Von Karrieren und symbolischem Kapital. Das Gesangspersonal der italienischen Oper an deutschsprachigen Höfen um 1750

Internationale Tagung, Altes Rathaus (Kunstmuseum Bayreuth)

Bayreuth, 04.-06. Mai 2023

Von Livio Marcaletti – 10.11.2023 | Im Rahmen des an der Universität Bayreuth angesiedelten DFG-Forschungsprojekts Materialität und ästhetische Transformation. Die Festa teatrale L’Huomo auf der Bayreuther Opernbühne wurde vom 4. bis 6. Mai 2023 eine Tagung über Gesangsvirtuos:innen an deutschsprachigen Höfen des 18. Jahrhunderts organisiert. Die von der Projektleiterin Andrea Zedler konzipierte Konferenz zielte darauf ab, die unterschiedlichen Erwerbsstrategien, durch die die Höfe Sänger:innen anstellten, und deren wirtschaftliche, soziale und politische Auswirkungen auszuwerten. Nach einem in das Thema einführenden Abendvortrag von Michael Walter (Graz) über An- und Abreisen von Sänger:innen gliederte sich die Tagung in drei Teile: »Höfe«, »Sängerinnen und Sänger« (beide am 5. Mai) sowie »Agent:innen und Impresari« (am 6. Mai, vormittags).

In der ersten Sektion wurden Fallstudien über spezifische deutsche Höfe ausgewählt und aus der Perspektive der Anstellung italienischer Sänger:innen unter die Lupe genommen. Berthold Over (Greifswald) stellte die verschiedenen Anstellungsmöglichkeiten am Münchner Hof vor: Anstellung nach einer Probezeit, befristete Verträge, Nachwuchsausbildung vor Ort und Ausbildungsreisen nach Italien. Auch Initiativbewerbungen seitens der Sänger:innen selbst waren möglich, wie im Fall von Lucrezia Panizza, die einen Brief an die Regentin Therese Kunigunde schrieb und sich dem Hof zur Verfügung stellte. Nicht alle Verträge waren auf Dauer angelegt: Viele Angestellte traten als Gastsänger:innen auf, die nur eine gewisse Zeit am Hof aktiv waren, dann aber oft mit höheren Gagen als bei den Inhaber:innen unbefristeter Verträge. Alternativ zur Anstellung italienischer Sänger:innen konnte auch vor Ort Nachwuchs von Hofkomponisten ausgebildet oder lokale Sänger:innen zur Fortbildung nach Italien entsendet werden. Gesa zur Nieden (Greifswald) analysierte das Verhältnis von aufwendiger Repräsentationspolitik und den Instanzen der Kameralwissenschaft bei der Aufführung italienischer Opern im Herzogtum Württemberg. Die Kameralwissenschaft der Zeit hatte dabei die schwierige Aufgabe, zwischen der aufwendigen Repräsentationspolitik der Fürsten, zu der auch die Aufführung italienischer Opern gehörte, und der prekären Finanzlage des Hofes zu vermitteln. Die Sänger:innen und Opernkomponisten selbst (etwa Niccolò Jommelli und Francesca Cuzzoni) waren beim Verlassen des Hofes noch mit ihren Schulden konfrontiert, wobei die Rolle bestimmter Akteure, wie des Librettisten Mattia Verazi, als Vermittler von Bedeutung ist. Letzterer war auch oft in die Rekrutierung von Sänger:innen involviert.

Die Suche nach italienischen Sänger:innen erfolgte oft durch Reisen unterschiedlicher Berufsgruppen, wie Christoph Henzel (Würzburg) mit der Fallstudie des Berliner Hofes beleuchtet hat: Neben Opernkomponisten und Hofsänger:innen unternahm sogar ein Grenadier auf der Suche nach neuem Gesangspersonal eine Reise nach Venedig und in andere norditalienische Städte. In diesem Kontext gab es unterschiedliche Strategien, wie die Zahlung einer Provision an den oder die Agent:in im Falle einer Anstellung; wenn ein:e Sänger:in hingegen beim Vorsingen scheiterte, konnte er oder sie einfach mit einem Geschenk zurückgeschickt werden. Venedig war – so Andrea Zedler (Bayreuth) – auch das Ziel der Sängerengagements der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, die beispielsweise den Kastraten Giacomo Zaghini und die Sopranistin Margherita Giacomazzi vom Teatro Sant’Angelo verpflichten konnte. Ansonsten musste die Markgräfin ihren Bruder Friedrich um die ‚Ausleihe‘ von Sänger:innen aus dem Berlinischen Hof bitten oder sich auf Wandertruppen verlassen. Bemerkenswert ist Wilhelmines Ablehnung einer damals üblichen Kultur des ‚body-shamings‘ gegenüber Sängerinnen: Die Sopranistin Maria Giustina Turcotti wurde trotz ihrer Leibesfülle und ihres Alters, die nach zeitgenössischen Auswahlkriterien ein großes Minus darstellten, wegen ihrer schönen Stimme nach Bayreuth berufen.

Johanna Blume (Tübingen) eröffnete die Sektion über die Sänger:innen mit einer kulturwissenschaftlichen Reflexion über den Begriff »Kapital« als »akkumulierte soziale Energie« nach der Theorie von Pierre Bourdieu. Dabei ging es auch um das symbolische Kapital im Sinne von Ehre und Prestige des Hofes, das durch die Beschäftigung hochrangiger Sänger:innen für prunkvolle Opernaufführungen gepflegt wurde. Ein Beispiel dafür waren die musikalischen Veranstaltungen in Dresden anlässlich der Vermählung von Maria Josepha von Österreich und Friedrich August von Sachsen-Polen im Jahre 1719: Mit der prunkvollen Aufführung der Oper Teofane von Antonio Lotti wollte der sächsische Hof demonstrieren, dass er sich auf Augenhöhe mit dem Wiener Kaiserhof befinde.

Valentina Anzani (Madrid) untersuchte den Fall des berühmten Kastraten Antonio Bernacchi, der einige Jahre am Münchner Hof tätig war (1720-1726). Obwohl seine Gage nicht außergewöhnlich hoch war, konnte er sein symbolisches Kapital dank einer gewissen Freizügigkeit – er durfte an italienischen Theatern singen und den Titel eines bayerischen Hofsängers führen – ausschöpfen. Tenöre und Bässe, die in der Regel zugunsten der hohen Stimmen in den Hintergrund gedrängt wurden, spielten dagegen in der Dramaturgie der Wiener Huldigungstheater und Tragicommedie per musica eine herausragende Rolle, wie Emilia Pelliccia (Wien) hervorhob. Nicht nur der in der musikwissenschaftlichen Forschung bereits bekannte Baritenor Francesco Borosini, sondern auch andere, heute in Vergessenheit geratene Sänger wie der Bass Raniero Borrini oder der Tenor Silvio Garghetti konnten in Wiener Opern einschlägige dramaturgische Partien übernehmen, die an anderen Höfen den Kastraten vorbehalten waren.

In Wien ist das Netzwerk zwischen italienischen Sänger:innen und Komponisten auch von personellen Beziehungen geprägt: Trauzeugen und Gemahl:innen wurden oft in diesem engen Kreis gesucht, die Zugehörigkeit zu bestimmten Bruderschaften war auch ein Zeichen dieser Beziehungen. Die Geschichte der Sänger:innen ist aber nicht nur eine Geschichte der Hofsesshaftigkeit, sondern auch eine Geschichte der Mobilität der Wandertruppen: Mirijam Beier (Hamburg) folgte den Spuren der Sängerin Marianne Pirker, auch dank der Neuedition ihres Briefwechsels mit ihrem Mann Franz, durch Städte wie Venedig, London, Kopenhagen, Hamburg, Berlin, Stuttgart, Graz, Laibach, Pressburg etc.

Die letzte Sektion war den Impresari und Agent:innen gewidmet. Gianluca Stefani (Florenz) konzentrierte sich auf die venezianischen Impresari, wie die Gebrüder Grimani am Theater San Giovanni Grisostomo oder Angelo Mingotti, der seine Karriere am Sant’Angelo begann, scheiterte und an anderen Theatern der Terraferma neu anfangen musste, bis er eine sehr berühmte Wandertruppe gründete. Juliane Riepe (Halle) vertiefte die Strategien der Mingotti-Truppe am Bonner Hof in den 1750er und 1760er Jahren anhand von Beispielen verschiedener Angebote für Opere buffe, Kostenvoranschläge, Vorschüsse für Reise und Unterkunft etc. Christoph Meixner (Weimar) wies auf den Sonderfall Regensburg hin: Die Freie Stadt mit katholischem Hof und protestantischer Bevölkerung war geprägt von einem Wechselspiel zwischen italienischen und deutschen Truppen, die den Entscheidungen Kaiser Josephs II. in Wien folgten. Abschließend beleuchtete Richard Erkens (Venedig) die Handlungsoptionen von Agent:innen und Impresari bei der Vermittlung von Gesangspersonal an deutsche Höfe, wie etwa Gesandte, Intellektuelle, Diplomaten, Gesangslehrer, die proaktiv zur Anstellung von Sänger:innen beitrugen.

Umrahmt wurde die Tagung von zwei Aufführungen der Bayreuther Festa Teatrale L’Huomo von Andrea Bernasconi mit einem Libretto der Markgräfin Wilhelmine und Luigi Stampiglia. Die Dirigentin Dorothee Oberlinger und der Regisseur Nils Niemann realisierten eine akustisch und visuell historisch informierte Aufführung dieser allegorischen Oper, die den Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaften mit aufklärerischen Anspielungen auf den zoroastrischen Dualismus (nicht ohne Einfluss von Louis de Cahusacs und Jean-Philippe Rameaus Tragédie lyrique Zoroastre) in einen dramatischen Dialog bringt.