Die Kunst, alten Noten Leben einzuhauchen

Ein Erfahrungsbericht aus einem praxisnahen Editionsseminar an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Von Anna Majchrzycka und Sophie Weber, Halle – 25.04.2024 | Im Mastermodul zur musikalischen Interpretation und Editionspraxis fand im Wintersemester 2023/24 ein von Wolfgang Hirschmann initiiertes und geleitetes Seminar statt, in dem eine Gruppe von zwölf Studierenden die Möglichkeit hatte, an der Edition der Gelegenheitsmusik „Ich sonst beglücktes Land“ von Georg Philipp Telemann mitzuwirken. Die Besonderheit der Veranstaltung bestand in der direkten Anbindung an die Telemann-Ausgabe (Musikalische Werke, herausgegeben vom Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften, Abteilung Musikwissenschaft, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und vom Zentrum für Telemann-Pflege und -Forschung der Landeshauptstadt Magdeburg), in deren Rahmen die von den Studierenden erarbeitete Edition als Band 82 erscheinen wird.

Der praktische Teil des Moduls, in dem explizit an der Übertragung des Werkes und der Erstfassung des Kritischen Berichts gearbeitet wurde, ist von einem Seminar zur methodisch-theoretischen Grundlagen begleitet worden. Bei dem bis heute editorisch nicht erschlossenen Werk „Ich sonst beglücktes Land“ (TVWV deest) handelt es sich um die einzige erhaltene Gelegenheitsmusik von Georg Philipp Telemann aus seiner Eisenacher Zeit (1708-1712). Es entstand im Jahr 1711 und weist thematische Zusammenhänge mit den Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Karl VI. in Frankfurt am Main auf.

Aus Sicht der teilnehmenden Studierenden war das Seminarkonzept eine besonders eindrückliche Verzahnung von universitärer Ausbildung und musikwissenschaftlicher Praxis, der breite Nachahmung zu wünschen ist. Die durch die Arbeit an einem ‚echten‘ Editionsprojekt den Studierenden übertragene Verantwortung machte es zu einer Notwendigkeit und Folgerichtigkeit, sich nicht nur mit dem konkreten Werk auseinanderzusetzen, sondern sich zentrale editorische Kompetenzen anzueignen.

Verständnis der Grundlagen der Editionsarbeit

Am Anfang stand die Auseinandersetzung mit den Grundlagen editorischen Vorgehens. Die Vermittlung der Fachterminologie und etablierter Arbeitsschritte stellte dabei jedoch nur den ersten Schritt dar. Anhand der Lektüre verschiedener Sekundärliteratur diskutierten die Teilnehmenden, welche Unterschiede sich bei der Editionsarbeit ergeben können, je nachdem, aus welchem Zeitraum die edierten Quellen stammen. Dies sollte besonders das Bewusstsein dafür schärfen, wie wichtig die Kenntnis der Kontexte des Entstehungsprozesses und der Aufführungspraxis für die Edition eines konkreten Werkes sind, um etwa verschiedene Quellentypen (Kompositionsautographe, Direktionspartituren, Stimmensätze u.a.) einordnen und ihre Bedeutung bewerten zu können.

Der Vergleich verschiedener Editionsrichtlinien und insbesondere natürlich die Analyse der Richtlinien der Telemann-Ausgabe führten zudem vor Augen, dass gerade langfristig angelegte Editionsprojekte mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind, da die wissenschaftlichen Standards sich ändern und die Einheitlichkeit des Editionsprojekts gegen die Anpassung an neue Editionsansprüche abgewogen werden muss.

Entscheidungen begründet treffen, vertreten, diskutieren, ggf. revidieren

Ein Werk zu edieren, stellt in gewissem Sinne eine Entscheidungsarbeit dar. Es bedeutet erstens, Entscheidungen zu treffen: einerseits in Bezug auf das Libretto, denn der handschriftliche Text weicht an einigen Stellen von dem im Autograph ab – es musste entschieden werden, welche der Versionen übernommen und unter Beachtung der Editionsrichtlinien der Telemann-Ausgabe behutsam modernisiert und somit für den heutigen Leser verständlich gemacht wird; andererseits in Bezug auf das Autograph, das ebenfalls in die zeitgenössische Notenschrift übertragen wurde, nicht selten jedoch undeutliche Stellen aufweist, wie zweifelhafte Bogensetzung oder fehlende Textierung einiger Chorstimmen. Da jede getroffene Entscheidung Verantwortung mit sich bringt, musste sie im zweiten Schritt plausibel begründet werden. Dazu haben die Studierenden ihre edierten Abschnitte vor der Gruppe vorgestellt, die unklaren Stellen diskutiert und in der Zusammenarbeit nach einer Lösung gesucht. Drittens galt es, die getroffenen Entscheidungen in der Edition kenntlich zu machen, indem unter anderem die Textergänzungen in den Chorstimmen kursiv eingetragen wurden, die Einzelanmerkungen zu den Unterschieden im Wortlaut erstellt wurden und der Kritische Bericht erarbeitet wurde.

Editorisches Selbstverständnis

Eine der zentralen Herausforderungen für die Teilnehmenden war, auch die Grenzen eben jener Entscheidungskompetenz zu erkennen und sich über das Selbstverständnis editorischen Arbeitens klarer zu werden. Notwendige Entscheidungen mussten zu unterscheiden gelernt werden von den „Versuchungen“, den Notentext zu glätten, ihn „logischer“ zu gestalten oder gar zu  „verbessern“. So wurde aus Maximen zu Beginn des Semesters, wie „Wir ergänzen  hier die Bogensetzung und systematisieren ein bisschen “, bald eine professionelle Variante wie: „Wir haben es so übernommen wie im Autograph und eine Bemerkung für den Kritischen Bericht dazugeschrieben“. Anhand der Übertragungsarbeit entwickelte sich so immer mehr ein Bewusstsein dafür, dass das Ziel kein widerspruchsfreier Notentext sein sollte und Eingriffe nur äußerst gut begründet vorgenommen werden dürfen.

Teamarbeit, kollegiales Feedback, Nachfragen bei Expert:innen

Neben der oben beschriebenen, sehr gut funktionierenden Gruppenarbeit und dem regelmäßigen Feedback durch die Seminargruppe und Wolfgang Hirschmann, erhielten die Studierenden Unterstützung von Ute Poetzsch, der wissenschaftlichen Mitarbeiterin in der Redaktion der Telemann-Ausgabe aus Magdeburg. Sie machte während der Vorstellung eines edierten Abschnitts auf Besonderheiten in der Telemann-Ausgabe aufmerksam, erörterte mit den Studierenden unter anderem Fragen zur Handschrift und half, eine fragwürdige Besetzungsmarkierung zu klären. Des Weiteren wurde Kontakt mit Expert:innen aus Geschichtswissenschaft, Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft aufgenommen, um speziellen Fragen zur Werkentstehung und möglichen Provenienzkette nachzugehen. Dieser Austausch untereinander und mit Expert:innen sensibilisierte die Studierenden einerseits dafür, dass eine Edition stets ein Zusammenwirken mehrerer Personen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen ist, und andererseits, dass sie nicht unverzüglich entstehen kann, da die Anfragen Zeit beanspruchen.

Umgang mit nicht aufzulösenden Fragen

Während der Übertragungs- und Recherchearbeit sahen sich die Studierenden immer wieder auch mit Fragen konfrontiert, die (noch) nicht beantwortet werden konnten. So bleibt bis jetzt der Dichter des Librettos unbekannt. Ähnliches gilt für den Anlass und die Gegebenheiten der Aufführung, über die es sich lediglich mutmaßen lässt.

Noch rätselhafter ist die Geschichte des Kompositionsautographs selbst, dessen sieben Blätter in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt werden, ein Blatt jedoch sich auf einem unbekannten Wege in der Library of Congress (Washington D.C.) eingefunden hat. Und dies sind nicht die einzigen Unklarheiten, die das Werk von Telemann hinterlässt. So haben die Studierenden im Zuge des Seminars in Erfahrung bringen müssen, dass zur Editionsarbeit auch der unbefriedigende Umgang mit nicht aufzulösenden Fragen gehört.

Zusammenarbeit mit Archiven und Bibliotheken und Umgang mit originalen Handschriften

Zu einem editionspraktischen Seminar gehörte selbstverständlich auch ein Einblick in die Arbeit von und mit Archiven. Anfragen an Archive zeigten den manchmal mühsamen Weg der Recherche, wenn etwa in einer nur auf Mikrofiche zugänglichen Dissertationsschrift nach den entsprechenden Verweisen auf Archivbestände gesucht werden musste, die Vorteile der Digitalisierung, wenn Scans bereits zum Download bereitstanden oder auf Anfrage zu konkreten Fragen extra erstellt wurden, aber auch ihre Nachteile, da nicht alle Aspekte einer Quelle im Digitalisat wiedergegeben werden können. Den Abschluss des Seminars bildete daher eine Exkursion in die Musikabteilung und das Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin zur Quellenautopsie des Autographs. Unter Anleitung von Roland Schmidt-Hensel lernten die Studierenden hier den sorgfältigen Umgang mit den historischen Quellen und hatten die Gelegenheit, die von ihnen übertragenen Abschnitte in der Originalhandschrift zu betrachten.

Das Stück soll nicht nur in der wissenschaftlichen Ausgabe erscheinen, sondern auch in einem für September 2025 geplanten Konzert mit dem Orchester der Händelfestspiele wieder erklingen.