Musikquellen des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Herausforderungen und Chancen

München, 21.-22.11.2023

Von Florence Eller und Viola Herbst – 25.04.2024 | Wer sich dafür interessiert, welche schriftlichen Musikquellen es gibt und wo diese aufbewahrt werden, wird kein besseres Nachweisinstrument als das Répertoire International des Sources Musicales (RISM) finden. 1952 wurde das Vorhaben, die weltweit vorhandenen Bestände musikalischer Quellen zu erfassen und zu dokumentieren, in Paris mit der Gründung der Organisation konkretisiert. Seit 1953 existiert auch in Deutschland eine Arbeitsgruppe. Zwei Arbeitsstellen widmen sich mittlerweile der deutschlandweiten Dokumentation von Musikquellen: Eine befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek in München (BSB), die andere ist an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) angesiedelt.

Anlässlich des 70. Geburtstages der deutschen RISM-Arbeitsgruppe lud Nicole Schwindt, die 1. Vorstandsvorsitzende derselben, für den 21. und 22. November 2023 zu einem Symposium in die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) ein (Jubiläumssymposium RISM Deutschland). Dorothea Sommer, die stellvertretende Generaldirektorin der BSB, begrüßte die Teilnehmenden und beleuchtete die Bedeutung von RISM in einem Rückblick auf seine Geschichte. Nicole Schwindt wies in ihren einleitenden Worten auf das Ziel der Tagung hin, nämlich den Blick – nicht nur hinsichtlich des drohenden Endes der Förderung von RISM im Jahr 2025 – auch in die Zukunft zu richten. „Musikquellen des 19. Jahrhunderts in Deutschland – Herausforderungen und Chancen“ lautete der Titel der Veranstaltung, die damit Bezug nahm auf eine Zeit, die bislang eher lückenhaft in RISM abgebildet wird. Schwerpunktmäßig werden hier nämlich Musikquellen aus der Zeit zwischen 1600 und 1800 erfasst; die Grenze wurde aus rein pragmatischen Gründen gezogen angesichts der Diversität der Quellen, die das sogenannte lange 19. Jahrhundert hervorbrachte.

Tatsächlich aber scheint es seitens der Musikwissenschaft und der Musikpraxis gerade an dieser Epoche ein besonderes Interesse zu geben. Und auch die technischen Möglichkeiten hinsichtlich der Erfassung von Musikquellen haben sich seit der Gründung von RISM stetig weiterentwickelt.

Es ist also an der Zeit, eben diesen Quellenkorpus in einer Art Bestandsaufnahme zu beleuchten. Zusammen mit Bernhold Schmid, dem 2. Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Deutschland, übernahm Nicole Schwindt die Moderation der Veranstaltung, die sich in fünf thematische Blöcke mit jeweils zwei Vorträgen sowie einen anschließenden Roundtable gliederte.

1) Musikquellen des 19. Jahrhunderts: Spezifik ihrer Veränderung

Roland Schmidt-Hensel (Berlin) verdeutlichte in einem Überblicksansatz den positiven Nebeneffekt der Erfassung eines recht homogenen Quellenkorpus, den die bisherige Einschränkung auf die Zeit bis 1800 mit sich brachte. Mit dem 19. Jahrhundert kam es zu einer strukturellen Verschiebung der Überlieferungssituation; zu nennen sind etwa Nachlässe, Skizzen, Revisionen, Reinschriften als Stichvorlagen oder Geschenke, Korrekturabzüge, Skizzen auf dem Umschlag, Abschriften für den Hausgebrauch – dass es daher flexiblere Erfassungsmöglichkeiten für RISM geben muss, ist offensichtlich.

Daniel Fromme (Speyer) nahm die Kirchenmusiksammlungen des katholischen Domchores und der protestantischen Dreifaltigkeitskirche in Speyer in Augenschein und verwies auf eine heterogene Musikalienvielfalt, geprägt durch die Französische Revolution (Quellenvernichtung), anschließenden sozialen Veränderungen (Vereinsgründungen, Lehrerseminare) und technischen Neuerungen (bspw. Autographie). Interessant ist auch der Gebrauch von industriell gefertigtem Notenpapier, welches bisher nicht gesondert erfasst wird.

2) Oper und Theatermusik: Komplexe Materialien

Daniela Philippi (Frankfurt a. M.) verdeutlichte in ihrem Vortrag zur Opernrezeption von Christoph Willibald Gluck im 19. Jahrhundert, wie vielfältig sich das überlieferte Aufführungsmaterial gestalten kann: Es gibt eine Dirigierpartitur, Stimmenmaterial, Klavierauszug und Libretto, worin es Eintragungen, eingeklebte Zettel, eingefügte Musikstücke geben kann, genauso wie Lücken durch Entnahmen, darüber hinaus Arbeitsmaterial des Dirigenten, genauso wie eines Bearbeiters. Philippi verwies diesbezüglich auf Richard Wagner, der die Gluck’sche Oper „Iphigénie en Aulide“ (1774) knapp 70 Jahre nach ihrem Entstehen maßgeblich umarbeitete in „Iphigenia in Aulis“ (1847). Es stellt sich in diesem Fall einmal mehr die Frage, was RISM bereits bietet und welche zusätzlichen Erfassungsmöglichkeiten hilfreich wären.

Andreas Münzmay und Lena Frömmel (Paderborn) stellten das Projekt OpenEdirom vor, welches eine historisch-kritische Edition als offene Datenpublikation nach den FAIR-Prinzipien anvisiert. Die Forschungsdaten sollen demnach auffindbar (findable), zugänglich (accessible), interoperabel und wiederverwendbar (reusable) sein. Zur Veranschaulichung wiesen Münzmay und Frömmel auf die komplexe Edition einer konkreten Produktion hin, der eine additive Autorschaft zugrunde liegt, nämlich Goethes „Faust“, der von Peter Joseph von Lindpaintner vertont, von Carl Seydelmann szenisch eingerichtet wurde und am 2. März 1832 in Stuttgart uraufgeführt wurde.

3) Fallbeispiel Richard Strauss

Marcel Klinke (Heidelberg) widmete sich in seinem Vortrag den frühen Werken von Richard Strauss und der Frage nach dem Schreiber, den Kontexten und Funktionen. So kennt man heute weniger die Originalfassungen der ersten Kompositionen wie der „Schneiderpolka“, sondern eher die Bearbeitungen durch den Vater Franz Strauss. Auch die spätere Abschrift früherer Werke mit „aktualisierten“ Widmungen ist ein interessanter Aspekt.

Um Abschriften von eigener Hand bei Richard Strauss ging es unter anderem auch im Beitrag von Andreas Pernpeintner und Stefan Schenk (München). Abschriften für Verlage waren offenbar ebenso fehleranfällig wie späte Abschriften, die Strauss vor allem um 1944/45 anfertigte, um Geld zu bekommen. Die Frage nach einer letztgültigen Fassung stellt sich ebenfalls bei den Mädchenblumen-Liedern, wenn auch ganz anders: Pernpeintner und Schenk verdeutlichten hieran, dass die Fertigstellung der Komposition in diesem Fall nicht direkt in einem überlieferten Autograph sichtbar ist, sondern sich nur durch den Einbezug von Briefen erschließen lässt.

4) Umgang mit Drucken: Recherche und Auswertung

Die zweite Nachmittags-Sektion nahm mit Musikdrucken eine weitere zentrale Quellengattung des 19. Jahrhunderts in den Blick. Gedruckte Musikalien entstanden unter anderem durch technologische Innovationen gegenüber früheren Jahrhunderten in weit höherem Maße und prägten neue Erscheinungsformen aus. Die beiden Vorträge thematisierten die spezifischen Herausforderungen und Problemlagen bei der ihrer Erschließung und Erforschung.

Christin Heitmann (Bonn) gab einen detaillierten Einblick in die weit verzweigten und vielgestaltigen Drucke der Werke Ludwig van Beethovens. Am Beispiel der Druckquellen zum Streichquartett op. 95 führte sie aus, dass es wesentlich mehr Plattenstadien gibt als bislang angenommen und sich diese zudem von Stimme zu Stimme in sogenannten „gemischten Auflagen“ unterscheiden. Dieser äußerst komplexen Quellenlage widmet sich das Projekt „Das Handwerk des Verlegers“. Es erfasst in einer Datenbank zahlreiche Drucke und Ausgaben der Werke Beethoven. Da sich die bestehende Terminologie für die Diversität und Vielgestaltigkeit der Quellen als zu unscharf und unpräzise erweist, arbeitet das Projekt zudem an einer differenzierten Begrifflichkeit. Darin liegt eine generelle Problematik, mit der sich auch RISM bei der Erschließung von Quellen aus dem 19. Jahrhundert konfrontiert sieht: einerseits der spezifischen und diversifizierten Quellenlage terminologisch gerecht zu werden, und andererseits standardisierte Formulierungen für die Erschließung und Recherche zu definieren.

Thomas Synofzik (Leipzig) lenkte den Blick auf eine heute (fast) vergessene, im 19. Jahrhundert jedoch verbreitete Publikationsform. Um den Markt gewissermaßen zu sondieren, veröffentlichten Verlage zunächst nur das Stimmenmaterial und die Partitur erst dann, wenn sich ein entsprechendes Interesse unter der Käuferschaft abzeichnete. Am Beispiel der Werke von Robert Schumann lassen sich solche Fälle von „Stimmen ohne Partitur“ nachvollziehen und die Beziehungen zwischen Komponist, Verlag und praktischem Musiker auch unter ökonomischen Gesichtspunkten beleuchten. Aufgrund der zunehmenden aufführungspraktischen Anforderungen von Instrumentalmusik, die einen Dirigenten erfordern, verschwand diese Verlagspraxis im Lauf des 19. Jahrhunderts.

5) Digitale Vernetzung von Quellen

Wie lässt sich die Arbeit mit analogen Quellen fit für die digitale Zukunft machen? Die Möglichkeiten, Quellen digital aufzubereiten und zu vernetzen, entwickelten sich seit der Gründung von RISM rasant und werden sich in im Zuge der KI-Forschung in den nächsten Jahren wohl noch potenzieren. Zwei Beiträge diskutierten die Frage, wie sich die Digital Humanities für die Erschließung und Präsentation von Quellen produktiv einsetzen lassen.

Susanne Cox und Richard Sänger (Bonn) erläuterten die Revisionsprozesse bei Ludwig van Beethoven, die sie als Mitarbeiter des Projektes „Beethovens Werkstatt“ intensiv erforschen. Revisionen traten bei Beethoven sowohl während der Drucklegung auf als auch danach und sind meist in Korrekturabzügen und Briefen als Revisionsdokumenten überliefert. Oft muss jedoch erst geklärt werden, welche Quelle eigentlich Ausgangs-, Revisions- und Zieldokument ist. Beethovens Revisionstätigkeiten verliefen mitunter auf verschlungenen und miteinander verflochtenen Wegen. Die dynamischen und reziproken Beziehungen zwischen den Quellen eignen sich bestens für eine digitale Darstellung, die multiple und dynamische Ansichten ermöglicht.

Maximilian Rosenthal (Leipzig) ging in seinem Beitrag auf die Geschäfts- oder Druckbücher von Musikverlagen als Quellengattung sui generis ein. Da Verlagsbücher eine enorme Menge unterschiedlicher Informationen enthalten, sind sie geradezu prädestiniert für eine digitale Aufbereitung und Präsentation. Rosenthal zeigte anhand des Projekts „Musikverlagsdatenbank“ wie die handschriftlichen Angaben online zugänglich gemacht werden können. Das Projekt wertete die Geschäftsbücher von Hofmeister, Peters und Rieter-Biermann aus und überführte sie in eine frei zugängliche Datenbank. Auf dieser Basis lassen sich sowohl große Repertoires in der Breite erschließen als auch neue Detailinformationen gewinnen, wie z. B. bei der Datierung von Drucken. Der Vortrag machte deutlich, dass die digitale Auswertung und Recherchierbarkeit von Verlagsquellen ein wichtiges, aber noch in den Kinderschuhen steckendes Element für die Musikhistoriographie des 19. Jahrhunderts ist.

Zum Abschluss der Tagung befasste sich ein von Nicole Schwindt moderierter Roundtable mit der Frage „Wie wollen, wie können und wie sollen wir in der Zukunft mit Musikquellen in Deutschland umgehen?“ Die Teilnehmenden Nobert Gertsch, Kai Köpp, Balázs Mikusi, Kristina Richts-Matthaei, Hartmut Schick und Barbara Wiermann diskutierten verschiedene Möglichkeiten, RISM nach dem Ende der Akademienförderung 2025 fortzuführen. Dabei wurden ganz unterschiedliche Szenarien entworfen, die von einem Forschungsdatenhub bis zu einer Art passgenau zugeschnittenem Dienstleister für Forschungsprojekte reichten. Das Gespräch zeigte deutlich, dass die Erwartungen von Forschenden und das Angebot von RISM oft auseinanderklaffen. So wurde bemängelt, dass die Datenbank zu wenig spezifische Informationen zu wichtigen Komponisten wie z. B. Johannes Brahms enthalte. Andererseits wurde deutlich, dass die herausragende Qualität von RISM als zentrales Nachweisinstrument für die deutsche Quellenlandschaft in ihrer Breite bei den Nutzenden teilweise kaum bewusst ist. In welche Richtung sich RISM letztlich weiterentwickelt, hängt auch von der grundsätzlichen Entscheidung ab, ob weiterhin möglichst viel und breit oder begrenzt und auf spezielle Aspekte fokussiert verzeichnet werden soll.

Es gab außerdem ein Konzert, das mit Werken der Komponistin Luise Adolpha Le Beau (1850–1927) den Abschluss des ersten Konferenztages bildete. Sie lebte als junge Erwachsene eine Zeitlang in München und hinterließ der Bayerischen Staatsbibliothek per testamentarischer Verfügung einen großen Teil ihres Nachlasses. Studierende der Hochschule für Musik und Theater München interpretierten eine Auswahl an Liedern und Kammermusikwerken aus dem reichhaltigen Œuvre Le Beaus, das heute fast vollständig vergessen ist. Zu Lebzeiten wurde sie hingegen hoch geschätzt, dem prominenten Musikkritiker Ludwig Speidel galt Le Beau als „eine der besten Pianistinnen und ohne Zweifel erste Komponistin unserer Zeit“.

Begleitend zur Tagung stellte das Projekt „Erschließung, Digitalisierung und Online-Präsentation des Schott-Verlagsarchivs“ in einer Postersession seine Arbeit vor. Das DFG-Projekt ist an der Bayerischen Staatsbibliothek angesiedelt und erschließt sowohl die handschriftlichen Quellenkorpora, die Musikhandschriften und Korrespondenz, als auch die gedruckten Ausgaben. Ziel des Projektes ist es, durch Tiefenerschließung einen Überblick über die lange Geschichte des Schott Verlags zu geben – sie reicht bis in Beethovens Geburtsjahr 1770 zurück. Die erschlossenen Quellen sind in ihrer Gesamtheit in einem eigenen Recherchemittel, dem „Schott-Portal“, auffindbar und im Fall der Musikmanuskripte zudem tagesaktuell im Opac von RISM. Auf diese Weise werden detaillierte und miteinander verknüpfte Informationen zum ältesten noch bestehenden Musikverlag in Deutschland als Grundlage für die Forschung gewonnen.

Insgesamt machte die Tagung die Bedeutung von RISM für Musikalien auch des 19. Jahrhunderts mehr als deutlich. So wichtig wie vor 70 Jahren ist die Kernaufgabe und Hauptfunktion von RISM als Nachweisinstrument für Quellen, die nicht durch Institute und Forschungsprojekte erschlossen werden können. Ein Fortführen von RISM ist schon deshalb notwendig, da viele Musikquellen noch gar nicht inventarisiert sind, kleineren Archiven und Bibliotheken fehlt für diese Arbeit oft Personal. Die Tagung hat gezeigt, dass die systematische und einheitliche Verzeichnung in einem Nachweisinstrument bei allen Schwierigkeiten überaus sinnvoll ist, um die bestmögliche Datengrundlage für die Forschung zu schaffen. Ein vollständiges Einstellen des Projektes würde die über Jahrzehnte geleistete Grundlagenarbeit zum Erliegen bringen – mit katastrophalen Folgen: Denn ohne die systematische Katalogisierung und Erschließung von Musikalien fehlt der Forschung eine verlässliche Datengrundlage für die Historiographie der Musik im 19. Jahrhundert.