Aural Architectures of the Divine. Sacred Spaces, Sound and Rites in Transcultural Perspectives

Florenz, 24.-26.02.2022

Von Leonie Krempien, Mainz – 04.09.2022 | Die internationale und interdisziplinäre Tagung, deren Konzept Klaus Pietschmann und Tobias Weißmann entwickelt hatten, wurde von dem Forschungsprojekt Cantoria (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) in Kooperation mit dem „Dipartimento di Storia, Archeologia, Geografia, Arte e Spettacolo“ (Universität Florenz) veranstaltet. Sie war bereits die dritte dieser Art des Mainzer Projekts, wobei die Teilnahme sowohl vor Ort in Florenz als auch online möglich war. Internationale Referent*innen aus der Musikwissenschaft, Architektur- und Kunstgeschichte, Archäologie und Akustik hatten sich zum Ziel gesetzt, die komplexen Wechselbeziehungen zwischen sakralem Raum, Akustik, Musik und Ritus von der Antike bis in die Vormoderne in kultur- und religionsvergleichender Perspektive zu beleuchten.

Der erste Tag begann mit einer Einführung der Veranstalter*innen sowie einer Keynote von Jonathan Berger (Stanford), der die Arbeit des von ihm geleiteten Forschungsprojekts „Sound, Space and the Aesthetics of the Sublime“ zur Untersuchung der Beziehung von Architektur, Akustik und Musik in Sakralräumen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften vorstellte. Berger und sein Team bedienen sich dabei eines weiten methodischen Spektrums, das Archivrecherchen mit der Vermessung sakraler Räume mittels Photogrammetrie, LIDAR-Scans und Impulse Recordings sowie Experimente in virtuellen akustischen Simulationen der vermessenen Räume verbindet. Am Beispiel von drei akustisch und stilistisch diversen Kirchen im Florenz und Rom des frühen 17. Jahrhunderts zeigte Berger auf, dass die gegebenen architektonischen und akustischen Verhältnisse die für die jeweiligen Räume komponierte Musik beeinflussten. Im weiteren Verlauf soll das Projekt um Studien zur Performance Practice erweitert werden, unter anderem mithilfe von Experimenten zur Wahrnehmung von Musik in virtuellen Simulationen und dem Einsatz von VR-Technologie. Die Keynote ist als Video über die Website des Cantoria-Projekts zugänglich (https://cantoria-mainz.de/tagungen/tagung-in-florenz-2022/).

Die erste Sektion zur Antike eröffneten Doris Prechel (Mainz) und Guilia Torri (Florenz) mit Überlegungen zur Funktion akustischer Signale in Ritualen des Hethiter Tempel-Kultes im Zentralanatolien des 2. Jahrtausends BCE. Auf Grundlage von Keilschriften und ikonographischen Quellen argumentierten sie, dass die natürliche „Felskammer A“ in Yazılıkaya mit ihrer einzigartigen Akustik und ihren elaborierten Reliefs der Ort eines solchen Rituales gewesen sein könnte. Diana Perego (Mailand) und Michele Traversi Montani (Lecco) beschäftigten sich mit dem attischen Theater und dem Dionysos-Tempel in Ikaria im 6. Jahrhundert BCE. Mithilfe von archäologischen, ikonographischen und literarischen Quellen beleuchteten sie die komplexen Interrelationen von Raum, Klang und Ritual. Das berühmte dionysische Fresko in der nahe Pompeji gelegenen Villa dei Misteri betrachteten Jutta Günther (Göttingen) und Florian Leitmeir (Würzburg) aus musikalisch-klanglicher Perspektive. Die abgebildeten Instrumente und andere klangproduzierende Elemente seien ein Schlüssel zur Deutung des vieldiskutierten Frieses als Repräsentation eines dionysischen Mysterienkultes, der sich auch im Vergleich mit anderen Darstellungen von Musikinstrumenten in dionysischen Kontexten klar als solcher identifizieren ließe.

Der erste Tag endete mit einem Gesprächskonzert in der von Filippo Brunelleschi im Stil der Frührenaissance errichteten Basilica di San Lorenzo in Florenz. Das Ensemble „Lilium Cantores“ und die „Cappella Musicale di San Lorenzo“ führten unter der Leitung von Umberto Cerini mehrchörige Sakralmusik, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts für diese Basilica und den Florentiner Dom komponiert worden war, unter Nutzung der Orgel- und Sängerkanzel vor der Vierung auf. In seiner Einführung erläuterte Cerini das mehrchörige Repertoire, das er in den Archiven von San Lorenzo und Santa Maria del Fiore aufgefunden und eigens für das Konzert ediert hat. Ein Video des Konzerts findet sich auf der Website des Cantoria-Projekts (https://cantoria-mainz.de/konzerte/).

Der zweite Tag begann mit dem zweiten Panel, das dem europäischen Mittelalter gewidmet war. Renzo Chiovelli (Rom), Enrica Petrucci (Camerino) und Vania Rocchi (Florenz) stellten ihre Arbeit zu den sogenannten „Eustachischen Röhren“ in der romanischen Basilica Santo Sepolcro in Acquapendente an der Via Francigena vor. Es handelt sich dabei um Öffnungen in den Wänden der unterirdischen Krypta, die durch die Seitenmauern der Kirche nach außen führen. Akustische Messungen vor Ort erlauben die Schlussfolgerung, dass diese dazu dienten, die Liturgien und Gesänge der Mönche, denen der Aufenthalt in der Krypta bei den Reliquien vorbehalten war, auch den Pilgern außerhalb der Kirche akustisch erfahrbar zu machen. Stefan Morent (Tübingen) präsentierte das Teilprojekt „Sacred Space“ innerhalb des Forschungsprojektes „Sacred Sound – Musikalische Manifestationen des Sakralen zwischen Theorie und Praxis“. Das Tübinger Projekt widmet sich der Erforschung der Interaktion zwischen Raumakustik, liturgischen und theologischen Regeln und liturgischem Gesang in monastischen Kontexten des Mittelalters. Es arbeitet mit Textquellen und akustischen Messungen in noch vorhandenen Räumen wie auch der virtuellen Rekonstruktion und Simulation nicht mehr vorhandener Räume in Kooperation mit der RWTH Aachen und der Hochschule Karlsruhe. Anna Adashinskaya (Moskau) widmete sich der Funktion von Nebenkapellen und kleineren monastischen Kirchen innerhalb größerer serbischer Klosteranlagen im 12. bis 14. Jahrhundert. Diese seien aufgrund ihrer Ikonographie, Akustik und relativen Isolation als speziell für Totengesänge während der eigentlichen Messe durch eine kleinere Gruppe von Mönchen zu identifizieren. Galliano Cilibertis (Monopoli) Beitrag analysierte die musikalischen und liturgischen Klangräume in der Kathedrale Notre-Dame de Reims bei den Krönungszeremonien Ludwigs IX. 1226 und Karls X. 1825 in vergleichender Perspektive. Die Längsschnittstudie erwies bemerkenswerte Kontinuitäten hinsichtlich der stilistischen Anpassung komponierter Musik an die von Einstimmigkeit geprägte Liturgie.

Die dritte Sektion zum frühneuzeitlichen Italien eröffnete Vasco Zara (Dijon/Tours) mit einem Überblick über die Relevanz von Musik in architektonischen Traktaten der Renaissancezeit. Dabei zeigte sich sich, dass Autoren wie Leon Battista Alberti, Cesare Cesariano oder Philibert De l’Orme sich zwar in vieler Hinsicht an Vitruv orientierten, dabei jedoch zunehmend auch auf spezifische akustische Erfordernisse der Kirchenarchitektur im Rahmen ihrer Nutzung eingingen. Die Vorträge von Stephanie Azzarello (Cambridge) über die Verbindung von Klang und Ritual in venezianischen Kirchenräumen und von Emanuela Vai (Oxford) über die multisensorische Inszenierung religiöser Prozessionen auf der venezianischen Terraferma mussten krankheitsbedingt entfallen. Maddalena Bonechi (Florenz) rekonstruierte die architektonischen und akustischen Verhältnisse in den Kirchen San Nicola in Pisa und Santa Felicità in Florenz im frühen 17. Jahrhundert. Beiden Sakralräumen ist die Besonderheit externer Gänge gemeinsam, die in den Kirchenraum hineinführen und für mehrchörige Repertoires genutzt wurden. Umberto Cerini (Florenz) stellte seine Forschungen zur musikalisch-liturgischen Praxis im Florentiner Dom Santa Maria del Fiore um 1700 vor. Basierend auf zeitgenössischen Berichten und Studien zur musikalischen Praxis in der Kathedrale zeichnete er den Dialog zwischen verschiedenen Gruppen von Musikern und Sängern nach, die an bestimmten Orten im Kirchenraum verteilt waren. Elena Abbado (Wien) beschäftigte sich mit den Wechselwirkungen zwischen der musikalischen Gattung Oratorium und den eigens dafür errichteten Konzerträumen gleichen Namens in Florenz um 1700. Sie zeigte dabei auf, wie der Raum immer wieder der Entwicklung der Musik, aber auch den Bedürfnissen der Auftraggeber und des Publikums entsprechend angepasst wurde.

Im vierten Panel, das Zentral- und Osteuropa in der Frühen Neuzeit in den Blick nahm, thematisierte Eugeen Schreurs (Antwerpen) die Funktion der Lettner (lat.: Doxale) in Verbindung mit Musik in gotischen Kirchen in Flandern, Brabant und Liège von ca. 1400 bis 1600. Ikonographische und textliche Quellen lassen darauf schließen, dass diese als Sängerkanzel dienten, aber auch als Aufbewahrungsort für notierte Musik und Instrumente. Auch die Platzierung von Orgeln auf dem Lettner kann so nachgewiesen werden. Der Tag endete mit Camilla Cavicchis (Tours) Überlegungen zur Inklusion der Noten von Walter Fryes Chanson-Motette Ave Regina Caelorum im Deckenfresko der Kapelle im Schloss von Montreuil-Bellay. Sie argumentierte, die Motette könne als sozial kodifiziertes Element für den Adel im Umkreis des französischen Königs fungiert haben. Das mittlerweile neurologisch nachgewiesene „innere Hören“ eines Stücks beim Lesen einer Partitur durch professionelle Musiker sei bereits in der Frühen Neuzeit als Phänomen beschrieben worden. Das Fresko könne somit als eine Art multimediales Kunstwerk verstanden werden, das Hören und Sehen trotz der Stille im Raum verbände.

Am dritten Tag führte Jean-Christophe Valière (Poitiers) die vierte Sektion mit seinen Ausführungen zur Abteikirche von Montivilliers fort. Er stellte die Frage, ob es anachronistisch sei, bei der Erforschung mittelalterlicher Kirchen als Klangräumen von „Nachhall“ zu sprechen. Anhand von zeitgenössischen Quellen, unter anderem von Vitruv und Alberti, sowie von zeitgenössischen Anweisungen zum liturgischen Gesang zeigte er auf, dass der Nachhall gerade beim polyphonen Gesang ein lange bekanntes Problem war. Montivilliers sei insofern einzigartig, als dass die Beschwerden von Nonnen aus dem 17. Jahrhundert und die entsprechenden Veränderungen an Architektur und Mobiliar beinahe lückenlos dokumentiert sind. Das Referat von Jana Kratochvílová (Brünn) zur Sakralarchitektur und musikalischen Praxis in den böhmischen Ländern des 16. und 17. Jahrhunderts musste krankheitsbedingt entfallen. Nicholas Smolenski (London) erläuterte das zur feierlichen Weihe des Chorraums von St Paul’s Cathedral in London 1697 komponierte und in der noch im Wiederaufbau befindlichen Kathedrale aufgeführte Anthem I was glad von John Blow. Die für ein solches Stück ungewöhnlich differenzierte Textauswahl aus unterschiedlichen Psalmen enthält zahlreiche Erwähnungen metaphorischer und realer Gebäude und Strukturen, die dem Publikum einen metaphorischen Anreiz boten, den noch nicht fertig gestellten Sakralraum mithilfe der Bilder biblischer Paläste in der Musik als vollendet zu imaginieren.

Patrick Becker-Naydenov (Leipzig/Wien) eröffnete das fünfte Panel zu außereuropäischen Kulturen mit seinem Vortrag zur Architektur und musikalischen Praxis in Moscheen im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts. Unter Betrachtung sowohl zeitgenössischer Awqāf für neu errichtete Moscheen und der Umwandlung byzantinischer Kirchen in Moscheen sowie modernen akustischen Messungen folgerte er, dass die vorgenommenen Modifikationen immer den Nachhall der für die Qur’ān-Rezitation typischen höheren Frequenzen reduzierten und so die Textverständlichkeit verbesserten. Janie Cole (Kapstadt) befasste sich mit Architektur und Performance im Rahmen der jesuitischen Mission in Äthiopien im 16. und 17. Jahrhundert, die sich umfangreich der Musik bediente. Da sich die Missionare hierbei an ihrer erfolgreichen Mission in Goa orientierten, spielten neben europäischen auch indische Einflüsse eine Rolle in Architektur, Musik und Ritus. Abschließend stellte Gayathri Iyer (Neu-Delhi) ihre Forschung zu den Interdependenzen von hinduistischer Tempelarchitektur, Bauplastik und rituellen Tanzdarbietungen in Hindu-Tempeln im Südindien der Vormoderne vor. Die Tempel selbst bildeten einen Klangraum, da viele der dargestellten Figuren musizieren und tanzen, während einige der Säulen im Innenraum hohl sind und für akustische Modifikationen oder selbst als Instrumente gedient haben könnten. Rituelle Tanz- und Gesangsdarbietungen fanden sowohl in der öffentlichen Aufführungshalle als auch im Allerheiligsten – nur für die Gottheit – statt. Der Beitrag Iyers, die auch als professionelle Performerin historischer ritueller Hindu-Tänze international in Erscheinung tritt, endete mit einer Demonstration der Aufführungsmodi für beide Räume, die sich aufgrund räumlicher und ritueller Vorgaben deutlich voneinander unterscheiden.

Das breite zeitliche und geographische Spektrum der behandelten Themen eröffnete bei aller Heterogenität immer wieder Querbezüge über diese Distanzen hinweg und verdeutlichte, welche unterschiedlichen Ausprägungen das Zusammenwirken von Klang bzw. Musik und Raum annehmen konnte. Der geplante Tagungsband lässt hoffen, dass sich diese vielfältigen Korrespondenzen noch eingehender werden nachvollziehen lassen.