Analiza dzieła muzycznego. Historia – Theoria – Praxis / Musical Analysis. Historia – Theoria – Praxis

VII Międzynarodowa Konferencja / 7th International Conference

Wrocław / Breslau, 05.-06.12.2023

Von Gesine Schröder, Leipzig und Wien – 12.01.2024 | Der Schwerpunkt der siebenten Ausgabe einer 2008 an der Musikakademie „Karol Lipiński“ in Wrocław / Breslau gegründeten Konferenzserie zur musikalischen Analyse lag diesmal auf semiotischen Zugängen, und so stand immer wieder die Topic Theory im Blickfeld. Erwiesen werden sollte, dass diese dazu taugt, bestimmte Texturen wie solche für ‚Jagd‘ oder ‚Idylle‘, bedeutungsgeladene Satzmodelle oder ein Repertoire musikalisch-rhetorischer Figuren in Stücken des 17. und 18. Jahrhunderts noch in später entstandener Musik aufzuspüren. Bestenfalls sollten die Topik (topics) Emotionen, vielleicht sogar große Gefühle aus den besprochenen Kompositionen bzw. ihren Einspielungen herauslesbar machen und sie benennen. Die Obertitel der einzelnen Konferenzsektionen deckten ein weites Spektrum ab. Adressiert wurden unter anderem Intertextualität und Gattungsdiskurse, Wort-Ton-Beziehungen und Rhetorik, musikalische Axiologie, Hermeneutik versus Signifikanz sowie analytische Konzepte und Methoden. Zwei Keynotes konzentrierten sich auf Narratologie und Interpretationsforschung.

Konzipiert hatte die Konferenz Anna Granat-Janki, die Inhaberin des Lehrstuhls für Musiktheorie und schlesische Musikkultur an der Breslauer Musikakademie, durchgeführt wurde sie von ihr gemeinsam mit sechs Mitgliedern ihrer Cathedra. Die 15 polnischen Forscher*innen, die sich mit Vorträgen an der Konferenz beteiligten, sind in Gdańsk /Danzig (1), Poznań / Posen (1), Warszawa / Warschau (1), Bydgoszcz (2), Łódź (2) und Breslau (8) tätig. Weitere der insgesamt 24 Vorträge wurden von Forscher*innen gehalten, die in Litauen (1), Österreich und Deutschland (1), Rumänien (1), Serbien (1), dem Vereinigten Königreich (1), Frankreich (2) und Spanien (2) arbeiten. Die Konferenzsprachen waren Englisch und Polnisch. Wer die Landessprache nicht verstand, konnte bei einem der beiden auf Polnisch gehaltenen Vorträge die wesentlichen Punkte ins Englische übersetzt über Slides nachvollziehen.

Abgesehen von einem Defilee analytischer Verfahren und Interessen bieten die Breslauer Konferenzen stets die Gelegenheit, viel unbekannte, zumeist zeitgenössische polnische Musik kennenzulernen, denn an den Wissenschaftsabteilungen polnischer Musikakademien lebt der Usus von Kunstakademien des Ostblocks fort, ausgiebig das Werk an der Heimatinstitution lehrender Komponist*innen zu beforschen und auch solcher, die mittlerweile außerhalb des Landes leben. So waren in Breslau Studien über Rafał Augustyn (*1951), Marcin Bortnowski (*1972), Katarzyna Dziewiątkowska (*1984), Hanna Kulenty (*1961), Elżbieta Sikora (*1943), Bettina Skrzypczak (*1963), Leszek Wisłocki (*1931) und Ignacy Zalewski (*1990) zu hören. Unter nicht mehr lebenden polnischen Komponisten waren Andrzej Koszewski (1922–2015), Franciszek Brzeziński (1867–1944) und Stanisław Moniuszko (1819–1872) vertreten. Dieses für Analyse-Konferenzen im westlicheren Europa durchaus ungewöhnliche Sortiment wurde ergänzt durch einige Vorträge über Komponisten der neueren Zeit, darunter der litauische Klangkünstler Arturas Bumšteinas (*1982), John Corigliano (*1938), Helmut Lachenmann, Sofija Gubajdulina, der serbische Komponist und Theoretiker Berislav Popović (1931–2002), Enrico Morricone und der spanisch-mexikanische Komponist Rodolfo Halffter (1900–1987). Ungewöhnlich ist ebenso die Beschäftigung mit den Komponisten João Domingos Bomtempo (1775–1842), dem Leipziger Theorielehrer und Komponisten Salomon Jadassohn (1831–1902) und mit August Alexander Klengel (1782–1852). Außerdem gab es auch je einen, von auswärtigen Redner*innen gehaltenen Vortrag über das Schaffen von Musorgskij, Schubert und Stravinskij.

Zu dem Raum, der dem neueren polnischen Musikschaffen gewährt wurde, passte, dass das der Konferenz als Abendprogramm beigegebene Konzert, sehr lebendig von der Schlagzeugklasse der Musikakademie gestaltet, Werke von Komponist*innen enthielt, die Lehrer an der Akademie sind oder waren und die alle anwesend waren. Zu Gehör kamen Miniaturen für Marimba und Klavier von Wisłocki, ein Stück für Schlaginstrumente und diesen zum Verwechseln ähnlich behandeltem Klavier von Grażyna Pstrokońska-Nawratil (*1947), ein dramaturgisch virtuoses Stück für einen Schlagzeuger und Elektronik von der Performerin Agata Zubel (*1978) sowie Werke von drei komponierenden Schlagzeugern: die knallige Groovitation für kleine Trommel solo von Krystian Skubała (*1989), ein Stück von Arkadiusz Kątny (*1990), das den Marimbaklang in konkrete elektronische Klänge mäandern lässt, sowie Dariusz Kaliszuks (*1968) im Rahmen seiner post-doktoralen Studien entstandene Arbeit Funky Drummers für zwei Spieler von kleiner und großer Trommel sowie Fixed Media.

Bei der Vielfalt an Zugängen und Gegenständen fällt es nicht leicht, Tendenzen zu benennen, vielleicht war es aber die Frische, manchmal sogar Unbedenklichkeit, mit der die Vortragenden Leben, Werk, Intentionen von Komponist*innen, allgemeine Weltanschauungsäußerungen und philosophische Ästhetik ineinanderfließen ließen. So führte Katarzyna Szymańska-Stułka (Warschau) vor, wie das Aufmerksamkeitstraining der modernen Psychologie als musiktheoretisches Werkzeug einsetzbar ist, besonders dort, wo ein solches Verfahren selbst zum Sujet des Komponierens wurde. Das Anitya betitelte Streichquintett (mit Kontrabass als fünftem Instrument) von Zalewskis thematisiert mit dem aus dem Sanskrit stammenden Titelwort Vergänglichkeit, seine Klänge lenken die Aufmerksamkeit auf den Moment und fordern Kontemplation. An Giacinto Scelsi erinnern Passagen, in denen die Streicher nur eine Tonhöhe bzw. Tonhöhenklasse zu spielen haben, an anderen Stellen wird der Fokus auf nur eine oder wenige Tonhöhen abrupt geöffnet und wechselt hin zu übersteuert wirkenden Klängen, die sich nach ‚musique saturée‘ anhören.

Martyna Krymska-Renk (Breslau) stellte komprimiert die Ergebnisse ihrer Dissertation vor, eine traditionell angelegte monografische Studie über Wisłocki. Neben dessen Tätigkeit als Komponist, Pianist, Dirigent, Breslauer Hochschullehrer und -politiker kam auch Wisłockis Aktivität als Instrumentensammler zur Sprache. Als Methode, mit der sich die Echtheit eines Werks bzw. die Autorschaft prüfen lässt, hatte Miłosz Kula (Breslau) die stilkritische Analyse benutzt, im konkreten Fall angewandt auf Orchesterwerke Moniuszkos. Es handelte sich um für ihre Zeit reich mit Schlaginstrumenten ausgestattete Orchester-Polonaisen, eine Orchester-Polka und einen Trauermarsch, an deren quellenbasierter Edition Kula zurzeit arbeitet. Den Nutzen von im späteren 20. Jahrhundert entwickelten musikanalytischen Werkzeugen erprobte Tomasz Kienek (Breslau) mit vergleichenden Studien zu neueren Stücken für Flöte solo, wobei Gubajdulinas Sonatine von 1978 im Zentrum stand. Kienek verwendete vor allem statistische Methoden. Ungefiltert durch Set Theory hatte er umfangreiche Daten zu klanglichen Phänomenen der zu vergleichenden Stücke gesammelt und diese anschließend quasi-linguistisch evaluiert. Ausgehend von der phänomenologischen Ästhetik Roman Ingardens und deren Fortführung bei Anna Chęćka ging es Anna Nowak (Bydgoszcz) um den Nachweis emotionaler und intellektueller Qualitäten im Gesamtwerk Kulentys. Ähnlich war der Zugang Joanna Schiller-Rydzewskas (Danzig) zu mehreren in den letzten Jahrzehnten entstandenen Werken Sikoras, mit denen die Komponistin in klanglichen Gedenkakten die besondere Atmosphäre der Stadt Danzig in den 1950er Jahren revitalisiert, wo sie aufwuchs und ihr erstes Studium absolvierte. Die Art von Spiritualität in Bortnowskis Œuvre genauer zu bestimmen, hatte sich Granat-Janki zur Aufgabe gemacht, wobei verbale Äußerungen des Komponisten den Ausgangspunkt ihrer Analyse von dessen Miserere (2013) bildeten.

Um Gattungsfragen ging es in den Vorträgen von Gražina Daunoravičienė (Vilnius), Violetta Przech (Bydgoszcz) und Aleksandra Ferenc (Breslau). Przech und Ferenc betonten die Fortschreibung genrespezifischen Komponierens von Streichquartetten bei Skrzypczak und bei Augustyn. Skrzypczak stattet ihre vier Quartette aber mit stets offenen Schlüssen aus und in Augustyns drei Quartetten werden die Gattungsgrenzen diffus, weil es im ersten und zweiten Quartett zu Besetzungsüberschreitungen mit einer Gesangsstimme und Elektronik kommt. In seinem dritten Quartett strapaziert der Komponist das Genretypische, indem er dem Stück in Klang übersetzte Elemente aus Leibniz’ Monadologie einverleibt. Daunoravičienė lud mit ihrem als Video aufgezeichneten Vortrag zur Annäherung an Genres ein, für deren Analyse bisher kaum Werkzeuge bereitstehen. Ihr Beispiel war der theatrale Performancezyklus Bad Weather (2017–19) von Bumšteinas. Mit den vorzugsweise zur Klangerzeugung benutzten und fast unbearbeitet belassenen Naturmaterialien Holz und Stein begibt sich der Zyklus in die Tradition experimenteller Stücke der 1960er Jahre wie Sticks und Stones aus Christian Wolffs Prose Collection.

Zwei Vorträge widmeten sich Wort-Ton-Beziehungen. Aleksandra Pijarowska (Breslau) stellte populär gehaltene Vertonungen ihrer Kollegin Dziewiątkowska vor, und Marek Nahajowski (Łódź) machte mit der Chorkomposition La espero (1963) von Koszewski bekannt, der Vertonung eines Gedichts, das in Esperanto verfasst wurde, jener Plansprache, die der in Podlachien geborene Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof Ende des 19. Jahrhunderts erfunden hatte. Der Referent stellte heraus, dass Koszewski hier, aber auch in zahlreichen anderen Chorkompositionen auf Vokaltechniken der Renaissance und des Barock und damit auch auf tradierte musikalische Affektfiguren rekurriert.

Ebenfalls um Mittel von Expressivität ging es Dziewiątkowska mit ihrer Skizze von Morricones Harominsierungen von Melodien zu Andriana Lynes Verfilmung Lolita (1997), während Nicholas McKay (London) mit einer Vielfalt statistischer Methoden Espressivo-Gesten in Stravinskijs Psalmensymphonie (1930) nachwies. Márta Grabócz (Strasbourg) fasste den Inhalt von ausgewählten Beiträgen zur Narratologie in der von ihr 2021 herausgegebenen Konferenzschrift Narratologie musicale. Topiques, théories, strategies analytiques zusammen, um schließlich unter anderem an einem Stück von Kaija Saariaho (1952–2023) zu zeigen, dass Sujets wie ‚die Jagd‘ noch in Musik der Gegenwart auftauchen. Ausdrucksformen des russischen Nationalismus in Musorgskijs Bildern einer Ausstellung (1874) untersuchte Jean-Marie Jacono (Aix-en-Provence) anhand des soziokulturellen und politischen Entstehungskontextes dieser Komposition. Mit einer wohl kurz vor 1812 in London niedergeschriebenen Grande Fantasia in c-Moll des Portugiesen Bomtempo informierte Małgorzata Grajter (Łódź) über ein Werk, in dem überdeutlich die freie Fantasie in der Tradition Mozarts fortwirkt und das zugleich bereits Passagen mit frühromantischer Opernmelodik enthält. Überlegungen zu einer Theorie des Rubato stellte Joan Grimalt (Barcelona) an. Der Gegenstand seiner Interpretationsforschung war eine Einspielung von Schuberts Impromptu c-Moll D 899 (1827), ein Stück, das nach Ansicht Grimalts biedermeierliche Salonmusik für junge Damen mit einer in ambitioniert tragischem Ton erzählten Schreckensgeschichte verbinde, eine Konstellation, die von heutigen Interpret*innen nachzuzeichnen sei. Ungefähr zeitgleich entstanden Klengels intrikate poetische Kanons und Fugen, die in der Leipziger Kontrapunktlehre des 19. Jahrhunderts immer wieder als Modelle aufscheinen. Wie sich kontrapunktische Techniken in lyrischen Klavierstücken realisieren, die mit dieser Lehrtradition verbunden waren, zeigte die Verfasserin anhand von 1878 und 1911 gedruckten Präludien und Fugen des aus Breslau stammenden Theorielehrers Jadassohn und von Brzeziński auf, der in Leipzig studiert und in den 1920er Jahren als polnischer Konsul in Breslau Dienst verrichtet hatte.

In welchem Verhältnis die Art, wie der serbische Musiktheoretiker und Komponist Popović Musik für Streichquartett schrieb, zu ästhetischen Haltungen in dessen 1998 veröffentlichter Studie über musikalische Form versus Bedeutung steht, führte Ivana Petković Lozo (Belgrad) aus. Carlos Villar-Taboada (Valladolid) wies synkretistisches Komponieren in Halffters seit den späten 1960er Jahren entstandener Klaviermusik nach, die zwölftönig realisierte folkloristische Elemente aus dessen Exilheimat Mexiko mit neoklassischen Anklängen und Messiaen’schen Materialien verbindet. Mit Coriglianos musikalischem Gedenken an seine in den 1980er Jahren an AIDS gestorbenen Freunde befasste sich Katarzyna Bartos (Breslau), und Ewa Schreiber (Posen) widmete sich Lachenmanns musikalischer Entdeckung der Kindheit. Sie zeigte unter anderem anhand von Videoausschnitten auf, wie Lachenmanns Komponieren aus dem körperlichen Aspekt des Instrumentalspiels schöpft (hier dem eines kindlichen Körpers) und wie intensiv zugewandt er dem Kinderklavierspiel gegenüber ist – als klavierspielender Komponist und als Großvater eines klavierspielenden Enkels.
Auf die Konferenzschrift, die eine Leserschaft außerhalb Polens über viel Unbekanntes unterrichten wird, darf man gespannt sein.