen Orchestermusik des 19. Jahrhunderts. Gerade bei Komponisten wie Bedřich Smetana, Modest Musorgskij oder Zygmunt Noskowski, die sich vom deutschen Stil und seinem Universalitätsanspruch abzusetzen wünschten, trat hier eine Suche nach einem „nationalen Stil“ in den Vordergrund, wie sich etwa in Kompositionen aus Tschechien, Ungarn und insbesondere Polen beobachten lässt. In ihrem Bemühen um Charakteristika, die als volkstümlich wahrgenommen wurden – etwa im Falle Polens die Verwendung von Tänzen wie der Polonaise und der Mazurka –, erkannte Keym das zunehmende Verlangen nach einer Form von musikalischer Selbst- anstelle von Fremddarstellung. War zu Beginn des von ihm besprochenen Zeitraums diese Fremddarstellung noch von den Darbietungen des höfischen Balletts ausgegangen, so setzten sich nationalmusikalische Bestrebungen ab dem 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem von der als übermächtig empfundenen deutschen Instrumentalmusik ab.

In ihrer Studie zu Amy Beachs Gaelic Symphony stellte Christine Fischer (Luzern) vor, wie sich in einem solchen Werk Diskurse zum nationalen Charakter von Musik mit Themen der Gender Studies überschneiden: Die Symphonie stellt einerseits das erste von einer US-amerikanischen Frau komponierte Werk dieser Gattung dar. Andererseits ist die wissenschaftliche Debatte darüber oft geprägt gewesen von Beachs Beteiligung an Versuchen, ein amerikanisches kulturelles Selbstbild zu definieren. Benedikt Leßmann (Wien) suchte und fand in der Rivalität zwischen französischer und italienischer Oper des 18. Jahrhunderts Schlüsselmomente für die Nationalisierung des Musikgeschmacks. Hierfür betrachtete er die Opernkontroverse („Querelle“) zwischen Raguenet und Le Cerf de la Viéville in den deutschen Übersetzungen von Johann Mattheson und Friedrich Wilhelm Marpurg und die damit einhergehende Rezeption im deutschen Sprachraum. Den Abschluss des ersten Tages lieferte Alexander Gurdons (Dortmund) pointierter Vortrag über kulturpropagandistisch eingesetzte Hymnen bei Peter Tschaikowsky (Ouverture solennelle „1812“) und Béla Bartók (Kossuth). Dem stellte er aktuelle Beispiele von Hymnenbildung gegenüber und zeigte, wie in politischen Werbefilmen Wladimir Putins und Donald Trumps Musik instrumentalisiert wurde und wird. Dies vollzog er anhand von Bruns’, Glösels und Strobls Dreisatz der populistischen Medialisierung nach.

Die ‚westliche‘ Perspektive verlassend startete der zweite Tag mit Joseph Wongs (Hongkong) Darstellungen zur modernen chinesischen Instrumentalmusik. Er erläuterte, wie diese Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Entwicklung von neuartigen Ensembletypen, welche die traditionelle chinesische Musik mit dem Orchesterformat verbinden sollten, wiederbelebt wurde. Hierbei wurde die Struktur des europäischen Orchesters übernommen, jedoch ein traditionell chinesisches Instrumentarium beibehalten. Bernhard Achhorner und Bernhard Steinbrecher (Innsbruck) zeigten, wie die zeitgenössische populäre österreichische und bayerische Blasmusik mit national und volksmusikalisch konnotierten Gewohnheiten umgeht. So beschrieben sie, wie zeitgenössische Blasmusik sich zwar einerseits nach wie vor aus traditionellen ländlichen Institutionen wie etwa Blaskapellen speist, andererseits aber bemüht ist, ihr Repertoire zu erweitern und, etwa in Form von Musikfestivals, neue Formen musikalischer Kommunalität auszuloten.

Der zweite Teil des Programms am Samstag führte zunächst in die Schweiz: Stefan Sandmeier (Zürich) beleuchtete in seinem Vortrag die musikalische Programmgestaltung und insbesondere die Vergabe von Kompositionsaufträgen der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) im Rahmen der „Geistigen Landesverteidigung“ im Laufe des 20. Jahrhunderts. Hierbei stellte er insbesondere heraus, wie diese Kulturpolitik ab den 1930er Jahren bemüht war, dem italienischen und deutschen Faschismus, aber auch kommunistischer Agitation eine Vision von schweizerischer nationaler Identität trotz sprachlicher und kultureller Diversität entgegen zu stellen, und wie dabei die Programmgestalter versuchten, eine musikalische „Swissness“ heraufzubeschwören. Auch Alfredo Colman (Baylor University) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit Kulturpolitik, wobei hier die paraguayische Harfe im Mittelpunkt stand. Von der Einführung der Harfe in Lateinamerika durch jesuitische Missionare bis zum Phänomen der immer populäreren paraguayischen Musikfestivals, bei denen die Harfe eine zentrale Position einnimmt, diskutierte er die Rolle des Instruments als identitätsstiftendes Element paraguayischen Selbstverständnisses (Paraguayidad).

Der dritte und letzte Tag wurde von Arturo Irisarri Izquierdo (Hong Kong) eingeleitet, der sich, ähnlich wie schon Joseph Wong, mit chinesischer Instrumentalmusik im 20. Jahrhundert beschäftigte. Im Zentrum seines Vortrags stand das Klavierkonzert Der Gelbe Fluss, das, im Geiste der Kulturrevolution von einem Kompositionskomitee geschrieben, nach einer Zeit der Verbannung von Chinas Bühnen in den letzten Jahren wieder deutlich an Popularität gewonnen hat und heute als eines der repräsentativsten und meistgespielten Werke chinesischer Orchestermusik gilt. Bianca Schumanns (Wien) Beitrag widmete sich der Rezeption Camille Saint-Saëns’ in Wien anlässlich seiner dortigen Konzerte zwischen 1876 und 1889. Wie sie anhand zeitgenössischer Kritiken und Kommentare herausarbeitete, wurde Saint-Saëns vor allem nach seinem ersten Konzert als „deutscher Franzose“ stilisiert, dessen Kompositionen „deutsche Gründlichkeit“ mit „französischer Pikanterie“ verbänden. Wie Schumann im Folgenden darstellte, wandelte sich diese durchaus positive Aufnahme, die wohl auch der Einbeziehung von Bach- und Beethovenarrangements geschuldet war, in den Folgejahren zu brüsker Ablehnung. Saint-Saëns Werk, das zuvor als typisch „deutsch“ gelobt worden war, wurde nun als „oberflächliche Tonmalerei“ abgetan.

Die letzte Sitzung der Konferenz war mit Aaron Copland und Alberto Ginastera wiederum zwei amerikanischen Komponisten gewidmet. Marcus Gräser (Linz) ging zunächst der Frage nach, wie Copland mit der Spannung zwischen dem europäischen Erbe der amerikanischen Orchestermusik und der Tendenz zum Kulturnationalismus der 1930er Jahre umging. Bernardo Illari (North Texas) beschäftigte sich mit Fragen der Einordnung und Periodisierung von Ginasteras Schaffen, einer Frage, die sich wegen des dialektischen Selbstverständnisses des Komponisten letztlich einer klaren Antwort entzieht.

Die Schlussdiskussion ermöglichte schließlich eine Zusammenfassung der wichtigsten Diskussionen und Erkenntnisse der Tagung, wobei wieder deutlich wurde, wie komplex das Thema der ‚nationalen Instrumentalmusik‘ ist und wie schwer es fallen kann, die Balance zwischen einer grundlegenden Charakterisierung des Phänomens und der akkuraten Beschreibung individueller Fälle zu halten. Insbesondere die wichtige Rolle außermusikalischer sinnstiftender Elemente, visueller oder verbaler Natur – wie etwa kommentierende Titel von Stücken oder musikalischen Abschnitten – trat nochmals in den Fokus der Diskussion. Jedoch wurde gerade im Lichte dieser kommentierenden und erklärenden Hilfestellungen die besondere Rolle der Instrumentalmusik betont, die sich, eben aufgrund ihrer Sprachungebundenheit, starren Einordnungen immer wieder entzieht und sich flexibel immer wieder neuen Konzeptionen von Nationalität anpassen kann.

Die Tagung lieferte einen breiten Überblick über aktuelle Forschungsansätze zu nationalen Rezeptionen von Instrumentalmusik. Trotz aller Einschränkungen, die mit der digitalen Form einhergingen, zeigte sich die Stärke dieses Formats darin, wie mühelos hier Forschende aus verschiedenen Erdteilen zusammenkommen konnten, was sich in der großen zeitlichen und geographischen Bandbreite der behandelten Themen widerspiegelte. Auch die an die Vorträge anschließenden Diskussionen wurden von dieser Vielfalt bereichert.