Lieder, die Geschichte schreiben

07.-09.03.2024, Marburg

Von Lina Pistorius, Marburg – 25.04.2024 | Lieder, die Geschichte schreiben lautet der Titel der interdisziplinären Tagung, die vom 07. bis zum 09. März, organisiert vom Musikwissenschaftlichen Institut der Philipps-Universität in Marburg stattfand.

Der Titel deutet bereits auf die zentrale Vernetzung von Lied und Geschichte hin, die während der dreitägigen Veranstaltung hergestellt wurde: Lieder erzählen nicht nur Geschichten, sondern formen sie auch. Sie dienen als Dokumente und Spiegel historischer Ereignisse, sie präsentieren ihre eigenen Interpretationen der Vergangenheit. Nicht zuletzt haben Lieder die Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren und somit aktiv zur Geschichte beizutragen. Diese vielfältigen Möglichkeiten, Geschichte zu formen, standen im Fokus der Tagung. Das Spektrum der behandelten Themen war sowohl historisch und literarisch als auch musikalisch von großer Breite, was durchaus so gewollt war. Die Organisatorinnen Anne Holzmüller und Maria Behrendt betonten, dass sie grundsätzlich keine historische oder genrebezogene sowie zeitliche Eingrenzungen vornehmen wollten: Im Call for Papers wurde nach Forschungen gesucht, die sich mit Liedern beschäftigen, die Vergangenheit oder historische Prozesse narrativieren und vermitteln oder die historisierende Ästhetik verwenden, mit Liedern, die historische Entwicklungen beeinflusst haben sowie mit solchen, die als stabile Einheit oder Rekombination von Musik und Text durch die Geschichte wandern und sich unterschiedlichen historischen Situationen anpassen.

Unter dem Titel „Lieder, die Geschichte schreiben – eine Herausforderung für die Geschichtstheorie“ eröffnete Anna Langenbruch (Oldenburg) den ersten Themenblock: „Geschichtstheorie und Lied“. In Ihrem Vortrag problematisierte sie unter dem Einwand, wie treffend doch singend Geschichtsbezüge hergestellt werden können, wie wenig sich die Geschichtstheorie auf das Lied als Quelle bezieht und machte gleichsam darauf aufmerksam, dass sich die Musikwissenschaft bzw. Liedforschung viel mehr mit der Historiographie in diesem Kontext beschäftigen müsse, wodurch sie indirekt einen Auftrag an diese Tagung aussprach.

Andreas Domann (Gießen) sprach über „Lieder des Schreckens und der Gewalt. Die Zerstörung Magdeburgs 1631 im Spiegel zeitgenössischer Musikdrucke“ und präsentierte Lieddrucke, die als hervorragende Ressourcen der sprachlichen, rationalen und künstlerischen Mittel zeigten, wie die Menschen dieses schlimme Ereignis wahrnahmen.

Zuletzt präsentierte Jörg Holzmann (Bern/Salzburg) die bekannte Melodie For he´s a jolly good fellow als „Soldatenlied im Bedeutungswandel“ mit ihrem Ursprung in Marlbrough s´en va-t-en guerre, das durch seinen Text die falsche Todesnachricht des tatsächlich noch lebenden John Churchill an seine Frau übermitteln sollte.

Schon die anschließenden Diskussionsrunden im Plenum zeigten, wie interdisziplinär die Tagung aufgestellt war. Aus musik-, literatur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive wurden Fragen nach Theoriebildung und Methodologie diskutiert.

Einen sehr stimmigen Tagesabschluss, der das Tagungsthema unmittelbar erfahrbar machte, bildete der Liederabend im Marburger Kunstverein. Franz Vitzthum (Altus) und Julian Behr (Laute), ein Duo, das sich auf Alte Musik spezialisiert hat, konzertierten mit Liedern, die Geschichten erzählen und Geschichte schreiben. Die Gäste bekamen Seikilos Lied, das als eines der ersten Lieder überhaupt (ca. 1.-3. Jh. n. Chr.) gilt, zu hören. Sie wurden auf berührende Weise mit Arnold Schlicks (1460-1521) Maria zart in den Ablasshandel, mit Johann Hildebrands (1614-1684) Arie Ach Gott! aus Kriegs-Angst-Seufftzer (1645) in den 30-jährigen Krieg und mit Eva Lippolds (1909-1994) O bittre Zeit in Konzentrationslager geführt. Es erklangen außerdem Enyas (*1961) Only Time als Trauerhymne des 11. Septembers 2001 und ein Stück des Renaissance-Komponisten John Dowland (1563-1626) für Laute solo, thematisch zusammengefasst mit anderen Liedern unter der Überschrift „Club der toten Dichter“. Zuletzt sang das Publikum gemeinsam Melchior Francks Da pacem Domine im Kanon.

Ab Tag zwei wurde im Centrum für Nah- und Mitteloststudien der Uni Marburg getagt. Dieser Tag gliederte sich in vier Themengebiete. Zuerst wurden Vorträge über das „Politische Lied zwischen zwei Weltkriegen“ gehalten. Katharina Hottmann (Essen) sprach über Deutsche Landsknechtslieder und ihre Kontextualisierungen in verschiedener NS-Literatur.

Im Anschluss referierte Florian Krüpe (Marburg) über das Lied „Knallt ab, den Walther Rathenau“, das in der Weimarer Republik ­ – auf groteske Weise zur Melodie von Lasst uns froh und munter sein – von rechten Freikorps gesungen wurde und zur Gewalt gegen den 1922 tatsächlich erschossenen Reichsaußenminister Walter Rathenau aufrief. Diskutiert wurden im Anschluss die politische Dynamik einer Aneignung von bekannten Melodien, z.B. von Liedern der politischen Gegenseite oder von alten Volksliedern. Außerdem wurde die Frage nach der Kunstfreiheit aufgeworfen.

Stefan Drees (Berlin) zeigte unter dem Titel „Wir zu Gottes Gnaden. Das Lied der Deutschen als parodistische Intervention in Kriegs- und Krisenzeiten zwischen 1914 und 1945“ den Weg des sogenannten Deutschlandliedes vor seiner Zeit und durch die Geschichte.
Der zweite Themenblock des zweiten Tages stand unter dem Motto „Politisches Lied in der Deutschen Nachkriegszeit“. Annika Hildebrandt (Bonn) befasste sich in ihrem Vortrag u.a. mit dem Lied Wir sind des Geyers schwarzer Haufen, das sich als historisches Lied der deutschen Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts ausgibt, tatsächlich aber im Sinne einer invention of tradition im Umkreis der Bündischen Jugend im frühen 20. Jahrhundert verfasst wurde.

Michael Custodis (Münster) sprach im Anschluss über „Gerhard Schöne und das Ende der DDR“, über Lieder und ihre Wirkungen im Osten und speziell über Schöne als außergewöhnliches Beispiel mit Reichweite über die Grenzen hinaus, der sich in der Liedermachertradition für eine „kritisch-demokratische Reform der DDR“ engagierte.

Im Anschluss ging es unter dem Titel „Heroische Hero*innen und Geschichtsballade“ weiter, womit ein durchweg thematisch weibliches Panel folgte, zum Weltfrauentag am 8. März ideal. Simon Kannenberg (Siegen) informierte über Joachim Raffs Liederzyklus Maria Stuart und setze ihn zwischen Historismus und nation building. Maren Bagge (Hannover) nahm die Tagungsgäste mit in die Geschichte der Suffragetten und sprach mit Fokus auf die englische Komponistin Alica Needham über „Womens War Songs“ aus der in 1908 in London publizierten Sammlung Four Songs for Women Suffragists, die sie mit der Widmung „to my sisters at home and abroad” versah. Ihr Vortrag behandelte unter anderem die Frage, welchen Beitrag die Komponistin zur damaligen Frauenrechtsbewegung leistete.

Der letzte Block des Tages, „American Songbooks und Musical“, wurde von Nils Grosch (Salzburg) mit dem Thema „Populäre Musik als Bühne inszenierter Vergangenheiten“ eröffnet. Grosch begann mit einer Szene aus Babylon Berlin und leitete damit über zu der historischen Authentizität von Szenerie, die versucht, historische Gegebenheiten zu präsentieren und zu reflektieren. Er sprach in diesem Zusammenhang über Pastiche, „eine Form der Imitation, die als Imitation erkannt werden soll“ (Dyer). Beispiele des Concept Musicals, aber auch des zeitgenössischen Musikfilms, bewegen sich zwischen dem Zeitgemäßen und dem historisch ‚Authentischen‘, weil sie versuchen, durch „historische Popularmusik Vergangenheiten zu inszenieren“.

Zuletzt führte Anna Lea (Wien) mit dem Thema ihrer erst kürzlich verteidigten Masterarbeit in die chinesische Einwanderungsgeschichte der USA und deren rassistische und xenophobe Rezeption in den Tin-Pan-Alley-Songs zwischen 1893 und 1920. Sie zeigte, inwiefern Covers und Liedtexte dieser Zeit rassistische Stereotypen reproduzieren.

„Postkoloniale Perspektiven, Politik und Race“ lautete der Titel des ersten Panels des letzten Tagungstages. Hans-Christian Riechers (Basel) sprach „aus seinem Kolumbus-Nähkästchen“ und entwarf eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf die Figur Christopher Kolumbus im Kinderlied. Es zeigt sich, dass Kinderlieder (z.B. Ein Mann, der sich Kolumbus nannt) insofern eine gesonderte Betrachtung verlangen, als sie Geschichtsbilder auf einer vorreflexiven Ebene vermitteln und sie gewissermaßen in den Körper „einpflanzen“.

Im Anschluss wurde einmal mehr die Marseillaise, die in den vorherigen Vorträgen immer mal wieder in ihrer Melodie oder als Kontrafaktur auftauchte, thematisiert, dieses Mal in einer Kontrafaktur aus dem Kontext der „Französischen Revolution und der Abschaffung der Sklaverei“ auf Haiti, vorgetragen von Raoul Manuel Palm (Bielefeld). Menschen in der französischen Kolonie Saint-Domingue verwendeten die bekannte Melodie während der dortigen Revolution ab 1790, sodass auch Analphabeten und musikalische Laien die revolutionären Ideen mitsingen konnten.

„Liederlebensgeschichten“ sind ein zentraler Aspekt des historischen Potenzials von Liedern, den Christina Richter-Ibánez (Frankfurt) in ihrem Vortrag untersuchte. Sie sprach über die „1001 Leben von Violetta Parras Gracias a la Vida“ und zeigte auf, welche historische Wirkung Lieder für jede:n persönlich haben können. Sie stellt die Frage nach der Lebensgeschichte eines Liedes und danach, wann Lieder aufhören, Geschichte zu schreiben. Gracias a la Vida ist ein Lied, das durch verschiedene Künstler:innen-Hände – unter anderem auch durch die von Gerhard Schöne – ging, sich von seiner Urheberin, Violetta Parras, gelöst hat und für die Referentin direkt mit der Friedensbewegung und der Wende, mit der Rückkehr zur Demokratie zusammenhängt.

Der achte und letzte Themenblock „Historiographische Potenziale in Rock und Pop“ führte schließlich explizit in die Popularmusikforschung.
Christofer Jost (Freiburg) sprach über die Erinnerungskultur des Rock’n’Roll; darüber, wie dieser im Rock- und Pop als „Urstoff der Popmusik“ narrativiert und (ent)historisiert wird. Er nannte Beispiele von Don McLean und Bruce Springsteen und kam nicht zuletzt auf Hard Rock Cafes als die Erinnerungsstätten des Rock’n‘ Roll zu sprechen.

Die Deutungsmöglichkeiten des „Mythos Deutschland“ im Musikvideo zu Rammsteins Deutschland (2019) und dessen Bezüge zu Heiner Müllers Germania (entstanden zwischen 1956 und 1971) behandelte Michael Fischer (Freiburg) in seinem Vortrag.

Abschließend sprach Monika Schoop (Lüneburg) über die „Dekada 70 and the Memory of the Marcos Dictatorship“ und zeigt unter anderem anhand selbst geführter Interviews mit dem philippinischen Künstler Zild, wie er die Marcos-Diktatur der 1970er Jahre in seinem Lied rezipiert.

Insgesamt lässt sich die Tagung als Plattform der komplexen Beziehung zwischen Lied, Geschichte und Gesellschaft betrachten. Sie betonte die wichtige Rolle, die Lieder bei der Gestaltung und Vermittlung historischer Narrativen spielen, und motivierte bzw. ermutigte dazu, diese Verbindung weiter zu erforschen und zu reflektieren.